BILLY  WILDER

Billy Wilder, Pamela Tiffin, James Cagney und Horst Buchholz bei den Dreharbeiten zu 'Eins, Zwei, Drei' (1961)

Samuel Wilder, von seiner amerikabegeisterten Mutter Billie gerufen, wurde am 22. Juni 1906 in der galizischen Kleinstadt Sucha (damals in Österreich, heute in Polen gelegen) geboren. Der Vater, Gastwirt und Hotelier, brachte seine vierköpfige Familie vor dem Ersten Weltkrieg nach Wien in Sicherheit, wo der - gemäß zahlreicher Anekdoten und Legenden - bereits in Kindertagen anpassungsunwillige Billie das Realgymnasium besuchte und 1924 mit mäßig bestandenem Abitur verließ. Der Achtzehnjährige wurde Reporter bei dem Klatschblatt 'Die Stunde' und aus Geldnot Eintänzer in den einschlägigen Wiener Tanzcafés. Schließlich engagierte ihn der amerikanische Bandleader Paul Whiteman als Fremdenführer und nahm ihn mit nach Berlin, wo er sieben Jahre lang als freier Journalist für den 'Berliner Börsen-Courier', die 'Nachtausgabe', 'Tempo' oder die 'BZ am Mittag' arbeitete und als Ghostwriter an zahlreichen Drehbüchern mitwirkte. Gemeinsam mit Robert Siodmak, Edgar Ulmer (Regie) und Eugen Schüfftan (Kamera) war Billie Wilder am Film Menschen am Sonntag (1930) beteiligt, der von Kritik und Publikum begeistert aufgenommen wurde. Zwischen 1929 und 1933 war er Co-Autor bei weiteren elf Filmen, u.a. bei der Ufa-Produktion Der Mann, der seinen Mörder sucht (1931) mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle, Emil und die Detektive (1932), Es war einmal ein Walzer (1932), Ein blonder Traum (1932) oder Scampolo, ein Kind der Straße (1932). 1933, einen Tag nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar, verließ er Deutschland und wurde nach kurzem Aufenthalt in Paris von Joe May, ehemals deutscher Filmregisseur und nach der Emigration Columbia-Produzent, nach Hollywood geholt. 1936 ging Wilder zu Paramount, wo er seine größten Erfolge feierte. Er amerikanisierte endgültig seinen Vornamen (Billy) und schrieb seine ersten Skripts zusammen mit seinem späteren langjährigen Co-Autor Charles Brackett, darunter die Drehbücher zu den Lubitsch-Filmen Blaubarts achte Frau (1938) und Ninotschka (1939). 1942 führte er zum ersten Mal Regie bei der Komödie Der Major und das Mädchen. Bereits sein dritter Film, Double Indemnity (1944), dessen Drehbuch er zusammen mit Raymond Chandler verfaßte, gilt als Klassiker des Film Noir. Nach dem Zweiten Weltkrieg reiste Wilder im Rang eines Colonels für kurze Zeit nach Deutschland und leitete die Filmabteilung der Psychological Warfare Division der US Army. Wilder, dessen Mutter, Stiefvater und Großmutter in Auschwitz ermordet wurden, beaufsichtigte die Montage der KZ-Dokumentation Die Todesmühlen (1945). Wieder in Hollywood drehte er das Alkoholikerdrama Das verlorene Wochenende (1945), die Heimatfilmparodie The Emperor Waltz (1948) und die Nachkriegssatire Eine auswärtige Affäre (1948). Das Autorenteam Brackett und Wilder trennte sich nach dem Film Sunset Boulevard (1950), also nach insgesamt dreizehn gemeinsamen Drehbüchern. An Bracketts Stelle trat I.A.L. Diamond, mit dem Wilder weitere elf Drehbücher schrieb.

Kinoplakat für 'Das verlorene Wochenende'     Kinoplakat für 'Manche mögen´s heiß'

Als deutschsprachiger Regisseur in Hollywood befand er sich in guter Emigrantengesellschaft (Robert Siodmak, Fred Zinnemann, Ernst Lubitsch, Otto Preminger) und spielte nach eigenem Bekunden zu keiner Zeit mit dem Gedanken an eine Rückkehr nach Deutschland oder Österreich. Wilder, im Drehbuchbereich immer schon Teamworker, bekannte sich zum amerikanischen Studiosystem und zur Unterhaltungsindustrie Hollywoods, ohne darum seinen Kunstanspruch aufzugeben. Stoffe, die sperrig und unliebsam sind, wie der Konzentrationslager-Film Stalag 17 (1953), verteidigte er gegen die Entschärfungsstrategien des Studios, auch wenn dies schließlich zum Bruch mit Paramount und zum Wechsel zu United Artists führte. In seinem Meisterwerk Sunset Boulevard, das für elf Oscars nominiert, schließlich mit drei Oscars für Buch, Musik und Ausstattung ausgezeichnet und 1989 von der National Film Registry of the Library of Congress zum nationalen Kulturgut erklärt wurde, analysiert Wilder das Phänomen Hollywood auf besondere Weise: schonungslos, aber ohne moralischen Zeigefinger. Hollywood produziert und zerstört seine Stars. Wer einmal in dem Lichtstrahl zwischen Projektor und Leinwand gefangen ist, wie die gealterte Diva Norma Desmond, kann nur noch in der Inszenierung existieren: lebendig als Kinomythos begraben. Die Verfallsgeschichte des Hollywood-Stars, geprägt von Selbstbetrug, Eitelkeit, Abhängigkeit und der Unfähigkeit, Realität und Fiktion, Gegenwart und Erinnerung auseinanderzuhalten, wird noch dazu von einem Toten im Swimmingpool erzählt. Der Film Das verlorene Wochenende zeigt den physischen und psychischen Verfall eines Alkoholikers und erklärt die autobiographische Selbstvermarktungstherapie der Hauptfigur, des Schriftstellers Don Bimam (Ray Milland), zum zweifelhaften Happy-End. Manche mögen's heiß (1959) läßt sich ebenso als vergnügliches Verwechslungsspiel mit erotischem Touch wie als komplizierte Reflexion der modernen Identitätsproblemaük verstehen. Eins schließt das andere nicht aus. Zeugin der Anklage (1958) ist ein klassischer Whodunit-Kriminalfall und zugleich ein Lehrstück über die täuschende Funktion kultureller Masken und die Einäugigkeit des Gesetzes.
Die Anfänge und Schlüsse seiner Filme belegen Wilders Genauigkeit, aber auch seinen häufig kritisierten Zynismus. Die erste Kamerafahrt von Das verlorene Wochenende zeigt eine harmlose Stadtansicht, nähert sich einer Häuserfront und bleibt an einem offenen Fenster hängen, vor dem eine Flasche baumelt. Präziser kann man die Umstände einer Alkoholsucht, die mißlingende Verdrängung der Abhängigkeit, das Raffinement des Versteckspiels, das sich mit jeder neuen Strategie selbst preisgibt, nämlich sichtbar "aus dem Fenster hängt", nicht in ein Bild fassen. Die Kamerabewegungen zu Beginn der Tragikomödie Das Appartement (1960) verdichten Thema, Handlung und Milieu des gesamten Films in wenigen, überdeutlichen Einstellungen. Ein Kameraschwenk von unten nach oben an einem unendlichen Wolkenkratzer entlang visualisiert das Hauptthema des Films. Es geht um sozialen Aufstieg: In diesem Gebäude sitzen viele Versicherungssachbearbeiter und träumen von beruflichem Erfolg und einem besseren Leben. Ein Blick in die endlose Tiefe eines Großraumbüros, von Wilders Lieblings-Setdesigner Alexander Trauner trickreich konstruiert, verrät uns, daß dieser Aufstieg allein mit Leistung kaum zu schaffen sein wird. Gilt es doch, den Urheber der Voice over, die uns mit Zahlenspielen und Statistiken versorgt, zuerst einmal wie auf einem Suchbild ausfindig zu machen. Eine Ameise in einem Ameisenhaufen spricht, und damit wir sie von der Masse der Ameisen unterscheiden lernen, muß sie sich erfinderisch zeigen. Augenscheinlich ist diese Ameise eine Maschine, zumindest benimmt sie sich so. Ihr monotones Kopfnicken paßt sich dem Arbeitstempo der Rechenmaschine an und wird musikalisch durch einen Marsch begleitet. Damit kennen wir bereits nach wenigen Einstellungen die Situation des Helden. Er ist der unsichtbare Mensch in der Masse, umgeben von anderen Unsichtbaren, ins Korsett eines erbarmungslosen Leistungssystems gepreßt, das sich noch in den kleinsten Körperbewegungen rhythmisch abbildet. Davon will er begreiflicherweise weg.

Jack Lemmon und Billy Wilder

Bei der Konzeption seiner Figuren befolgt Wilder stets einen wichtigen Grundsatz. Wenn er eine Figur wie C. C. Baxter in Das Appartement als spießigen Moralisten anlegt und diese Figur sich korrumpieren läßt, muß die Selbstverleugnung motiviert sein. Aus dem gleichen Grund beginnt er seine Komödie Manche mögen's heiß mit einem Massaker. Die Helden tragen ihre Röcke nicht zum Vergnügen. Der Film beginnt im Gangstermilieu Chicagos zur Zeit der Prohibition. Die beiden mittellosen Musiker Joe und Jerry sind unfreiwillig Zeugen des berühmt-berüchtigten Massakers am Valentinstag und werden aus diesem Grund von der Mafia verfolgt. Joe und Jerry verkleiden sich als Frauen und treten als Josephine und Daphne einer Damenkapelle bei. Nicht die Lust an Maskerade und Geschlechtertausch, sondern pure Not zwingt die beiden in Hüfthalter und Stöckelschuh.
Sunset Boulevard, Ace in the Hole (1951), Zeugin der Anklage, Manche mögen's heiß und andere Filme Wilders behandeln bei aller Verschiedenheit der Geschichten und Genres eine Art Metathema: das Verhältnis von Inszenierung und Realität in der modernen Gesellschaft. Wilders Geschichten bewegen sich immer wieder in der Grauzone zwischen Realität und Fiktion, im Grenzbereich zwischen Wahrheit und Selbstentwurf, zwischen inszenierter Wirklichkeit und zu Wirklichkeit werdender Inszenierung. Und immer wieder laufen seine Geschichten darauf hinaus, daß eine scharfe Grenzziehung unmöglich erscheint. Norma Desmonds Wahnwelt ist für die gealterte Schauspielerin wirklicher als die sogenannte Realität. Der Reporter Chuck Tatum (Ace in the Hole} muß feststellen, daß seine Inszenierung einer Sensationsstory an der Realität scheitert, die er zu manipulieren versucht. Die körperliche Belastungsfähigkeit eines Menschen, also - zynisch formuliert - das Material, Fleisch und Blut des eingeschlossenen Leo, bringen durch den Tod des lebendig Begrabenen die Inszenierung zu Fall. In Zeugin der Anklage verbirgt sich die Liebe der eiskalt wirkenden Christine Vole hinter verschiedenen Masken, die als real erscheinen, weil sie ganz bestimmte kulturelle und filmische Muster abbilden. Manchmal entlarven bewußte Maskeraden die Hinfälligkeit von Weltanschauungen und Ideologien, wie in Wilders erst spät gewürdigter Nachkriegskomödie Eins, zwei, drei (1961), die mittlerweile Kultstatus genießt.

Tony Curtis und Marilyn Monroe in 'Manche mögen´s heiß' (1959)

Eins, zwei, drei handelt von der Konfrontation dreier Nationalitäten und Gesellschaftssysteme. Im besetzten Berlin der Nachkriegszeit treffen kadavergehorsame, hackenzusammenschlagende Deutsche mit politisch trüber Vergangenheit auf amerikanische Erfolgsmenschen und korrupte russische Volkskommissare. Walkürenritt und deutsche Marschmusik mischen sich mit der Melodie des amerikanischen "Yankee Doodle Dandy". Schlagergedudel à la "Itsy Bitsy Teeny Weeny Yellow Polka-Dot Bikini" bestimmt abwechselnd mit Chatschaturjans Säbeltanz das rasante Tempo des Films, das in erster Linie vor der Kamera und nicht auf dem Schneidetisch entstanden ist. Der vollkommen karrierefixierte Coca-Cola-Manager MacNamara ackert besessen für seinen beruflichen Aufstieg, er ist nicht mit seiner Frau, sondern mit seinem Konzern verheiratet und verkörpert somit exemplarisch das amerikanische Erfolgsstreben, das Billy Wilder so gerne in seinen Filmen aufs Korn nimmt. Zu MacNamaras persönlichem Pech gehört es, daß immer wieder, wenn er sich einem Ziel nahe fühlt, unerwartete Schwierigkeiten auftreten und seine Pläne zunichte machen. So schaukelt schon ein schwarzer Regenschirm am Arm des Amerikaners, wichtigstes Utensil für den erträumten Posten als Leiter der Londoner Coca-Cola-Niederlassung, als der Boß aus Atlanta anläutet und MacNamara bittet, seine verzogene Tochter Scarlett für eine Weile zu beherbergen. Scarlett ehelicht blitzschnell und heimlich in Ostberlin den fanansierten Jungkommunisten Otto Ludwig Piffl und wird von ihm schwanger. Der Vater Scarletts ist ein nicht weniger fanatischer Kommunistenhasser, der sogar auf lukrative Geschäftsbeziehungen hinter dem Eisernen Vorhang lieber verzichtet, als die "Brüder dort mit der Kneifzange anzufassen". MacNamara muß handeln, um seine Haut zu retten. Der unerwünschte Schwiegersohn muß umgekrempelt werden, und zwar, da der Boß persönlich aus Atlanta herüberfliegt, um die Tochter abzuholen, innerhalb von wenigen Stunden. Die Kapitalisierung und Amerikanisierung des Rebellen gelingt nicht nur äußerlich, nach dem Prinzip "Kleider machen Gesinnungen", sondern auch innerlich, da der feurige Idealist die akustisch-musikalischen Foltermethoden der ostdeutschen Polizei am eigenen Leibe erfahren hat und während seiner Kostümierung als Grafensohn nebenbei von den Machenschaften seiner russischen Genossen erfährt. Während Wilder 1961 in Berlin Eins, zwei, drei mit Liselotte Pulver, Horst Buchholz und James Cagney in den Hauptrollen drehte, verschärfte sich das politische Klima in Deutschland, und das Brandenburger Tor wurde geschlossen. Bedingt durch diese äußeren Umstände konnte das Publikum über den Witz des Films nicht lachen, denn - so Wilder - "ein Mann, der die Straße langläuft, hinfällt und wieder aufsteht, ist komisch. Einer, der hinfällt und nicht mehr aufsteht, ist nicht mehr komisch. Sein Sturz wird ein tragischer Fall. Der Mauerbau war ein solcher tragischer Fall."

Kirk Douglas und Richard Benedict in 'Ace in the Hole' (1951)

Die Komödien Billy Wilders sind immer von tragischer Untergründigkeit bestimmt. Die tragische Wirkung entsteht durch eine latente Bedrohung der Figuren, welche häufig in einer Art "last second rescue" zum Komischen hin aufgelöst wird. Jede der komischen Geschichten trägt in sich die stets vorhandene Möglichkeit einer Wendung zum bitteren Ende. Besonders deutlich wird dies in den Filmen Das Appartement und Manche mögen's heiß. Als Fran Kubelik in der Schlußszene von Das Appartement zu Baxter eilt, um ihm ihre Liebe zu gestehen, knallt es laut. Das Geräusch entsteht nicht - wie für eine Sekunde zu befürchten ist - durch einen Selbstmordversuch Baxters, sondern entpuppt sich lediglich als Knall eines Champagnerkorkens, in Manche mögen's heiß spielt der Star Marilyn Monroe die Sängerin Sugar, die sich wieder einmal, ohne es zu ahnen, in einen nichtsnutzigen Saxophonspieler verliebt hat, um wahrscheinlich wieder einmal verlassen zu werden. Marilyn stützt sich in Manche mögen's heiß nicht mehr auf die standardisierten Pin-up-Posen einer blonden Sex-Ikone, sondern zitiert sie nur für wenige Momente. Gerade in den Abschiedsszenen zittern unter der glatten Oberfläche des Gesichts Nervenenden, läuft der Schmerz in kaum sichtbaren Wellen über die Haut und zeigt die Verwundbarkeit der Rollenfigur, aber auch der Schauspielerin. Selbst die Kostüme, die sich wie transparente Häute um ihren Körper legen und, unterstützt durch die Lichtsetzung, keine Grenzlinien zwischen Stoff und Haut zu erkennen geben, unterstreichen weniger den Reiz der Nacktheit als die Tragik eines ungeschützten Menschen. Eines ihrer rührendsten Lieder singt Marilyn Monroe in einem solchen schwarzen Kleid, auf dem Flügel hockend, die Arme schützend an den Körper gepreßt: "I'm through with love."

Jack Lemmon, Billy Wilder und Walter Matthau

Daß Billy Wilder das Handwerk des filmischen Erzählens nicht zuletzt bei Ernst Lubitsch gelernt hat, verrät, neben seiner Meisterschaft im Verdichten von Handlungssequenzen, die gezielte Verwendung von Bildkürzeln und symbolisch konnotierten Objekten, die zu Kommentatoren der Geschichte werden. Nebensächlich erscheinende Bildelemente, Alltagsgegenstände wie Autos, Häuser, Hüte, Perücken und Kleider, werden zu Bestandteilen der Identität, zu Zeichen einer persönlichen Utopie (MacNamaras Regenschirm, Baxters Bowler), eines Geschlechts oder Rollentauschs (Jerry/Daphnes Brillantarmband) oder einer drohenden Gefahr (die Teufelskreise, die Schnapsgläser auf Theken zu hinterlassen pflegen in Das verlorene Wochenende). In der Hollywood-Geschichte Sunset Boulevard verbinden sich symbolisch belegte Gegenstände und Genrezitate zu einem Netz aus Verweisen und Anspielungen, in dem die Figuren gefangen sind. Ein unheimliches altes Horrorhaus legt sich wie ein Kokon um seine Bewohnerin, die gealterte Schauspielerin Norma Desmond - einst ein gefeierter Star, heute vom Publikum weitgehend vergessen. Die porösen Mauern sind ihr zweites Gesicht, als Hyperzeichen des Verfallsprozesses, dem die Schauspielerin unterworfen ist, tragen sie Falten und Risse.

Kinoplakat für 'Sunset Boulevard'

Ein stets wiederkehrendes Dauerthema des Europäers Billy Wilder ist die kulturkritische Auseinandersetzung mit seiner Wahlheimat Amerika und dem "American way of life", die mit der Nachkriegsgeschichte Eine auswärtige Affäre beginnt und mit Avanti, Avanti! (1972) an ihren Höhepunkt gelangt. Ob in Sabrina (1954), Ariane - Liebe am Nachmittag (1957), in Irma la Douce (1963) oder in Avanti, Avanti!: Wilder führt Paris oder Ischia nicht als reale Schauplätze ein, sondern als Sehnsuchtsorte, Topoi eines romantischen Lebensgefühls, das die Zeit und den Fortschritt ignoriert, das in Herzensangelegenheiten keine Klassengegensätze kennt, für das Geschäfte, Termine, Geld und Macht zweitrangig sind. Wilders Begegnungen mit dem Nachkriegsdeutschland fallen härter und kälter aus, aber selbst in den materiellen und moralischen Trümmern von Berlin (Eine auswärtige Affäre) stellt er vor allem den verkrampften, neurotischen Puritanismus Amerikas zur Schau. Dazu genügt ihm die Beobachtung einer Alltagshandlung, z. B. des sorgsamen und mechanisch ablaufenden Verwahrens von Füller und Brille in Futteral und Tasche der Kongreßabgeordneten Phoebe Frost (Jean Arthur), die nach Berlin reist, um die amerikanische Truppenmoral auf Vordermann zu bringen. Für Phoebes Gegenspielerin Erika von Schlütow (Marlene Dietrich), eine zwielichtige Figur mit tierhaftem Überlebensinstinkt, hegt Wilder sichtlich mehr Verständnis. Sein Interesse gilt nicht der gesicherten Moral der Satten, sondern dem Dilemma des Allzumenschlichen, das er nur selten psychologisch interpretiert, aber stets minutiös beobachtet.

Billy Wilder und Jack Lemmon

Wilders Filme reflektieren zudem immer wieder das Phänomen Hollywood und die filmische Fabrikation von Mythen und Stars. Wenn Schauspieler wie Humphrey Bogart in Sabrina oder Marlene Dietrich in Zeugin der Anklage sich aufgrund ihrer Rollen- oder Lebensgeschichte als Projektionsfläche eignen, so spielt Wilder mit der Projektion ein Spiel, in dem er die Figuren mehrdimensional anlegt und die Spannung zwischen Starmythos und Rollenfigur betont. Bogart nimmt in Sabrina die Rolle des biederen Geschäftsmannes an und agiert auf der menschlichen Ebene zunächst wie ein Gangster, immer nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Ein chaotisches, zartes Mädchen (Audrey Hepburn), dessen Brille rosarot getönt ist, beraubt ihn seiner emotionalen Unnahbarkeit. Marlene Dietrich betritt den Gerichtssaal als Christine Vole mit der kühlen Maske einer Hollywood-Ikone und verläßt ihn als zutiefst verletzter Mensch. Marilyn Monroe verliert die sexuelle Allmacht, die ihre Figuren in Filmen wie Blondinen bevorzugt (1953) oder Wie angelt man sich einen Millionär (1953) über hilflose Männer besitzen und schlüpft in die Haut einer verletzten und einsamen Frau. Dean Martin parodiert in Küß mich, Dummkopf (1964) sein eigenes Image als trunksüchtiger Sexprotz. Küß mich, Dummkopf behandelt darüber hinaus in einer seinerzeit äußerst provokanten Weise das Thema der Prostitution und der außerehelichen Sexualität und entfärbt den spießig-bonbonrosagefärbten Doris- Day-Komödientouch der sechziger Jahre zu schwarzweißer Öde. Wilders Blick auf das puritanische Amerika ist in Küß mich, Dummkopf bitterböser denn je.

Kinoplakat für 'Double Indemnity'

Vor allen anderen Schauspielern und Schauspielerinnen, mit denen Billy Wilder arbeitete, wurde Jack Lemmon zum kongenialen Partner des Regisseurs. Wilder entdeckte Lemmons komödiantische Verwandlungsfähigkeit in Manche mögen's heiß, schuf gemeinsam mit dem Schauspieler den Grundtypus des ewigen Zweiten in Das Appartement, den Lemmon als Nestor Patou in Irma la Douce zu emanzipieren versucht, und erfand mit dem Film Der Glückspilz (1966) ein neues männliches Komikerduo nach Stan Laurel und Oliver Hardy. Knitterface Walter Matthau und sein meist den Machenschaften des Freundes hilflos ausgesetzter Kumpan Jack Lemmon spielen immer wieder ein Thema mit Variationen durch, im übrigen schon bald auch unter anderer Regie (z. B. von Gene Saks in Ein seltsames Paar, 1968). In Der Glückspilz spielt Lemmon den Kameramann Harry Hinkle, der während der Aufzeichnung eines Baseball-Spiels von dem Spieler Luther "Boom Boom" Jackson über den Haufen gerannt wird und sich, nachdem er im Krankenhaus wieder zur Besinnung gekommen ist, in den Händen seines gerissenen Schwagers und Winkeladvokaten Willie Gingrich (Walter Matthau) befindet. Willie will aus der leichten Gehirnerschütterung Harrys Kapital schlagen und garniert diese mit diffusen Lähmungserscheinungen und sonstigen Krankheitssymptomen, um Schadenersatz zu kassieren. Harry spielt mit, aber nur, weil er seine abtrünnige Ehefrau durch Reichtum und Luxus zurückzugewinnen hofft. Die Rollenfiguren Jack Lemmons bewegen sich schon seit Das Appartement zwischen Krankheit, Hypochondrie und Liebeskummer, seit Der Glückspilz kontrastiert durch die störrische Vitalität des großen Bruders. Wilder variierte diese Konstellation in Extrablatt (1974), dem Remake des Howard-Hawks-Films Sein Mädchen für alle Fälle (1940), und in seinem letzten Werk, der Killer-Komödie Buddy Buddy (1981).
Aus Reclams Lexikon der Filmregisseure

Filmographie:
The Major and the Minor (1942) - Five Graves to Cairo (1943) - Double Indemnity (1944) - Das verlorene Wochenende (1945) - The Emperor Waltz (1948) - Eine auswärtige Affäre (1948) - Sunset Boulevard (1950) - Ace in the Hole (1951) - Stalag 17 (1953) - Sabrina (1954) - Das verflixte 7. Jahr (1955) - The Spirit of St. Louis (1957) - Ariane - Liebe am Nachmittag (1957) - Zeugin der Anklage (1958) - Manche mögen's heiß (1959) - Das Appartement (1960) - Eins, zwei, drei (1961) - Irma La Douce (1963) - Küß mich, Dummkopf (1964) - Der Glückspilz (1966) - Das Privatleben des Sherlock Holmes (1970) - Avanti! (1972) - Extrablatt (1974) - Fedora (1978) - Buddy Buddy (1981).


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