WIE FREI SIND WIR WIRKLICH?
Möglichkeiten und Grenzen

von Werner Huemer

(Stiftung Gralsbotschaft, Ditzingen)

Teil I

Hat der Mensch einen freien Willen, mit dem er sein Leben beliebig gestalten kann? Die Wissenschaft stellt eine solche Fähigkeit zum freien Entschluß heute vehement in Frage. Gehirnforscher wollen bereits bewiesen haben, daß es sich dabei nur um eine Illusion handelt, und Psychologen verweisen auf die vielen durch Gene und Gesellschaft „vorprogrammierten“ Verhaltensweisen, die keinen freien Willen erkennen lassen.
Ist unser subjektiver Eindruck, frei entscheiden zu können, also doch nur ein Trugschluß? Wie frei ist der Mensch wirklich? Der folgende Titelbeitrag hat diese existentielle Frage zum Inhalt.

Das Dilemma ist bekannt: Da hat man die allerbesten Vorsätze gefaßt, will sich endlich gesünder ernähren, mit dem Rauchen aufhören und den sinnlosen Streit mit dem Nachbarn beenden ­ aber die „liebe Gewohnheit“ überrollt einen doch wieder. Und bald trösten der Genuß des Schweinebratens, das prickelnd-aktivierende Gefühl der lang entbehrten Zigarette und die Befriedigung, im „Match“ gegen den unangenehmen Kauz von nebenan wieder einmal einen Punktesieg errungen zu haben, über die eigene Schwäche hinweg. „Wenn ich wollte“, so beruhigt man sich selbst, „dann könnte ich mich ja ändern!“

Diesem geheimnisvollen „Wollen“, das so selbstverständlich zu unserem menschlichen Bewußtsein gehört, steht die heutige Wissenschaft überaus skeptisch gegenüber. Die Psychologie beschreibt den Menschen oft als ein von Trieben, Lust- und Machtstreben, frühkindlichen Erlebnissen und gesellschaftlichen Bedingungen vorgeprägtes, abhängiges Geschöpf, das durchaus berechenbar seinen Lebensweg durchwandert. Der Gedanke, innerlich frei zu sein, ist demnach nur eine schöne Illusion, die unser Selbstwertgefühl hebt und das Ich-Bewußtsein fördert; mit der Wirklichkeit hat er aber nichts zu tun.

Nun ja, mag man zugeben, bei schwierigen Entscheidungen, die das eigene Leben verändern sollen, versagt der „gute Wille“ bisweilen jämmerlich. Aber ist das Grund genug, unsere Freiheit zum Entschluß insgesamt in Frage zu stellen? Schon die einfachste körperliche Aktivität, zum Beispiel das Heben einer Hand, gehorcht ja letztlich einem Willensakt. Ich entschließe mich zu der Bewegung ­ und der Körper folgt meinem Entschluß. Beweist diese alltägliche Selbstverständlichkeit nicht unbestreitbar die Existenz eines freien Willens?

Die moderne Gehirnforschung, in der es ja in vielen Bereichen gelingt, die Tätigkeit der grauen Zellen unter unserer Schädeldecke durch bildgebende Verfahren sichtbar zu machen, läßt solche „Erfahrungsbeweise“ nicht gelten. Denn seit einiger Zeit kennt man das folgende Experiment, das in der Fachwelt größtes Aufsehen erregte:

Der Schädel einer Versuchsperson wird mit einem Gerät verkabelt, das es erlaubt, die Gehirnströme zu beobachten, wie sie beim Ausführen einer Bewegung, zum Beispiel dem Beugen des Handgelenks, auftreten. Und man sieht: Ein ganz bestimmtes Areal der Großhirnrinde ist dabei aktiv.

Allerdings geht dem Beugen des Handgelenkes auch ein sogenanntes „Bereitschaftspotential“ voraus, das in den Gehirnströmen schon eine bis eine halbe Sekunde vor der eigentlichen Bewegung beobachtbar ist.

Die Versuchsperson muß in diesem Experiment nun den Zeitpunkt angeben, zu welchem sie sich dazu entschließt, die Hand zu heben. Und natürlich geht der von ihr subjektiv erlebte Entschlußzeitpunkt der Bewegung des Handgelenkes voran. Jedoch: Die Gehirnströme zeigen klar, daß zum Zeitpunkt des Entschlusses das Bereitschaftspotential im Gehirn bereits aufgebaut war. Wenn wir also meinen, uns willentlich zu entscheiden: „Jetzt beuge ich das Handgelenk“, dann ist diese Aktivität im Gehirn nachweislich bereits vorher eingeleitet worden.

Durch solche Experimente fühlen sich die Gehirnforscher in ihrer Vermutung bestätigt, daß unser Eindruck, wir könnten uns frei zu etwas entschließen, tatsächlich nur eine vom Gehirn erzeugte Vorstellung ist. Die „biologische Maschine“ namens Mensch ist demnach einfach dem Gesetz von Aktion und Reaktion unterworfen ­ aber sie hat keinen wirklich freien Willen. Kurz: Wir wollen das, was wir tun ­ aber wir tun nicht das, was wir wollen.

Diese Sicht der Dinge fügt sich recht gut in das materialistische Weltbild unserer Zeit, in welchem etwas so Abstruses, Unfaßbares wie ein freier Wille von vornherein undenkbar ist. Denn frei hieße ja unabhängig von der materiellen Welt. Und dieses freie, unabhängige Etwas soll noch dazu in die materielle Welt hineinwirken, sie lenken und steuern können? Da ist es doch wohl naheliegender, die „rosarote Brille“ abzunehmen und mutig der Tatsache ins Auge zu blicken, daß wir uns alle in Sachen „freier Wille“ nur etwas vorgaukeln, während wir in Wirklichkeit doch nur aufgrund unserer Anlagen und Neigungen reagieren, nicht aber willentlich agieren!

Woher der bewusste Wille stammt

Den heute also durchaus gängigen Gedanken, wir Menschen hätten gar keinen freien Willen, wagt man allerdings kaum zu Ende zu denken. Denn er würde ungeheure Konsequenzen auf allen Ebenen unseres Daseins nach sich ziehen. Unterstellt man, daß wir tatsächlich nicht willentlich entscheiden, so könnte man keinen Menschen für seine Handlungen verantwortlich machen ­ die Tyrannen und Völkermörder würden ja ebenso nur ihren biologischen Anlagen folgen wie Terroristen oder Kinderschänder.

Ethisch-moralische Werte, jedes Streben zum Guten ließe sich in Zweifel ziehen, religiös-spirituelle Bemühungen könnte man ohne weiteres über Bord werfen und unserer Sehnsucht nach Sinn müßte man den Sinn absprechen. Unabsehbare Folgen für unser gesellschaftliches Zusammenleben wären also zu befürchten ­ daher wird das materialistische Weltbild mit seinem „willenlosen Menschen“ zumeist nur als graue Theorie gepflegt, von der man sich wünscht, daß sie keine Auswirkungen für unser wirkliches Leben haben möge.

Doch ungeachtet dessen bleibt die große Frage bestehen: Kann es tatsächlich sein, daß der freie Wille, den wir bis in die Fingerspitzen als untrennbar zum Menschsein gehörig erleben, nur eine Illusion des Gehirns ist?

Wenn wir die Ergebnisse der Gehirnforschung kritisch beleuchten, dann ist eines natürlich klar: Die Mikroskope, Sonden, Kabel und Monitore, wie sie die Wissenschaft heute verwendet, bieten einen guten Einblick in den Körper ­ aber man kann aufgrund der dadurch gewonnenen Erkenntnisse längst nicht behaupten, der Mensch sei nur die sichtbare Physis. Denn was zeichnet uns Menschen aus? Wirklich nur das faszinierende Zellen-Wunderwerk unter der Schädeldecke? Wohl niemand wollte sich selbst ernsthaft mit dieser grauen Masse identifizieren!

Wenn es um die eigentlichen Werte des Menschseins geht, stehen spontan doch ganz andere Begriffe im Raum: etwa die wunderbare Befähigung, Liebe, Freude, Schönheit, Gerechtigkeit, Anmut zu empfinden und zu entwickeln; das Bedürfnis nach Ausdruck, Kultur, Kunst; die Sehnsucht nach Sinn, geistigem Licht, Gotterkenntnis. Das alles gehört zu unserem menschlichen Bewußtsein, zur Menschlichkeit, aber es hat nur bedingt mit Gehirn und Körper zu tun.

Unser Innenleben, die Empfindungen, die Bilder unserer Gedanken, die Hoffnungen und Ziele, die uns motivieren, sind doch erlebbare Beweise dafür, daß es mehr gibt als nur das Physisch-Materielle. Was unser Leben wirklich wertvoll und lebenswert macht, ist die Tatsache, daß wir die Umwelt und auch uns selbst bewußt erleben dürfen, daß wir also ­ auf eine mit Worten gar nicht zureichend beschreibbare und verstandesmäßig nicht wirklich faßbare Art und Weise ­ innerlich wach sind. Dieses menschliche Ich-Bewußtsein aber hat nichts Materielles an sich, es kann weder künstlich hergestellt noch im Experiment dingfest gemacht werden ­ und es ist auch nicht möglich, unsere Innenwelt in all ihrer Lebendigkeit mit Apparaten zu beobachten.

Was immer also an Gehirnströmen gemessen wird, es kann nur eine körperliche Auswirkung von etwas Übergeordnetem sein. Das eigentlich Menschliche, das geistige Ich-Bewußtsein (Vgl. Titelbeitrag GralsWelt 29: „Das große Rätsel ‘Ich’ ­ Wie entsteht die menschliche Persönlichkeit?“), ist immaterieller Natur. Es altert nicht mit dem Körper, sondern vollzieht seinen eigenen Reifeprozeß. Und es stirbt auch nicht mit ihm, sondern strebt während des Sterbevorganges lediglich von jener physischen Hülle ab, der es sich für die Spanne des Erdenlebens angeschlossen hatte.

Nun ist naheliegend, daß der freie Wille, den wir als untrennbar zu unserem Menschsein gehörig empfinden, ebenfalls dieser geistigen Ebene angehört. Denn wir erleben ja, daß jeder wirkliche Entschluß von uns selbst stammt, nicht aber aus dem Körper (also auch nicht aus dem Gehirn) hervorgeht.

Der freie Wille und das Gehirn

Wenn wir also unserer subjektiven Erfahrung, über einen freien Willen zu verfügen, ohne weiteres trauen können, wenn dieser Wille zur geistigen Dimension des Menschseins gehört, und wenn wir dadurch auch voll verantwortlich im Leben stehen ­ wie ist dann das erwähnte Experiment der Gehirnforscher zu werten? Weshalb kann das Bereitschaftspotential für eine Handlung schon vor dem Entschluß gemessen werden?

Sofern man als Grundlage akzeptiert, daß der Mensch nicht nur sein Körper ist, fällt die Antwort auf diese Frage nicht mehr schwer: Der eigentliche Willensentschluß erfolgt gar nicht im Gehirn, sondern ist Ausdruck des Geistes, des immateriellen menschlichen Wesenskernes. Das Gehirn reagiert nur auf das geistige Wollen, es ist ein Werkzeug des Geistes zu dessen Betätigung in der stofflichen Welt und dient dazu, dessen Wollen umzusetzen.

Es muß uns hier nicht im Detail interessieren, wie sich der geistige Entschluß dem Körper aufprägt. Der Weg verläuft jedenfalls über das Sonnengeflecht, das in seiner Feinheit die Antenne für Impulse aus der Seelenwelt abgibt, von da aus hin zum Klein-, und danach zum Großhirn. Daher sprechen wir bei starken oder spontanen Empfindungen sehr treffend davon, daß uns „der Bauch etwas sagt“ oder daß uns eine Sache „am Herzen liegt“. Der Solarplexus bzw. die ausgeprägte Nervenregion in der Bauchgegend ist sozusagen das Einfallstor für alle geistigen Tätigkeiten: Willensakte, Empfindungsäußerungen, Gewissensregungen. (Vgl. Beitrag „Geist und Gehirn ­ ein weltenweiter Unterschied“ in diesem Heft). Diese Impulse aus unserem innersten, immateriellen Wesenskern werden erst danach unter Mitwirkung des Gehirnes zu jenen Gedanken geformt, die uns tagbewußt vertraut sind.

Wenn die Gehirnforschung also feststellt, daß in bestimmten Fällen nachweisbar zuerst die Gehirnregionen tätig werden, die einer körperlichen Bewegung den Impuls geben und erst danach jene, die den Entschlußgedanken widerspiegeln, dann zeigt dies im Grunde nur, daß die Bewegungen und Aktionen des Körpers Vorrang vor dem „Nach-Denken“ haben.

Diese Gegebenheit ist uns aus dem Alltag durchaus vertraut: Eine Mutter, die plötzlich wahrnimmt, daß ihr Kind unachtsam auf der Straße tollt und zugleich mit großer Geschwindigkeit ein Auto daherrast, wird ihr Kind blitzschnell und ohne Überlegung aus der Gefahrenzone retten und in Sicherheit bringen...


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