Wenn ich es will, wird es zum Märchen . . .

Mit einem fragwürdigen Buch greift der Historiker
Shlomo Sand die Gründungsmythen Israels an

von Michael Borgstede (WELT ONLINE, 06.05.2010)

1896 veröffentlichte Theodor Herzl ein dünnes Büchlein: "Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage". Die Judenfrage sei weder eine soziale noch eine religiöse Frage, schreibt Herzl. "Sie ist eine nationale Frage." Denn: "Wir sind ein Volk, ein Volk". Und wie jedes Volk verdiene auch das jüdische Volk einen Staat.

Es hagelte Kritik von allen Seiten: Viele assimilierte Juden bezichtigten Herzl, dem Antisemitismus Vorschub zu leisten. Für die orthodoxen Juden war die Aussicht auf ein von Menschenhand herbeigeführtes Ende des Exils Gotteslästerung. Seitdem ist die Kritik am Zionismus nie abgeflaut. 62 Jahre nachdem der Zionismus mit der Gründung des Staates Israel sein Ziel erreicht hat, wird noch immer über Ursprünge und Folgen, über Irrtümer und über die Rechtmäßigkeit des Zionismus gestritten.

Die Debatte schwappt mit der deutschen Übersetzung des Buches "Die Erfindung des jüdischen Volkes - Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand" von Shlomo Sand nun auch nach Deutschland. Sand, der als Professor für Neuere Geschichte an der Universität von Tel Aviv lehrt, will beweisen, dass der zionistische Anspruch auf das Heilige Land sich nicht historisch legitimieren lasse. Laut Sand habe es keine Rückkehr der Juden nach Israel geben können, weil es nie ein Exil gegeben habe. Die heutigen Palästinenser seien die Nachfahren der Juden des Altertums, die heutigen Juden stammten hingegen von Konvertiten ab. Vieles von dem was Sand schreibt, ist richtig, einiges ist möglicherweise nicht ganz falsch - und der Rest ist Nonsens.

Dass die Römer die Juden nach der Zerstörung des Tempels nicht systematisch vertrieben haben und dass das Exil in Wahrheit schon mit der Eroberung durch die Assyrer einige Jahrhunderte früher begann, bestreitet kein Historiker mehr. Auch ist es keine von den Zionisten unterdrückte Wahrheit, dass das Judentum einst durchaus eine missionarische Religion war. Für den Leser ist leider kaum auseinander zu halten, wann Sand nur historische Binsenweisheiten als revolutionäre Erkenntnisse verkauft, wann er Unsinn schreibt und wann er sich in politischer Besserwisserei übt. Denn Sand setzt sich für ein offeneres, liberaleres Israel ein. Er will einen "Staat aller Bürger". Das mag man ehrenwert finden, es entschuldigt aber nicht, dass er die Geschichtswissenschaft vor den Karren seiner politischen Ideologie spannt und sich deshalb geradezu systematisch für die umstrittensten Interpretationen historischer Sachverhalte entscheidet - ohne den Leser darauf hinzuweisen.

Kritiker in Israel haben Sand nicht nur grobe Unkenntnis in jenem Fachgebiet nachgewiesen, über das er zu schreiben versucht, sie haben ihm auch vorgeworfen, die jüdische Identität auf den "rassischen" Faktor einzuengen. Dabei schaffe eben auch das gemeinsame historische Gedächtnis Identität - wohl mehr als die reine Ethnie. Laut Sand ist das jüdische Volk ein Mythos, den einige deutsch-jüdische Historiker des 19. Jahrhunderts erschaffen haben. Er will so nicht nur der israelischen Unabhängigkeitserklärung die Basis entziehen, sondern auch dem Rückkehrgesetz an den Kragen, das jedem Juden die Einwanderung nach Israel erlaubt. Dabei macht er es sich erheblich zu leicht, streift aber interessante und legitime Fragen, unter anderem die: Leitet sich aus jener historischen Verbindung des jüdischen Volkes zum Land Israel ein heutiger Anspruch auf dieses Land ab?

Der Jurist Chaim Gans ist dieser Frage auch unter moralischen Gesichtspunkten nachgegangen und kommt zu dem Schluss, dass sich selbst aus berechtigten historischen Ansprüchen niemals der Umfang des Staatsgebietes ableiten lasse. Weil sich Israels erster Ministerpräsident David Ben Gurion dieser Einschränkung bewusst gewesen sei, sei sein Zionismus auf den Staat Israel und nicht das biblische Land Israel ausgerichtet gewesen.

Dagegen greifen Sands Prämisse, seine Methodik und seine Befunde zu kurz. Sicher muss es auch erlaubt sein zu fragen, ob Israel dem eigenen Anspruch, ein jüdischer und demokratischer Staat sein zu wollen, immer gerecht wird. Es lässt sich darüber streiten, ob das im Rückkehrgesetz festgeschriebene Einwanderungsrecht für alle Juden nicht letztlich ein rassistisches Gesetz ist. Die Juristin Ruth Gavinson findet das nicht: Solange der Staat alle seine Bürger gleich behandele, habe er das Recht, die Einwanderung nach diversen Kriterien zu beschränken. Das täten schließlich alle westlichen Länder.

Es läßt sich trefflich streiten über den Zionismus und jenen Staat, den diese letztlich revolutionäre Ideologie hervorbrachte. Schon immer hat jeder Zionist den Zionismus so interpretiert, wie es ihm in den Kram paßte. Streitereien gehörten sei den Anfangstagen der Bewegung dazu. So schrieb einer von Herzls schärfsten Kritikern, Achad Haam, eine vernichtende Rezension des "Judenstaates".

Diese Debatten um den jüdischen Charakter Israels und die Stellung der Diaspora dauern bis heute an. In den 1970er Jahren schlug der Philosoph und Wissenschaftler Jehoschua Leibowitz in die gleiche Bresche: "Die meisten Juden wollen jüdisch sein. Sie können ihr Judentum aber nicht mit mehr Inhalt füllen als mit einem Stück Stoff am Flaggenmast und mit einer Militäruniform." Ihnen fehle die geistige Dimension jüdischen Daseins. Heute ist es der ehemalige Politiker der Arbeitspartei, Avraham Burg, der eine Rückbesinnung auf den Kulturzionismus fordert.

Burgs Buch "Hitler besiegen" erschien in Israel 2007 und löste eine wütende Debatte aus. Da schien sich ein Vorzeigezionist radikal von der Ideologie verabschiedet zu haben. Für den Leser ist das Buch nicht nur stilistisch eine Zumutung und in seiner Mischung aus Polemik, Erinnerungen, gewagten Vorhersagen, genauen Beobachtungen und scharfsinnigen Gedanken fast unlesbar. Burg argumentiert, dass die Katastrophe des Holocaust das Nationalbewusstsein der Israelis heute so sehr bestimmt, dass eine verfälschte Weltsicht die Folge sei. Trotz seiner Militärgewalt sei Israel eine verängstigte Gesellschaft, und die immer im Hintergrund stehende Meta-Gefahr manifestiere sich in den Sechs Millionen ermordeten Juden. Burg ärgert es deshalb, wenn Ahmadinedschad, Arafat oder Nasrallah von israelischen Politikern regelmäßig mit Hitler verglichen werden. Der gläubige Jude Burg will sich seine jüdische Identität nicht von den Nazis definieren lassen und wehrt sich gegen das Rückkehrgesetz, das die Definitionen der Nürnberger Rassegesetze spiegelbildlich übernehme, um die Einwanderung von Juden nach Israel zu regeln. Dabei weiß auch Burg, dass der Zionismus nicht nur seinen Erfolg, sondern auch seine Entstehung zumindest teilweise dem Antisemitismus zu verdanken hat. Auf die "treibende Kraft komme es an", schrieb Herzl 1896 in "Der Judenstaat". Diese treibende Kraft sei "die Judennoth".

Dass der Zionismus zur Linderung dieser Not beigetragen hat, scheint selbst unter den meisten seiner Kritikern Konsens zu sein. Obwohl Sands Buch von radikalen Israelfeinden dazu benutzt wird, dem Staat Israel das Existenzrecht abzusprechen, sagt Sand sich selbst, er sei nicht anti-, sondern post-zionistisch. Er halte es für nicht legitim, die Existenz Israels zur Disposition zu stellen. Recht hat er wenigstens darin.


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