Die Ersten und die Letzten...
Ken Watanabe als Saigō Takamori alias "Katsumoto"
und Tom Cruise als Jules Brunet alias Nathan Algren

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EDWARD ZWICK: DER LETZTE SAMURAI
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[Takamori-Denkmal im Ueno-Park, Tokyo] [Filmplakat: Kensaku Watanabe als 'Katsumoto']
[Filmplakat: Tom Cruise als 'Algren']


EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
DIE [UN]SCHÖNE WELT DER ILLUSIONEN

"Eine Mischung aus 'Der mit dem Wolf tanzt', 'Braveheart' und 'Lawrence von Arabien'" schrieb ein Filmkritiker; und damit ist alles gesagt, um diesen Streifen - je nachdem wie man die zuvor genannten bewertet - entweder zu verdammen oder über den grünen Klee zu loben. Nur ein Vergleich wird für gewöhnlich nicht bemüht, obwohl der sich doch geradezu aufdrängt. Nein, Dikigoros meint nicht "55 Tage in Peking", jene sehr freie - und vor allem von chinesischer Seite viel geschmähte - Interpretation des "Boxer-Aufstands" aus dem Jahre 1962 (dessen Hauptrolle einer jener nicht prägungsfähigen Un-Helden spielt, von denen er in seiner Einleitung zu "Die [un]schöne Welt der Illusionen" schrieb, nämlich Charlton Heston), sondern einen Film, den er Euch zwei Kapitel zuvor bereits vorgestellt hat: They died with their boots on'. Die amerikanische Hauptfigur, Hauptmann a.D. Algren, ist nämlich - angeblich - ein Veteran der "7. Kavallerie" Custers, der die Indianerkriege mitgemacht hat und darob - wie sein Ex-Kommandeur, allerdings aus anderen Gründen - dem Suff verfallen ist. Nun läuft er als hoch dekorierter Marktschreier für die Firma Winchester herum und preist potentiellen Käufern deren Gewehre an, für 25 $ die Woche.

Moment mal, werden aufmerksame Leser einwenden, nicht so schnell in die Handlung einsteigen, erst nochmal zurück zu den Vergleichen. Bei dem Film über Custers "letztes Kommando" ging es doch - wie auch Dikigoros mit Nachdruck heraus gestellt hat - um "Glory [Ruhm]"; dagegen geht es hier um etwas viel tieferes und wertvolleres, nähmlich um die Ehre, so sagt es der Erzähler der Rahmenhandlung zu Beginn der Films doch ganz deutlich: Die Samurai, jene edlen Ritter, kämpfen für ihre Ehre, und ihre Ehre heißt Treue zum Tenno. Hm... erinnert das Euch an etwas, liebe ältere Leser? Da war doch mal so etwas ähnliches auch in Deutschland. Für Euch, liebe jüngere Leser: Es gab mal eine Truppe, auf deren Koppel der Satz stand: "Meine Ehre heißt Treue"; und weil ihre Angehörigen im Zweiten Weltkrieg besonders tapfer und treu kämpften, aber dennoch verloren, wurden sie anschließend pauschal zu Verbechern erklärt, nachdem man ihnen, so sie in Gefangenschaf geraten waren, ein paar abstruse "Geständnisse" abfolterte und deren Widerruf unter Strafe stellte. Das gilt übrigens in der BRD bis heute, während die Samurai in Japan schon nach wenigen Jahren voll rehabilitiert wurden. Ist das nicht eine schöne Parallele zwischen alt-japanischer und alt-deutscher Auffassung von Ehre, liebe Rechte? Und kontrastiert sie nicht in erfrischender Weise mit dem, was die US-Amerikaner darunter verstanden und verstehen? "Honor" kommt von "Honorar", und wie der ehrenwerte Hauptmann Algren in einer der ersten Szenen verrät, wäre er für ein Honorar von 500 $ bereit, jeden zu töten, den sein Auftraggeber beseitigt wissen will. ("Dies ist eben das Land der Krämerseelen", raunt ein japanischer Auftraggeber dem anderen zu, als der die Stirn runzelt über Algrens unverschämte Honorar-Forderung - sie wollten ihm nämlich ursprünglich "nur" 400 $ pro Monat zahlen - was anno 1876, als der Film spielen soll, immerhin einer Kaufkraft von heutigen 8.000 $ entspricht.) Warum hat Dikigoros diese Ehre dann - anders als die "Glory" in "They died with their boots on" - nicht in der Überschrift thematisiert, sondern statt dessen den Titel der Memoiren des Jagdfliegers Adolf Galland verwendet? [Wenn Ihr die nicht kennt, liebe Leser, dann solltet Ihr als Einleitung wenigstens diese Webseite von Dikigoros lesen, damit Ihr eine ungefähre Vorstellung bekommt, wo er die Parallelen suchen wird zwischen einem der dunkelsten Kapitel der jüngeren japanischen Geschichte und einem der dunkelsten Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte, Parallelen, die Edward Zwick leider nicht sehen konnte, da er als Amerikaner und Jude von klein auf gelernt hat, ganz andere Kapitel der deutschen und japanischen Geschichte als dunkel" zu empfinden. Ein David Griffith hätte sie gesehen; aber das war nach seiner Zeit; er hätte vielleicht auf eine andere Parallele abgestellt, eine aus der amerikanischen Geschichte, und das Schicksal der aufständischen Samurai mit dem der Konföderierten im Sezessionskrieg verglichen: Es waren die beiden letzten (Bürger-)Kriege, aus denen die militärisch Geschlagenen als die moralischen Sieger in die Herzen der Nachwelt eingingen - die Propaganda-Maschinerie der Sieger war damals eben noch nicht so perfekt wie heute.] Ganz einfach: weil die Vermutung, daß der japanische Begriff von Ehre eher dem deutschen als dem amerikanischen entspreche, auf einem Trugschluß beruht. Dikigoros kann Euch die peinliche Wahrheit nicht ersparen: Das japanische Wort für Ehre - "homa" oder "YO" - stammt aus dem Chinesischen (dort wird es heute "yù" gesprochen - aber das Zeichen ist noch das selbe); es setzt sich aus "Glanz" und "Wort" zusammen und bedeutet eigentlich... "Ruhm (glory)". Ihr meint, die Japaner hätten die Bedeutung doch vielleicht irgendwie verändert? Oh ja, das haben sie, wie man ebenfalls aus den Schriftzeichen ersehen kann; sie setzen dem "YO" meist noch ein anderes Zeichen vor, nämlich "EI" oder "MEI". Ersteres bedeutet - na was wohl? "Ruhm (glory)", und letzteres "Name". Für den Japaner ist also "Ehre" entweder "ruhmreicher Ruhm" (gewissermaßen "Ruhm hoch zwei") oder aber ein "ruhmreicher Name". (Man könnte fast meinen, daß der Film-Custer sich seinen "Ehrbegriff" bei den Japanern abgeschaut hat, als er zu Sharps Vater sagt: "Ich bin bereit, um alles zu spielen, aber nicht um meinen guten Namen, denn der steht für etwas" - nämlich für "glory" :-) Noch Fragen zu diesem Punkt?

[meiyo - Ehre auf Japanisch]

Nachtrag: Ja, Dikigoros' Leser haben Fragen, die er nicht unbeantwortet lassen will. Gewiß haben die Japaner auch einen Begriff für "Treue", nämlich "sonkei" - aber das ist etwas ganz anderes als bei uns. "Treue" meint ein auch persönliches Verhältnis, das über formelle Abhängigkeits-Verhältnisse hinaus geht. "Sonkei" ist dagegen die Loyalität, die ein Vasall (der Samurai) seinem Lehensherren (dem Daimyō) schuldet, solange sie Vasall und Lehensherr sind - aber keine Minute länger. Es ist so zu sagen der formale Respekt (der in Japan wohl gemerkt eine sehr hohe Bedeutung hat, die Dikigoros keineswegs schmälern will), die Achtung, die jeder Untergebene jedem Vorgesetzten schuldet, ja jeder Amtsperson (sie kommt z.B. noch heute im Zeichen für "Polizist" vor). Mit "Ehre" hat das nur insoweit zu tun, als man selbstverständlich seine Pflichten als Untertan (heute: als Staatsbürger) im allgemeinen und aus einem Lehensverhältnis (heute: einem Arbeitsvertrag) o.ä. im besonderen korrekt zu erfüllen hat - sonst verliert man sein Gesicht (oder, wenn Ihr so wollt, seine "Ehre"). Nachtrag Ende.

Zurück zum Film. Algren reist also anno 1876 (dem Jahr der Schlacht am "Little Big Horn") mit dem Raddampfer nach Yokohama (dem Hafen der japanischen Hauptstadt Edo) und beginnt, für die Armee des Tennō Bauernjungen, die noch nie eine Waffe in der Hand hatten, an Schießgewehren auszubilden (wohlgemerkt altmodischen Vorderladern, nicht etwa Zündnadel- oder Chassepot-Gewehren, geschweige denn modernen Repetier-Gewehren, wie sie Winchester gerade erst 1873 auf den Markt gebracht hatte). Noch bevor seine Rekruten auch nur richtig geradeaus schießen gelernt haben, kommt der Befehl zum ersten Einsatz gegen die rebellischen Samurai des Katsumoto. Algren - der sich vergeblich gegen den verfrühten Einsatz gewehrt hatte, erleidet eine vernichtende Niederlage; und obwohl er selber kämpft wie ein Löwe, pardon wie ein Tiger ("Tora" - Zwick legte Wert auf diese Parallele, er blendet während des Kampfes eigens eine Tigerfahne ein; der japanische Zuschauer wird dies jedoch als Anspielung darauf verstehen, daß Algren ein starker Trinker ist, denn das bedeutet "Tora" auch :-), gerät er verwundet in Gefangenschaft. Die Schwester Katsumotos - deren Mann Algren in der Schlacht eigenhändig getötet hat - pflegt ihn wieder gesund (man fühlt sich beinahe an Ntscho-tschi und Old Shatterhand in Winnetou erinnert :-), und allmählich lernt Algren die "Wilden, die mit Pfeil und Bogen kämpfen" zu schätzen. (Dazu paßt es schlecht, daß er - aus Gründen der political correctness - schon vorher eine hohe Meinung von den Indianern hatte; und da er zwischen denen und den "Japsen" - zu Unrecht - keinen großen Unterschied macht, geht der Effekt der Umbesinnung weitgehend verloren.) Er erfährt, daß sie eigentlich nur das Beste wollen, für den Tennō und für Japan, nämlich daß sie nicht von bösen amerikanischen Kapitalisten über den Tisch gezogen werden. Algren versucht vergeblich zu vermitteln; und so enschließt er sich, den letzten Kampf auf Seiten der Samurai mitzumachen. (Er hat inzwischen von ihnen den Schwertkampf erlernt - auch das ziemlich unpassend, denn wenn irgend etwas in der Ausbildung der US-Kavallerie erstklassig war, dann war es die Ausbildung im Säbelkampf - jedenfalls für Offiziere -, und der lange Kavallerie-Säbel stand dem Samurai-Schwert in der anspruchsvollen Handhabung kaum nach. Was schließlich vom Vergleich zwischen Gewehren des 19. Jahrhunderts einerseits, Pfeil und Bogen andererseits zu halten ist, hat Dikigoros bereits im Kapitel über "They died with their boots on" ausführlich geschrieben.) Wir sehen einige eindrucksvolle Säbelattacken hoch zu Roß, die ebenfalls an "They died with their boots on" erinnern, als Custer die Michigan-Brigade bei Hannover mit blankem Säbel die Artillerie-Stellungen der Confederierten angreifen läßt; allerdings haben die tapferen Angreifer hier weniger Glück: Sie scheitern schließlich an den Gatlin-guns (Vorläufern des Maschinengewehrs) der Regierungstruppen; Katsumoto stirbt in Algrens Armen, der dessen Schwert dem Tennō überbringt und ihn damit von der Treue seiner gefallenen Samurai überzeugt. Der Tennō weist den Vertretern des amerikanischen Kapitalismus die Tür; und auf seine Frage, wie Katsumoto gestorben sei, antwortet ihm Algren: "Ich will Euch berichten, wie er gelebt hat." Das ist ein wunderschönes Schlußwort aus dem Munde eines Soldaten über einen anderen Soldaten, findet Dikigoros, der ja nie müde wird, die Leser seiner Webseiten zu überzeugen, daß es für die Definition eines "Helden" entgegen weit verbreiter Meinung nicht darauf ankommt, wie er gestorben ist, sondern wie er gelebt hat.

War Katsumoto bzw. sein historisches Vorbild nun ein Held? Schwer zu sagen, wenn man nur den Film gesehen hat, in dem Zwick seiner blühenden Fantasie sehr viel freien Lauf gelassen hat - was einem Film, dessen Ereignisse noch nicht gar so lange zurück liegen, nie gut tut. Damit meint Dikigoros nicht nur, daß er aus dem japanischen Nationalhelden Saigō Takamori einen "Katsumoto" gemacht hat (der letztere würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüßte, wofür sein guter Name herhalten muß - wenn man schon einen anderen Namen wählt als den historischen, dann sollte man ihn wenigstens frei erfinden, und keine unbescholtenen Zeitgenossen mit hinein ziehen!), sondern auch und vor allem, daß er die zweite (für amerikanische Zuschauer: erste) Hauptrolle, die des zivilisationsmüden Soldaten, mit einem zwar bekannten und beliebten, aber völlig ungeeigneten Schauspieler besetzt (vielleicht weil er meinte, daß Tom Cruise - der ja beim Publikum bereits durch mehr als eine "Mission impossible" bestens eingeführt war - diese Rolle besonders gut zu Gesicht stehen würde :-) und dazu noch völlig verzeichnet hat: Die Instrukteure der modernen japanischen Armee der Meiji-Zeit waren nie Amerikaner, sondern bis zum preußisch-französischen Krieg 1870/71 Franzosen, danach Preußen; und der Gaijin [Ausländer, Außenseiter], der für den amerikanischen Captain "Nathan Algren" Modell gestanden hat, war der französische Premierlieutenant Jules Brunet.

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Kennt Ihr Euch ein wenig in der jüngeren japanischen Geschichte aus, liebe Leser? Wahrscheinlich nicht; aber das ist verständlich. Diverse Internet-Foren sind voll mit Klagen von Ex-Pats in Thailand, daß die bösen Thais nicht wollen, wenn "Farangs" ihre Sprache erlernen und so tiefere Einblicke in ihre Gesellschaft erhalten, und mit Klagen von Wirtschaftsvertretern, daß die bösen Chinesen es ebenso halten, um sich nicht in die Karten schauen zu lassen. Daß es in Japan lange Zeit noch schlimmer war (und auch heute noch fast ebenso schlimm ist) wird dabei gerne vergessen oder verdrängt. Nichts ist den Japanern ein größerer Horror als ein "Gaijin", der fließend ihre Sprache spricht (sie definieren zwar, anders als die alten Griechen, den Barbaren ["Banjin" - die alte Bezeichnung für die Ainu-Ureinwohner und Angehörige anderer nicht-mongolider Rassen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hoch-offiziell durch das weniger unh&oul;fliche "Gaijin" abgelöst wurde] nicht als jemanden, der ihre Sprache nicht beherrscht, sondern ausweislich des Kanjis als jemanden mit einem ungepflegten, struppigen Vollbart, aber sie verbinden die gleichen Vorstellungen damit) - was gar nicht sooo schwierig ist - und womöglich auch noch ihre Schrift lesen kann - was schon schwieriger ist - und dadurch Zugang zu ihren Zeitungen und Büchern hat. (Dikigoros kann das nur unvollkommen, deshalb kommt er immer gut mit den Japanern aus. Böse Zungen behaupten, daß die Japaner nur deshalb ihre komplizierten "Kanji"-Piktogramme nicht zugunsten einer durchgängigen Buchstaben- oder Silbenschrift - die sie ja schon haben - abschaffen, weil sie fürchten, daß dann noch mehr Ausländer sie erlernen könnten :-) Und was gar die wichtigen Geschichtsquellen anbelangt, so hat zu denen nicht mal der normal-sterbliche Japaner offenen Zugang. (Kommt Euch das bekannt vor, liebe normal-sterbliche Deutsche?) Eine Ausnahme gilt für die Zeit zwischen 1853, als die Amerikaner Japan gewaltsam öffneten (darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle), und 1869, als mit der Niederwerfung der vorletzten Samurai das neue Remime des Tennō konsolidiert war; über jene Jahre haben wir - auch wir Westler - ungewöhnlich reich sprudelnde Quellen. (Danach machte Japan wieder dicht, und man kann - oder muß - die Lücken wieder mit Fantasie und Fantadu auffüllen; vielleicht hat Zwick deshalb alle Ereignisse seines Films in die Jahre 1876/77 verlegt :-) À propos: Woran denkt Ihr, wenn Ihr das Wort "Tennō" hört, liebe westliche Leser? An den allmächtigen Gott-Kaiser, der er bis 1945 (und, wie manche meinen, auch darüber hinaus) gewesen sein soll? Den Herrn über Leben und Tod, Krieg und Frieden... Aber ach, das ist alles nur ein frommes Märchen. Wie schon das japanische Piktogramm verrät, ist der Tennō der Herrscher des Himmels (Ten), der nur ein Auge auf den weltlichen Herrscher, den König (Ō), hat, ihn so zu sagen moralisch überwacht - mehr aber auch nicht. Darf Dikigoros, da er einmal bei den Kanji ist, Eure Aufmerksamkeit auf das Filmplakat in der zweiten Bilderreihe lenken? Er hat es nicht von ungefähr ausgewählt, denn es gibt zwar welche, die von den Bildern her besser sind, auf denen aber die japanischen Schriftzeichen fehlen. Das erste - das für "letzte" steht - ist bereits eine Geschichte für sich: Es ist eine Kombination der "Radikale" (so nennt man im Westen die 214 Bildzeichen, aus denen sich das sino-japanische Alfabet zusammen setzt) Nr. 77 (anhalten, unterbrechen, beenden) und Nr. 56 (Speer, Spieß, Langschwert), wobei Ihr Euch aussuchen dürft, wie Ihr das interpretieren wollt, als Aufhören nach dem (letzten) Kampf oder als Personifizierung dessen, der den Speer oder das Schwert abbekommt, aufhält und damit seine letzte Tat vollbracht hat. Nein, das ist nicht so abwegig, wie einige von Euch glauben mögen; denn wenn Ihr die beiden Radikale trennt und zwischen ihnen noch eine Nr. 48 (Bau, Werk, Arbeit) einschiebt, dann bedeutet das "vorgeschriebene Form", und die zweite Alternative ist genau die Form der letzten Handlung, die dem Samurai vorgeschrieben ist. Aber Vorsicht - wenn man die beiden letzteren Kanji statt mit der Nr. 77 mit einer Nr. 75 (Baum, Holz) kombiniert, dann bedeutet es... den eigenen Dienstherren (oder den eigenen Vater) töten - natürlich auch in der vorgeschriebenen Form, d.h. mit jenem schönen langen Schwert, das in keiner Kombination fehlen darf. (Nein, liebe deutsche Japanologen, das findet Ihr nicht in Euren Leerbüchern und Lexika für Anfänger, denn es zählt nicht zu den "tōyō kanji".) Alles, was Dikigoros Euch hier beschrieben hat, spricht sich gleich aus, nämlich "shi". Diese Vieldeutigkeit macht ja gerade den Reiz des Japanischen (und noch mehr des Chinesischen) aus - Ihr habt die Wahl, wie Ihr es verstehen wollt.

[Tenno] [(Bu)Shi] [Samurai]

Zurück zum Tennō: Was immer er theoretisch einmal gewesen sein mag - praktisch war er vom 9. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Hampelmann, der etwa so viel weltliche Macht hatte wie der Papst heute, eine Marionette in den Händen des mächtigen Shōgun. Das muß aber nicht heißen, daß darum etwas faul gewesen wäre im Staate Japan - es war halt Arbeitsteilung: Der Tennō saß in seinem Palast in Kyōto und betete zu den Göttern (Kami); der Shōgun saß in seiner Burg am "Tor zur Bucht" (Edo) und regierte die Menschen; der Militär-Adel (Bushi), zu dem auch die Lehensritter (Shi - das zweite Zeichen auf dem Filmplakat in der zweiten Reihe) gehörten (die im Westen meist ungenau als "Samurai" bezeichnet werden; darunter verstehen die Japaner aber eher den nicht-militärischen Adel, den sie anders, nämlich mit den Kanji für "Mensch" und "Tempel" schreiben, wie das auch Algren im Film tut - ein Widerspruch zum Plakat), saß in den Provinzen (Han) - die Ihr Euch als eine Art Bundesländer vorstellen könnt - und kämpfte bzw. sorgte dafür, daß nicht gekämpft wurde (nein, das ist kein Widerspruch in sich, liebe Wehrdienstverweigerer!), damit die Bauern in Frieden ihre Reisfelder bebauen, die Handwerker ihre Teeschälchen töpfern und die Händler das alles gut verteilen konnten. Ja, so sollte eine funktionierende Gesellschaft aufgebaut sein. Im Großen und Ganzen funktionierte das auch ganz gut, zumal sich die Japaner gegen schädliche Einflüsse von außen so weit wie möglich abschotteten. Sie hatten alles, was sie brauchten, und wenn es wirklich mal Ausnahmen gab, welche die Regel bestätigten, dann ließen sie sich das von den Holländern besorgen, die auf Deshima, der kleinen Insel vor Nagasaki, ein Handelskontor betrieben. (Ja, liebe Historiker, die Ihr jetzt die Stirne runzelt, es gab auch mal Mißernten, Hungersnöte und Aufstände, aber sicher nicht öfter als in Europa oder anderswo in Asien. Das spricht nicht gegen das System als solches!) So weit, so gut. Aber wie schrieb schon Schiller im Wilhelm Tell: "Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt." Die bösen Nachbarn, das waren ausnahmsweise mal nicht die Chinesen, sondern die, die jenseits des großen Teichs saßen und ganz andere Interessen hatten, als mit Wölfen zu tanzen (so heißt es richtig, im Original steht der Plural - "Dancing with Wolves" -, nicht der Singular). Im Jahre 1853 waren sie zum ersten Mal aufgetaucht, mit ihren schwarzen Schiffen, um Japan zu zwingen, sich dem Außenhandel zu öffnen, mit anderen Worten: sich in wirtschaftliche Abhängigkeit zu begeben. Wie das enden konnte, hatten die Japaner schon gesehen, bei ihren chinesischen Nachbarn, die sich von den Engländern praktisch zur Kolonie hatten degradieren lassen - aber das ist eine andere Geschichte.

Wir schreiben das Jahr 1868. In Japan gärt es. Die Alliierten (vier europäische Mächte und die USA) haben ihm auf Grundlage der vom amerikanischen Präsidenten verkündeten "14 Punkte" (nein, das hat sich Dikigoros nicht einfach so ausgedacht - er kann doch nichts für die Parallelen!) nach sechs Jahren Krieg in Shimonoseki einen Vertrag diktiert, der seine Souveränität sagen wir einmal erheblich einschränkt und es wirtschaftlich verkrüppelt. Die Erfüllungs-Politiker des Shōgunats haben ihn unterschrieben, ohne den Tennō zu fragen. (Wozu auch? Der ist doch weit weg, in Kyōto :-) Vor drei Jahren ist er unter dem Druck der Alliierten, die gedroht haben, Japan zu besetzen und seine Städte in Schutt und Asche zu legen, ratifiziert worden. Einige Leute - nein eigentlich alle Leute - haben erkannt, daß es so nicht weiter gehen kann, wenn Nippon seine Eigenständigkeit, d.h. seine politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit und seine eigene Kultur bewahren will; aber nur wenige sind bereit, ihr Leben dafür einzusetzen. Bezeichnender Weise sind das nicht etwa hohe Adelige, Priester, Politiker oder Beamte, reiche Großgrundbesitzer oder Wirtschaftsmagnaten, sondern - ja, wie soll Dikigoros das Euch, liebe westliche Leser, am besten beschreiben? Krautjunker und Subalternoffiziere, könnte man boshaft sagen; die Japaner nannten sie "Shishi", was im Westen meist mit "entschlossene Männer" übersetzt wird; wörtlich bedeutet es "beherzte Rittersleut'" (es wird mit den Kanji für "Lehensritter" und "Herz" geschrieben). Ihr Führer ist ein Soldat aus Kageshima in der Provinz Satsuma; sein Name ist Saigō Takamori (den Ihr doch bitte auf der drittletzten Silbe betonen wollt, wie das im Japanischen die Regel ist bei zusammen gesetzten Wörtern, auch bei Nagasaki - dem "langen Kap" -, bei Hiroshima - der "breiten Insel" - und bei Katsumoto - seinem Namen im Film). An einem schönen Tag im Januar treten er und seine Anhänger zum Marsch auf Edo an, besetzen die Feldherrnhalle, pardon den Shōgun-Palast und erklären die Regierung für abgesetzt. Die Machtergreifung gelingt ohne Blutvergießen. Das ganze Volk erwartet nun, daß die Revolutionäre das Programm durchziehen werden, unter dem sie angetreten sind: Wiedereinsetzung des Tennō als Herrscher (Sonnō), Gleichschaltung durch Abschaffung der Provinzen und Einteilung des Staats in Gaue (Ken) [westliche Historiker übersetzen das, um keine peinlichen Parallelen ziehen zu müssen, mit "Zentralisierung" und "Präfekturen" - aber gemeint ist das gleiche], Gleichberechtigung aller Volksgenossen vor dem Gesetz durch Aufhebung der Adels-Privilegien, staatliche Lenkung der Wirtschaft (Fukoku), Aufrüstung (Kyōhei) und dann Vertreibung der alliierten Besatzer (Jōi). Auf eine kurze Formel gebracht lautete die Parole, die damals in aller Munde war: "Sonnī-jō'i [Verehrung des Tennō und Vertreibung der Barbaren]!" Das erste tun sie auch, indem sie einen 14-jährigen Bengel namens Mutsuhito auf den Thron setzen (der auf Dikigoros eher wie ein Äffchen in Circus-Uniform wirkt, gar nicht wie ein richtiger Japaner). Die Gleichschaltung wird von einem Kollegen, Freund und Landsmann Saigōs, einem gewissen Ōkubo Toshimichi, durchgeführt - den Ihr im Film als "Ōmura" wieder findet. Schnitt.

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Kennt Ihr Euch ein wenig in der jüngeren deutschen Geschichte aus, liebe Leser? Wahrscheinlich nicht; und obwohl Ihr das mit den meisten Eurer systematisch verdummten Landsleute gemeinsam habt, ist das unverzeihlich. Woran denkt Ihr, wenn Ihr das Wort "Führer" hört? An den allmächtigen Führer und Reichskanzler, der er bis 1945 war? Den Herrn über Leben und Tod, Krieg und Frieden, der an allem alleine schuld war, damit sich alle anderen die Hände in Unschuld waschen konnten... Zum Glück liegt wenigstens über seiner Vergangenheit kein tabuisierender Schleier wie über der des Tennō: Jeder weiß, daß er vor 1933 ein nichts war, bevor ihm die "braunen Bataillone" der SA den Weg an die Macht ebneten. (Ihr meint, er sei doch "friedlich", d.h. durch Wahlen, an die Regierung gekommen, nicht durch Straßenschlachten? Ja, was glaubt Ihr denn? Die roten Mörderbanden der KPD und der SPD, der "Rotfrontkämpferbund" und das "Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold" - beide um keinen Deut besser als die Straßenkampfverbände der Nazis - hätten ihn im Wahlkampf tot geschlagen wie einen räudigen Hund, wenn er nicht seine Sturmabteilungen und Schutzstaffeln gehabt hätte!) Aber halt, so weit sind wir noch nicht.

Wir schreiben das Jahr 1923. Im Deutschen Reich gärt es. Die Alliierten haben ihm auf Grundlage der vom amerikanischen Präsidenten verkündeten "14 Punkte" nach sechs Jahren, pardon, das war ja der andere, nach vier Jahren Krieg in Versailles einen Vertrag diktiert, der seine Souveränität sagen wir einmal erheblich einschränkt und es wirtschaftlich verkrüppelt. Die Erfüllungs-Politiker der Republik haben ihn unterschrieben, ohne den Kaiser zu fragen. (Wozu auch? Der ist doch weit weg, in Doorn :-) Vor vier Jahren ist er unter dem Druck der Alliierten, die gedroht haben, Deutschland zu besetzen und seine Städte in Schutt und Asche zu legen, ratifiziert worden. Einige Leute - nein, eigentlich alle Leute - haben erkannt, daß es so nicht weiter gehen kann, wenn das Reich seine Eigenständigkeit, d.h. seine politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit und seine eigene Kultur bewahren will; aber nur wenige sind bereit, ihr Leben dafür einzusetzen. Bezeichnender Weise sind das nicht etwa hohe Adelige, Priester, Politiker oder Beamte, reiche Großgrundbesitzer oder Wirtschaftsmagnaten, sondern - ja, wie soll Dikigoros das Euch, liebe Leser des 21. Jahrhunderts, am besten beschreiben? "Krautjunker und Subalternoffiziere" trifft es nicht, denn immerhin zählten sogar der ehemalige Kronprinz von Preußen und gestandene Feldherren wie der General a. D. Ludendorff dazu. Die Historiker von heute nennen sie "Verbrecher"; die Deutschen von 1923 nennen sie "Patrioten". Ihr Führer ist ein Soldat aus der Provinz, pardon dem Freistaat Bayern. An einem schönen Tag im November treten er und seine Anhänger zum Marsch auf München an, besetzen das Hofbräuhaus und erklären die Regierung der "Novemberverbrecher" für abgesetzt. Der versuchte Staatsstreich mißlingt und endet in einem Blutbad; seine Anführer - die naiv genug waren zu glauben, wenn sie unbewaffnet daher kämen, würde man nicht auf sie schießen - werden vor Gericht gestellt und fast alle zu Freiheitsstrafen verurteilt (außer Ludendorff, der hat Narrenfreiheit und wird deshalb frei gesprochen :-). Schnitt.

Wenn man aufrüsten und Besatzer vertreiben will, die einem militärisch überlegen sind, hilft es bisweilen nur, von diesen Feinden zu lernen, um sie dereinst mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. (Ihr, liebe Ossis, kennt doch sicher noch den Satz: "Von der Sowjet-Union lernen heißt siegen lernen!" - oder habt Ihr den etwa schon vergessen?) Und wenn man umgekehrt selber Angehöriger militärisch überlegener Streitkräfte ist oder war und nicht mehr befördert - oder überhaupt nicht mehr gebraucht - wird, dann macht man sich schon mal Gedanken, ob man sein Wissen und sein Können nicht in den Dienst eines Landes stellen sollte, wo man so etwas noch zu schätzen weiß. Über diese Art von "Entwicklungshilfe" mögt Ihr denken, wie Ihr wollt, liebe Leser, sie ist längst nicht so ungewöhnlich in der Geschichte wie Ihr glauben mögt. Schiller irrte, als er im Demetrius schrieb: "Durch fremde Waffen gründet sich kein Thron." Er bezog das speziell auf Rußland; doch gerade - aber nicht nur - dort gilt das nicht: Peter der Große - der bei den Russen besonders unbeliebt war, schon weil er im wahrsten Sinne des Wortes alte Zöpfe abschnitt - holte jede Menge ausländische Offiziere ins Land, um die russische Armee aufzubauen; unter Friedrich dem Großen bestand mehr als die Hälfte des preußischen Officierscorps aus französischen Hugenotten (die er bevorzugte, weil er selber besser Französisch als Deutsch sprach); George Washington baute die U.S. Army mit Ausländern auf (schon mal von Friedrich Wilhelm Steuben gehört, liebe deutsche Leser?); und selbst die chinesische "Volksbefreiungsarmee" wurde von sowjet-russischen Instrukteuren aus der Roten Armee aufgebaut. Warum hätte es anderswo anders sein sollen? Auch in Japan machte man sich - gut zweieinhalb Jahrhunderte nach Peter dem Großen - daran, alte Zöpfe abzuschneiden, und auch da dachte man an Hilfe von außerhalb: In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts galt die französische Armée als die beste der Welt, in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts die deutsche. Was lag also für die Japaner der Meiji-Restauration näher, als sich ein paar gute Offiziere aus Frankreich kommen zu lassen? Und was lag für die Bolivianer - die noch immer nach Rache für den verlorenen Salpeter-Krieg dürsteten - näher, als sich ein paar gute Offiziere aus Deutschland kommen zu lassen? Beginnen wir bei letzteren. Der ehemalige Hauptmann der königlich bayrischen Armee, Ernst Röhm, hatte nach Kriegsende das Glück, von der Reichswehr der "Weimarer Republik" - einer Spielzeug-, pardon Berufsarmee von 100.000 Mann, welche die Alliierten den Deutschen 1919 großzügig zugestanden hatten - übernommen zu werden. In ihrem (natürlich inoffiziellen) Auftrag baute er in Bayern Bürgerwehren (damals sagt man noch "Einwohnerwehren") und andere paramilitärische Verbände auf: den "Deutschen Kampfbund", die "Reichskriegsflagge" und den "Frontbann". Außerdem half er "Gleichgesinnten" beim Aufbau ähnlicher Einrichtungen, so auch der NSDAP, deren Führer, einen gewisser Adolf Hitler, er besonders protegierte. (Ja, liebe Leser, so war das, auch wenn das nach 1934 tot geschwiegen wurde.) Doch nach dem mißglückten Marsch auf Edo, pardon München wird Röhm, der daran teilgenommen hat, aus der Reichswehr entlassen, vor Gericht gestellt und verurteilt - auf Bewährung. (Das Wahlvolk ist von dieser seiner Heldentat so begeistert, daß er nach den nächsten Parlamentswahlen in den Reichstag einzieht.) Dann widmet er sich wieder den "Soldaten" der NSDAP, die er in "Sturmabteilungen [SA]" organisiert. Darüber verkracht er sich mit Hitler, dem das Auftreten der SA-Männer allmählich zu rabaukenhaft wird (wie war das: "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß!"); und als die bolivianische Regierung davon Wind bekommt, flattert ihm ein Schreiben ins Haus, ob er nicht statt dessen lieber die bolivianische Armee aufbauen wolle. Röhm will.

Die so genannten "Opium-Kriege" gegen China waren zwar hauptsächlich auf Englands Mist gewachsen, aber das heißt nicht, daß sich nicht auch andere europäische Mächte daran beteiligt hätten - schließlich wollte jeder ein Stück vom Kuchen abhaben. Einer dieser jemands hieß Napoléon, seines Zeichens Kaiser von Frankreich. Er hatte eine Besatzungstruppe nach China geschickt; aber nun wird die blöderweise nicht mehr gebraucht, und ihr schönes Potential liegt brach. Da trifft es sich gut, daß die Japaner nach dem Diktat-Frieden von Shimonoseki angekrochen kommen und in Paris um die Entsendung einiger tüchtiger, fernost-erfahrener Militär-Instrukteure bitten. Napoléon schickt ihnen prompt 15 Officiere, 10 Sergeanten und 2 Poilus (als Stiefelputzer - auch das will gelernt sein :-). [Auf dem Foto oben seht Ihr natürlich nur die Herren Officiere.] Einer von ihnen ist der Premier-Lieutenant der berittenen Garde-Artillerie Jules Brunet, dessen Carriere sich irgendwie festgefahren hatte, obwohl er im mexikanischen Krieg tapfer - aber glücklos - kämpfte: fast 30, und immer noch nicht zum Capitain befördert. Aber jetzt wird er es endlich.
(...)
Habt Ihr Euch mal Gedanken gemacht, liebe Leser, wo und bei wem die Loyalität solcher "Militär-Instrukteure" liegen könnte/sollte/müßte? Was vermutet Ihr?
(...)

Dikigoros hat ein anderes Kapitel seiner "Reisen durch die Vergangenheit" den großen Verrätern des 20. Jahrhunderts gewidmet; aber wenn Ihr genau hin schaut, dann steht das ganze dort stets im Zusammenhang - wie könnte es anders sein bei Dikigoros - mit einer Reise, genauer gesagt einer Auslandsreise, entweder des Verräters oder der Verratenen. Deshalb fallen Mutsuhito, der spätere Tennō Meiji (der ja ohnehin ins 19. Jahrhundert gehört), und der Führer des "Dritten Reichs" durch jenes Raster, denn sie haben Japan bzw. Deutschland nie verlassen. (Nein, liebe Besserwisser, das "Reichskommissariat Ukraine", in dem vorübergehend das Führer-Hauptquartier lag, war in diesem Sinne kein "Ausland"!) Sie ließen reisen. Und sie schickten diejenigen auf die letzte Reise, denen sie am meisten verdankten...
Oh, da hat Dikigoros ja ganz anders herum gedacht als Edward Zwick. Ja, seht Ihr, liebe Leser, die Ihr den Spruch "Meine Ehre heißt Treue" nicht mehr kennt, zu einem Treueverhältnis gehören immer zwei Seiten, denn es beruht auf Wechselseitigkeit (nein, nicht auf Gegenseitigkeit - wenn die Beteiligten gegeneinander stehen, ist es schon keine Treue mehr); und wenn die nicht mehr gegeben ist, darf sich der Auftraggeber nicht wundern, wenn der Auftragnehmer die Seiten wechselt.
(...)
Aber Dikigoros hat in Gedanken vorgegriffen; kommen wir zurück zur Chronologie.

Neun Jahre und zwei Monate nach dem mißglückten Marsch auf München, einer Zeit, die angefüllt war mit bürgerkriegsähnlichen Straßenschlachten und "Wahl"-Kämpfen, gelingt den Nazis die Machtergreifung doch noch, sogar legal, ohne Blutvergießen. Das ganze Volk erwartet nun, daß die Revolutionäre das Programm durchziehen werden, unter dem sie angetreten sind: Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Gleichschaltung durch Abschaffung der Länder und Einteilung des Reichs in Gaue, Gleichberechtigung aller Volksgenossen vor dem Gesetz (die noch längst nicht erreicht ist, obwohl die Adelsprivilegien theoretisch schon seit 1919 aufgehoben sind), staatliche Lenkung der Wirtschaft, Wiederaufrüstung und dann Vertreibung der alliierten Besatzer. (Nun ja, eigentlich sind sie ja schon so gut wie weg; die Franzosen haben jedenfalls das Rheinland geräumt; aber die deutschen Soldaten dürfen noch nicht wieder hinein; und das Saarland ist noch immer französische Besatzungszone.) Nun ist das alles nicht so einfach. Gewiß, wenn der Staat massiv in die Wirtschaft eingreift, kann die so genannte "Öffentliche Hand" die Arbeitslosen mit Staatsaufträgen schon eine Zeit lang von der Straße weg bekommen - oder vielmehr auf die Straße, genauer gesagt auf die Autobahn, denn was heute ein paar moderne Maschinen machen, dazu mußten damals viele Arbeiter den Spaten in die Hand nehmen. Das mit der Gleichschaltung der Länder, der Gaueinteilung und der Gleichheit aller Volksgenossen (und der Ungleichheit der Nicht-Volksgenossen) ist eine Frage von Gesetzen, die man zu Papier bringt, das bekanntlich geduldig ist. Aber dann wird es schon schwieriger: Wie und mit wem soll man denn nun aufrüsten, und was? Eigentlich ist die Reichswehr eine zwar kleine, aber feine Truppe - von überwiegend adeligen Offizieren geführt, die noch aus dem Kaiserreich stammen. Soll man um diese Kerntruppe herum eine neue Wehrmacht aufbauen, mit Wehrpflichtigen? Oder entspricht es der Idee des nationalen Sozialismus nicht eher, statt dessen die Freiwilligenverbände der SA und SS als bewaffnete Macht aufzubauen, oder sie gleich geschlossen in die Reichswehr zu übernehmen? Das ist nicht nur eine Frage, was besser geeignet ist, die alliierten Besatzer los zu werden, sondern auch eine Gewissensfrage - oder sollte es jedenfalls sein.

Neun Jahre und zwei Monate nach dem geglückten Marsch auf Edo, einer Zeit, die angefüllt war mit bürgerkriegsähnlichen Kämpfen... Moment mal, wieso denn das?
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Ihr dürft Euch Saigō Takamori nicht vorstellen wie Kensaku Watanabe, liebe westliche Kinogänger. Keinem Japaner würde das einfallen (weshalb der Film eben nur im Westen geeignet ist, "prägend" zu wirken), denn sein Denkmal steht ja überall herum, vor allem im Ueno-Park von Tōkyō. Er war eher gebaut - selbst diese äußerliche Parallele stimmt - wie Ernst Röhm. Wer Dikigoros kennt, weiß, daß er Vorbehalte gegenüber Leuten wie dem letzteren hat, denn er liebt die Schwulen nicht (wo kämen wir da hin? :-). Ja, klein, fett und häßlich war Röhm auch. Das muß aber nicht heißen, daß er deshalb unfähig war, irgend etwas zu leisten, auch wenn Leute, die wie Dikigoros groß und schlank sind, zu diesem Vorurteil neigen. Kleine, dicke Menschen mögen zwar Minderwertigkeitskomplexe haben, aber gerade um diese zu kompensieren, entwickeln sie oft den Ehrgeiz, etwas besonderes zu leisten, und wie die Geschichte von Caesar bis Napoleon zeigt, ist ihnen das auch manches Mal gelungen, im Guten wie (noch öfter) im Bösen. Ihr, liebe jüngeren Leser, die Ihr mit der Geschichte der Könige und Feldherren weniger am Hut habt, weil für Euch König Fußball das Maß aller Dinge ist, schaut sie Euch doch mal an, Eure Feldherren des grünen Rasens, die Regisseure (auch dieses Wort kommt übrigens von Rex, König!) und Spiel-Führer, die nicht nur ein Spiel lenkten, sondern auch noch eigenfüßig die entscheidenden Tore schossen: Puskas, Seeler, Haller, Maradona... Waren die etwa groß und schlank? Eben nicht... in einen Eliteverband wie die SS wären die nie aufgenommen worden - wohl aber in die SA, denn die nahm jeden, auch wenn er klein, dick, dumm und früher Kommunist gewesen war, wenn er nur brav mit marschierte und "Die Fahne hoch" mit sang. Aber wie dem auch sei, weder die Dickleibigkeit noch die homosexuellen Neigungen Röhms waren die Gründe, aus denen Hitler ihn 1934 in der "Nacht der langen Messer" beseitigen ließ, sondern weil er nicht mehr und nicht weniger plante als das, was Saigō Takamori ein knappes halbes Jahrhundert auch versucht hatte - allerdings mit umgekehrten Vorzeichen.

Dikigoros' Großvater kannte Röhm persönlich. Nein, nicht als gleichgestellter "Bekannter", sondern mit dem gebührenden, respektvollen Abstand, wie es einem kleinen Gefreiten gegenüber einem großen Hauptmann des Weltkriegs gebührte. Bevor Röhm 1928 als Militär-Instrukteur nach Bolivien ging, bot er Urs an, mitzukommen, als Unteroffizier. Das war schon was, womöglich wäre er eines Tages sogar Feldwebel geworden! Er fing bereits an, fleißig Spanisch zu lernen; aber dann machte ihm der Arzt einen Strich durch die Rechnung: Für seine von Tbc geschwächte Lunge wäre das Klima in Bolivien Gift gewesen. Also blieb er in Deutschland und malochte weiter in der Fabrik. (Nein, "... und nährte sich redlich" kann man diesen Satz nicht fortsetzen; denn Urs mühte sich zwar redlich, aber der Lohn reichte kaum, um satt zu werden; auf den wenigen alten Fotos sieht er immer aus, als würde er gleich zusammen klappen, in den schlotternden Klamotten, die für seinen ausgemergelten Körper viel zu weit sind. Wie schrieb der Dichter: "Viel Arbeit gab's und wenig Brot...", oder so ähnlich. Das war fast wie heute: Arbeit gibt es genug - es will sie nur niemand ordentlich bezahlen, zumal man sie doch prima in die Dritte Welt verlagern kann, wo die Leute für Hungerlöhne arbeiten im wahrsten Sinne des Wortes. Aber wenn die dort [ver]hungern, sieht es hier ja zum Glück niemand.) Was blieb ihm anders übrig? Immer noch besser als arbeitslos, wie so viele andere damals, in der Systemzeit, pardon in den "goldenen" 20er Jahren (die freilich auch schon vor dem großen Börsenkrach in New York nur für Kriegsgewinnler, Schieber, Spekulanten, Zuhälter und andere halbseidene "Demokraten" wirklich "golden" waren), denn die Stütze wäre noch weniger gewesen - wenigstens etwas, das anders war als heute... Als Röhm ein paar Jahre später heim ins Reich kam und, als der Tag für Freiheit und für Brot angebrochen war, ein hohes Tier wurde, hatte er den hustenden kleinen Gefreiten aus Hamburg, den er mal bei einem Veteranentreffen kennen gelernt hatte, längst vergessen.

Wie hoch war dieses Tier wirklich? "Oberster Stabschef der SA" nannte er sich; und auf ihn traf genau das zu, was Hitler immer von sich selber behauptete: "Millionen stehen hinter mir." Hinter Hitler mögen Millionen Wähler gestanden haben (und natürlich die Millionen von Krupp und Thyssen - aber das ist eine andere Geschichte); doch hinter Röhm standen im Juni 1934 knapp vier Millionen mehr oder (meist) weniger gut bewaffneter Gefolgsleute in paramilitärischen Einheiten - seit der Machtergreifung vom Januar 1933 hatte sich ihre Zahl fast verzehnfacht. Die Reichswehr dagegen war vor Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht 1935 ein - auch nicht viel besser bewaffnetes - 100.000-Mann-Heer und eine 15.000-Mann-Marine - hatte also in etwa den Umfang des japanischen Lehensritter-Aufgebots vor der Meiji-Machtergreifung.

Wohlgemerkt, liebe Leser, es geht hier nicht um die Frage, ob Saigo und Röhm geputscht bzw. die Absicht zu putschen gehabt haben - natürlich haben sie -, sondern um etwas viel grundsätzlicheres, nämlich: Hatten die beiden ein moralisches Recht, das zu tun, mit anderen Worten: War das, was sie taten, ein Verrat an ihren Führern, oder hatten zuvor ihre Führer die Ideen verraten, für die sie einst gemeinsam angetreten waren? (Auch das ist eigentlich noch nicht alles; denn wenn man letzteres bejaht, muß man anschließend noch fragen: Waren diese Ideen noch richtig und zeitgemäß, oder bestand nicht die Notwendigkeit sie zu ändern - und wem stand die Entscheidung darüber zu?) Im Falle Röhms wird diese Frage noch dadurch besonders pikant, daß die SA bereits 1930 und 1931 unter ihrem damaligen Führer Walther Stennes - einem ausgemachten Rabauken - gegen Hitler zu putschen versucht hatte; nachdem Hitler diesen Putsch mit Hilfe der SS (und der regulären Polizei der Weimarer Republik! :-) nieder geschlagen hatte, holte er Röhm aus Bolivien zurück und machte ihn zum neuen "Stabschef" der SA, gerade damit es dort wieder etwas gesitteter zuginge. (Damit war nicht die moralische "Sitte" gemeint - Hitler wußte längst, daß Röhm schwul war; seine spätere Empörung darob war gespielt und nur ein Vorwand für dessen Beseitigung.)

Warum der "letzte" Samurai, wenn doch die Söhne ihren Frieden mit dem Regime machten und de facto die Nachfolge derjenigen Positionen übernahmen, die einst ihre Väter inne gehabt hatten (Offiziere, höhere Beamte usw.)? Weil sie umbenannt wurden, in "Shizoku". Dikigoros liegt der Satz auf der Zunge, daß die Japaner eine besondere Neigung haben, Personen und Dinge, die irgendwem nicht mehr passen, die sie aber trotzdem beizubehalten wünschen, einfach umbenennen (wie "Banjin" in "Gaijin" :-), aber da er hier die Parallelen so sehr strapaziert hat, würde ihm das wahrscheinlich einen biestigen Kommentar eintragen, nach dem Motto: Wie haben sich denn die 80 Millionen "Nazis", die ausweislich aller Wahlergebnisse hinter Hitler - und folglich auch der Beseitigung Röhms - standen, nach dem Krieg genannt? Eben: (freie, Christ-, oder Sozial)-"Demokraten"!
(Fortsetzungen folgen)

* * * * *

Die Bearbeitung dieser Seite stockt seit einiger Zeit; das liegt daran, daß jemand, der Dikigoros' Seiten mit Verstand und Überblick liest, d.h. der sich nicht mit Kleinigkeiten aufhält (wiewohl Dikigoros für jeden Hinweis auch auf kleinere Irrtümer und sogar Schreibfehler dankbar ist - er will hier niemanden entmutigen :-), sondern den Blick für das große Ganze bewahrt, ihm gemailt hat, daß er mit seinen Parallelen hier schief liegt. (Dem selben Leser verdankt Dikigoros bereits eine verbesserte Parallelen-Ziehung in Welchen Frieden bringt das Meer? und in Von der Newa zum Hudson - man kann also nicht behaupten, daß er rein destruktiv arbeite :-) Gewiß, beide Male wurde ein ursprünglich getreuer Gefolgsmann seines "Führers" von letzterem beseitigt worden, da er ihm im Wege stand, aber das waren doch ganz andere, geradezu entgegen gesetzte Wege: In Japan wurden die konservativen Gegner des allzu radikalen Fortschritts beseitigt; in Deutschland wurde jemand, der gerade diesen radikalen Fortschritt wollte, ausgeschaltet, weil sein Chef die "Revolution" plötzlich für beendet erklärte und sich mit den Konservativen arrangiert hatte. (Wobei man allenfalls fragen könnte, ob es nicht sowohl für Japan als auch für Deutschland besser gewesen wäre, wenn die jeweils andere Seite sich durchgesetzt hätte, aber das ist müßig :-) Röhms Schicksal weise vielmehr Parallelen zu ganz anderen zeitgenössischen Personen auf - was Dikigoros doch wissen müsse, da er auch ihnen eigene, wenngleich nicht besonders tief schürfende Webseiten gewidmet habe, nämlich Valera und Begin: Sie alle hätten ein Hauptverdienst an der "Wiedergeburt" bzw. am "Wiedererwachen" ihrer Staaten gehabt, seien aber dann ausgerechnet von denjenigen Leuten, die sie in den Sattel hoben, verraten und kriminalisiert worden, um gewisse lauwarme Kompromisse nicht zu gefährden... Aber als Dikigoros meinte, dann könne man die Parallelen ja dahin gehend erweitern, ernüchterte ihn der Leser mit dem Hinweis, daß ausgerechnet Röhm nicht in diese Reihe passe; denn sowohl Valera als auch Begin wurden ja am Ende ihres Lebens rehabilitiert (ebenso wie die meisten überlebenden Samurai in Japan) und rückten sogar bis an die Spitze ihrer Staaten auf; Röhm dagegen wurde liquidiert. Und nun sitzt Dikigoros vor den Scherben seines ursprünglichen Konzepts und fragt sich, ob er das nicht auch liquidieren soll; vielleicht mailt ihm mal jemand mit einer guten Idee.


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