Die umgekehrte Globalisierung

Wie die Region um Halle an der Saale einmal beinahe
chinesische Sonderwirtschaftszone geworden wäre

von Tom Mustroph (FR, 23.09.2005)

Mit einem wahren Sturm auf Arbeitsplätze machte im Frühsommer das ostdeutsche Armenhaus Sachsen-Anhalt auf sich aufmerksam. Der Computerriese Dell offerierte schlappe 200 Jobs in seinem neuen Call-Center - und 7 000 Leute schlängelten sich durch den nicht eben einfachen Online-Bewerbungsparcours. Mittlerweile haben die ersten Glücklichen ihre Arbeit aufgenommen und nach Konzernangaben bereits am ersten Tag 600 Computer per Telefon verkauft. 170 weitere Arbeitnehmer sollen bis März nächsten Jahres eingestellt werden. Dell plant insgesamt bis zu 750 Arbeitsplätze zu schaffen. Ein Tropfen auf den heißen Stein angesichts einer stabilen Arbeitslosenquote von 20 Prozent in diesem Bundesland. Dennoch wurde der Arbeitgeber aus Übersee von den lokalen Medien fast schon als Erlöser gefeiert.

Gemessen an diesem Faktum wollen in den nächsten Jahren Mainland Developments aus Shenzen richtig klotzen. Das chinesische Konsortium reklamiert für sich, mit Sonderwirtschaftszonen in China die ökonomische Entwicklung angekurbelt zu haben und will ihr Knowhow nun auch in Deutschland zur Anwendung bringen. Es verspricht, im Laufe von sechs Jahren Investitionen von insgesamt 1,2 Milliarden US Dollar zu akquirieren und damit zwischen 250 000 und 600 000 Jobs in weiten Teilen Sachsen-Anhalts zu schaffen. Ein 8 450 Quadratkilometer großes Gebiet um Halle herum, von Magdeburg im Norden bis Weißenfels im Süden, Bad Harzburg im Westen bis Wittenberg im Osten hat Mainland Developments dafür ins Auge gefasst. Bedingung für den Aufschwung ist die Herauslösung dieses Gebiets aus dem investitionsfeindlichen Rechtssystem der Bundesrepublik und die konsequente Anwendung jener chinesischen Ausnahmeregelungen, die in den Sonderwirtschaftszonen im Reich der Mitte für den weltweit bestaunten Boom gesorgt haben. Ein Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der VR China sei bereits in Arbeit, versicherte Juri Henning von Mainland Developments.

Endlich beginnen im Osten die Landschaften richtig zu blühen

Gerade organisierte der Investor eine öffentliche Anhörung im bereits im Umbau befindlichen Bahnhof von Halle-Neustadt. Ein Podium aus Sozialwissenschaftlern, Stadtplanern, Architekten und Vertretern vom Regionalmarketing und der Handelskammer sowie interessierten Bewohnern der umliegenden Plattenbausiedlungen konnten zu den Plänen Stellung nehmen. Vor einem farbenfrohen Transparent mit der deutsch-chinesischen Überschrift "Blühende Landschaften", das Fabriken, Wohngebiete und einen Sportplatz - teils noch im Bau, teils schon in Betrieb - abbildet, konkretisierte Henning das Vorhaben.

Industrielle Eckpfeiler sollen chemische Industrie, Textilindustrie und Automobilbau sein, der Harz hingegen zum Erholungsgebiet umgebaut werden. In einer zweiten Ausbaustufe werde auf Dienstleistungen gesetzt. In den Städten solle die bewährte Plattenbautechnologie zum Einsatz kommen, um ausreichend Wohnraum zu schaffen. Neben chinesischen Kontraktarbeitern werde es auch Arbeitsplätze für Deutsche geben. "Ich habe mich informiert. Bei Ihnen existiert ja schon jetzt das 1-Euro-Lohn-Niveau. Wir werden daraus Cent-Beträge machen.", verkündet Henning selbstbewusst. Er preist schließlich noch das bewährte chinesische Sicherheitssystem an: "Wer sich legal in unserem Gebiet aufhält, wird von freundlichem und kompetenten Servicepersonal begleitet." Er lässt dabei offen, was mit denen geschieht, die über keine Legitimation verfügen.

Der Soziologe Jens Dangschat von der TU Wien kritisiert bei der Anhörung diese Sicherheits-Infrastruktur. Er sieht im implantierten Rechtssystem sowie der fremden Kultur die Achillesferse des Projekts. Thomas Brockmeyer, Vertreter der Industrie- und Handelskammer Halle-Dessau, freut sich hingegen über die ökonomische Alternative vor der Haustür: "Die Leute wollen von den billigen Produkten der globalisierten Gesellschaft profitieren, aber nicht die Produktionsbedingungen haben." Grimmig weist er darauf hin, dass "dann fröhlich ungeklärte Abwässer in die Salle geleitet werden." Man hätte erneut einen Silbersee in Bitterfeld. Klaus Wurpts vom Regionenmarketing Mitteldeutschland ist jedoch mit der Akquisition höchst zufrieden.

Im Publikum sorgt man sich, dass die Anhaltiner vielleicht erneut zu kurz kämen. "Man sollte die Grenzen rechtzeitig schließen, damit uns nicht Thüringer, Sachsen und Bayern die Arbeitsplätze wegschnappen.", erklärt ein junger Mann. Eine ältere Dame allerdings fühlt sich schmerzhaft ans Arbeiterghetto DDR erinnert: "Ich will nicht wieder eingesperrt sein, auch nicht, wenn es um Arbeitsplätze geht."

Wer sich hier wie in einer Realsatire vorkommt, wird beim Verlassen des Veranstaltungsraums bestätigt. Ein ausgestellter Artikel des Magazins Foreign Affairs beschreibt zwar die Erfolge der chinesischen Sonderwirtschaftszone Halle Saale und von ADA, einem bei Detroit gelegenen und von Südafrika geführten Entwicklungsgebiet - die Ausgabe stammt allerdings vom Juli/August 2010.

Artikel und Anhörung sind Elemente des Gedankenexperiments "Exterritories" des Grazer Architekturbüros Fiedler-Tornquist. Sie entwerfen ein nicht völllig unwahrscheinliches Zukunfts-Szenario und loten mit dem Instrument einer öffentlichen Anhörung das Maß an Akzeptanz aus. Lediglich das Podium - bis auf die chinesischen Vertreter, deren Rollen von Schauspielern übernommen worden waren, sind allesamt authentische Experten - war von Beginn an über den fiktionalen Charakter der Veranstaltung informiert.

Die Verzweiflung einiger Bewohner von Halle-Neustadt war hingegen so groß, dass sie bis zum Ende an der Vorstellung von Arbeitsplätzen für (fast) alle festhalten wollten und jede damit verbundene Kröte zu schlucken bereit waren.

Exterritories wird im November im Rahmen der Ausstellung "Shrinking Cities" in Halle und Leipzig in einer Dokumentation präsentiert. www.exterritories.de


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