Hat der Mensch einen freien Willen, mit dem er sein Leben beliebig
gestalten kann? Die Wissenschaft stellt eine solche Fähigkeit zum
freien Entschluß heute vehement in Frage. Gehirnforscher wollen bereits
bewiesen haben, daß es sich dabei nur um eine Illusion handelt, und
Psychologen verweisen auf die vielen durch Gene und Gesellschaft
„vorprogrammierten“ Verhaltensweisen, die keinen freien Willen erkennen
lassen.
Ist unser subjektiver Eindruck, frei entscheiden zu können, also doch
nur ein Trugschluß? Wie frei ist der Mensch wirklich? Der folgende
Titelbeitrag hat diese existentielle Frage zum Inhalt.
Das Dilemma ist bekannt: Da hat man die allerbesten Vorsätze gefaßt, will
sich endlich gesünder ernähren, mit dem Rauchen aufhören und den
sinnlosen Streit mit dem Nachbarn beenden aber die „liebe Gewohnheit“
überrollt einen doch wieder.
Und bald trösten der Genuß des Schweinebratens, das
prickelnd-aktivierende Gefühl der lang entbehrten Zigarette und die
Befriedigung, im „Match“ gegen den unangenehmen Kauz von nebenan wieder
einmal einen Punktesieg errungen zu haben, über die eigene Schwäche
hinweg. „Wenn ich wollte“, so beruhigt man sich selbst, „dann könnte
ich mich ja ändern!“
Diesem geheimnisvollen „Wollen“, das so selbstverständlich zu unserem
menschlichen Bewußtsein gehört, steht die heutige Wissenschaft überaus
skeptisch gegenüber. Die Psychologie beschreibt den Menschen oft als
ein von Trieben, Lust- und Machtstreben, frühkindlichen Erlebnissen und
gesellschaftlichen Bedingungen vorgeprägtes, abhängiges Geschöpf, das
durchaus berechenbar seinen Lebensweg durchwandert. Der Gedanke,
innerlich frei zu sein, ist demnach nur eine schöne Illusion, die unser
Selbstwertgefühl hebt und das Ich-Bewußtsein fördert; mit der
Wirklichkeit hat er aber nichts zu tun.
Nun ja, mag man zugeben, bei schwierigen Entscheidungen, die das eigene
Leben verändern sollen, versagt der „gute Wille“ bisweilen jämmerlich.
Aber ist das Grund genug, unsere Freiheit zum Entschluß insgesamt in
Frage zu stellen? Schon die einfachste körperliche Aktivität, zum
Beispiel das Heben einer Hand, gehorcht ja letztlich einem Willensakt.
Ich entschließe mich zu der Bewegung und der Körper folgt meinem
Entschluß. Beweist diese alltägliche Selbstverständlichkeit nicht
unbestreitbar die Existenz eines freien Willens?
Die moderne Gehirnforschung, in der es ja in vielen Bereichen gelingt,
die Tätigkeit der grauen Zellen unter unserer Schädeldecke durch
bildgebende Verfahren sichtbar zu machen, läßt solche
„Erfahrungsbeweise“ nicht gelten. Denn seit einiger Zeit kennt man das
folgende Experiment, das in der Fachwelt größtes Aufsehen erregte:
Der Schädel einer Versuchsperson wird mit einem Gerät verkabelt, das es
erlaubt, die Gehirnströme zu beobachten, wie sie beim Ausführen einer
Bewegung, zum Beispiel dem Beugen des Handgelenks, auftreten. Und man
sieht: Ein ganz bestimmtes Areal der Großhirnrinde ist dabei aktiv.
Allerdings geht dem Beugen des Handgelenkes auch ein sogenanntes
„Bereitschaftspotential“ voraus, das in den Gehirnströmen schon eine
bis eine halbe Sekunde vor der eigentlichen Bewegung beobachtbar ist.
Die Versuchsperson muß in diesem Experiment nun den Zeitpunkt angeben,
zu welchem sie sich dazu entschließt, die Hand zu heben. Und natürlich
geht der von ihr subjektiv erlebte Entschlußzeitpunkt der Bewegung des
Handgelenkes voran. Jedoch: Die Gehirnströme zeigen klar, daß zum
Zeitpunkt des Entschlusses das Bereitschaftspotential im Gehirn bereits
aufgebaut war. Wenn wir also meinen, uns willentlich zu entscheiden:
„Jetzt beuge ich das Handgelenk“, dann ist diese Aktivität im Gehirn
nachweislich bereits vorher eingeleitet worden.
Durch solche Experimente fühlen sich die Gehirnforscher in ihrer
Vermutung bestätigt, daß unser Eindruck, wir könnten uns frei zu etwas
entschließen, tatsächlich nur eine vom Gehirn erzeugte Vorstellung ist.
Die „biologische Maschine“ namens Mensch ist demnach einfach dem Gesetz
von Aktion und Reaktion unterworfen aber sie hat keinen wirklich
freien Willen. Kurz: Wir wollen das, was wir tun aber wir tun nicht
das, was wir wollen.
Diese Sicht der Dinge fügt sich recht gut in das materialistische
Weltbild unserer Zeit, in welchem etwas so Abstruses, Unfaßbares wie
ein freier Wille von vornherein undenkbar ist. Denn frei hieße ja
unabhängig von der materiellen Welt. Und dieses freie, unabhängige
Etwas soll noch dazu in die materielle Welt hineinwirken, sie lenken
und steuern können?
Da ist es doch wohl naheliegender, die „rosarote Brille“ abzunehmen und
mutig der Tatsache ins Auge zu blicken, daß wir uns alle in Sachen
„freier Wille“ nur etwas vorgaukeln, während wir in Wirklichkeit doch
nur aufgrund unserer Anlagen und Neigungen reagieren, nicht aber
willentlich agieren!
Den heute also durchaus gängigen Gedanken, wir Menschen hätten gar keinen
freien Willen, wagt man allerdings kaum zu Ende zu denken. Denn er
würde ungeheure Konsequenzen auf allen Ebenen unseres Daseins nach sich
ziehen. Unterstellt man, daß wir tatsächlich nicht willentlich
entscheiden, so könnte man keinen Menschen für seine Handlungen
verantwortlich machen die Tyrannen und Völkermörder würden ja ebenso
nur ihren biologischen Anlagen folgen wie Terroristen oder
Kinderschänder.
Ethisch-moralische Werte, jedes Streben zum Guten ließe sich in Zweifel
ziehen, religiös-spirituelle Bemühungen könnte man ohne weiteres über
Bord werfen und unserer Sehnsucht nach Sinn müßte man den Sinn
absprechen. Unabsehbare Folgen für unser gesellschaftliches
Zusammenleben wären also zu befürchten daher wird das
materialistische Weltbild mit seinem „willenlosen Menschen“ zumeist nur
als graue Theorie gepflegt, von der man sich wünscht, daß sie keine
Auswirkungen für unser wirkliches Leben haben möge.
Doch ungeachtet dessen bleibt die große Frage bestehen: Kann es
tatsächlich sein, daß der freie Wille, den wir bis in die Fingerspitzen
als untrennbar zum Menschsein gehörig erleben, nur eine Illusion des
Gehirns ist?
Wenn wir die Ergebnisse der Gehirnforschung kritisch beleuchten, dann
ist eines natürlich klar: Die Mikroskope, Sonden, Kabel und Monitore,
wie sie die Wissenschaft heute verwendet, bieten einen guten Einblick
in den Körper aber man kann aufgrund der dadurch gewonnenen
Erkenntnisse längst nicht behaupten, der Mensch sei nur die sichtbare
Physis. Denn was zeichnet uns Menschen aus? Wirklich nur das
faszinierende Zellen-Wunderwerk unter der Schädeldecke? Wohl niemand
wollte sich selbst ernsthaft mit dieser grauen Masse identifizieren!
Wenn es um die eigentlichen Werte des Menschseins geht, stehen spontan
doch ganz andere Begriffe im Raum: etwa die wunderbare Befähigung,
Liebe, Freude, Schönheit, Gerechtigkeit, Anmut zu empfinden und zu
entwickeln; das Bedürfnis nach Ausdruck, Kultur, Kunst; die Sehnsucht
nach Sinn, geistigem Licht, Gotterkenntnis. Das alles gehört zu unserem
menschlichen Bewußtsein, zur Menschlichkeit, aber es hat nur bedingt
mit Gehirn und Körper zu tun.
Unser Innenleben, die Empfindungen, die Bilder unserer Gedanken, die
Hoffnungen und Ziele, die uns motivieren, sind doch erlebbare Beweise
dafür, daß es mehr gibt als nur das Physisch-Materielle. Was unser
Leben wirklich wertvoll und lebenswert macht, ist die Tatsache, daß wir
die Umwelt und auch uns selbst bewußt erleben dürfen, daß wir also
auf eine mit Worten gar nicht zureichend beschreibbare und
verstandesmäßig nicht wirklich faßbare Art und Weise innerlich wach
sind.
Dieses menschliche Ich-Bewußtsein aber hat nichts Materielles an sich,
es kann weder künstlich hergestellt noch im Experiment dingfest gemacht
werden und es ist auch nicht möglich, unsere Innenwelt in all ihrer
Lebendigkeit mit Apparaten zu beobachten.
Was immer also an Gehirnströmen gemessen wird, es kann nur eine
körperliche Auswirkung von etwas Übergeordnetem sein. Das eigentlich
Menschliche, das geistige Ich-Bewußtsein (Vgl. Titelbeitrag GralsWelt
29: „Das große Rätsel ‘Ich’ Wie entsteht die menschliche
Persönlichkeit?“), ist immaterieller Natur.
Es altert nicht mit dem Körper, sondern vollzieht seinen eigenen
Reifeprozeß. Und es stirbt auch nicht mit ihm, sondern strebt während
des Sterbevorganges lediglich von jener physischen Hülle ab, der es
sich für die Spanne des Erdenlebens angeschlossen hatte.
Nun ist naheliegend, daß der freie Wille, den wir als untrennbar zu
unserem Menschsein gehörig empfinden, ebenfalls dieser geistigen Ebene
angehört. Denn wir erleben ja, daß jeder wirkliche Entschluß von uns
selbst stammt, nicht aber aus dem Körper (also auch nicht aus dem
Gehirn) hervorgeht.
Wenn wir also unserer subjektiven Erfahrung, über einen freien Willen zu
verfügen, ohne weiteres trauen können, wenn dieser Wille zur geistigen
Dimension des Menschseins gehört, und wenn wir dadurch auch voll
verantwortlich im Leben stehen wie ist dann das erwähnte Experiment
der Gehirnforscher zu werten?
Weshalb kann das Bereitschaftspotential für eine Handlung schon vor dem
Entschluß gemessen werden?
Sofern man als Grundlage akzeptiert, daß der Mensch nicht nur sein
Körper ist, fällt die Antwort auf diese Frage nicht mehr schwer: Der
eigentliche Willensentschluß erfolgt gar nicht im Gehirn, sondern ist
Ausdruck des Geistes, des immateriellen menschlichen Wesenskernes.
Das Gehirn reagiert nur auf das geistige Wollen, es ist ein Werkzeug
des Geistes zu dessen Betätigung in der stofflichen Welt und dient
dazu, dessen Wollen umzusetzen.
Es muß uns hier nicht im Detail interessieren, wie sich der geistige
Entschluß dem Körper aufprägt. Der Weg verläuft jedenfalls über das
Sonnengeflecht, das in seiner Feinheit die Antenne für Impulse aus der
Seelenwelt abgibt, von da aus hin zum Klein-, und danach zum Großhirn.
Daher sprechen wir bei starken oder spontanen Empfindungen sehr
treffend davon, daß uns „der Bauch etwas sagt“ oder daß uns eine Sache
„am Herzen liegt“. Der Solarplexus bzw. die ausgeprägte Nervenregion in
der Bauchgegend ist sozusagen das Einfallstor für alle geistigen
Tätigkeiten: Willensakte, Empfindungsäußerungen, Gewissensregungen.
(Vgl. Beitrag „Geist und Gehirn ein weltenweiter Unterschied“ in
diesem Heft).
Diese Impulse aus unserem innersten, immateriellen Wesenskern werden
erst danach unter Mitwirkung des Gehirnes zu jenen Gedanken geformt,
die uns tagbewußt vertraut sind.
Wenn die Gehirnforschung also feststellt, daß in bestimmten Fällen
nachweisbar zuerst die Gehirnregionen tätig werden, die einer
körperlichen Bewegung den Impuls geben und erst danach jene, die den
Entschlußgedanken widerspiegeln, dann zeigt dies im Grunde nur, daß die
Bewegungen und Aktionen des Körpers Vorrang vor dem „Nach-Denken“ haben.
Diese Gegebenheit ist uns aus dem Alltag durchaus vertraut: Eine
Mutter, die plötzlich wahrnimmt, daß ihr Kind unachtsam auf der Straße
tollt und zugleich mit großer Geschwindigkeit ein Auto daherrast, wird
ihr Kind blitzschnell und ohne Überlegung aus der Gefahrenzone retten
und in Sicherheit bringen...
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