QUO VADIS KAISER N E R O ?

 

Die Rehabilitation des Nero Caesar

und der Stoischen Philosophie

 

T E I L 2

 

XII. Kapitel

Das Jahr 60 u. Zr.

Zum ersten Jahrestag des Todes der Kaiserinmutter Agrippina, während des Frühlingsfestes der Minerva, wurden mehrtägige Spiele zum Andenken der Agrippina abgehalten, wie Cassius Dio berichtet. Ob diese Spiele in Rom oder eventuell in Antium oder Puteoli oder gar in Neapel stattfanden, ist nicht überliefert. Denkbar wäre, daß Nero die Spiele nicht in Rom, sondern in den campanischen Städten gab.

Am 12. Oktober, zum Fest der Augustalien, es waren bereits sechs Jahre vergangen, seit Nero das Prinzipat übernahm, wurden die sogenannten "Neronischen Spiele" eingeführt, die von nun an alle fünf Jahre stattfinden sollten. Möglicherweise wurden die "Augustalien" in "Neronien" umgetauft?

Die ersten "Neronien" hätten bereits im Jahre 59 u. Zr. stattfinden müssen. Möglicherweise wurden sie aber wegen des Todes der Kaiserinmutter Agrippina ins nächste Jahr verschoben.

Diese Spiele wurden nach den Regeln des griechischen Kampfspiels geführt. Tacitus betont, daß dies "Schauspiel" (gemeint ist: dieser Wettkampf) ohne besondere Unanständigkeiten vorüberging. Ich frage, was Tacitus oder die antiken Propagandisten mit "Unanständigkeiten" gemeint haben könnten? Höchstwahrscheinlich ist die Schauspielkunst damit gemeint, denn Tacitus fährt fort: "... weil die Schauspieler, obwohl der Bühne zurückgegeben, von den heiligen [gymnastischen] Wettkämpfen [diesmal noch] entfernt blieben".

Bereits im Vorjahr wurde der Grundstein zum Bau eines riesigen Amphietheaters (des Colosseums?) gelegt. Mehr als diese dürftigen Informationen über das Jahr 60 u. Zr. können uns die drei antiken "Historiker" leider nicht bieten.

 

XIII. Kapitel

Das Jahr 61 u. Zr.

In diesem Jahr brach in Britannien der berühmt berüchtigte Volksaufstand gegen das Joch der Römerherrschaft los. Angeblich war der Philosoph Annaeus Seneca mitschuldig daran, weil er als "Geldverleiher" das Volk mit Wucherzinsen hart bedrückte und damit zum Aufstand herausforderte. Nicht der Philosoph Seneca, sondern sein Bruder Mela war ein Bankier. Ich glaube nicht, daß dieser so unvorsichtig war, an einfache Bauern Geld zu verleihen. Zu was braucht ein Bauer und Landarbeiter Geld? Geld kann man bekanntlich nicht essen.

Zwei große innerstädtische Ereignisse erzählt Tacitus, bzw. der anonyme Verfälscher seiner Werke, wiederum mit größter Ausführlichkeit. Das erste ist derartig mit Frauenfeindlichkeit und Diskriminierung des weiblichen Geschlechts durchsetzt, daß ich es übergehe.

Das zweite und wichtigere Ereignis, das in Rom hohe Wellen der Emotionen schlug, war die Ermordung des Stadtpräfekten Pedanius Secundus durch seinen - Sklaven. Ein Sklave, ein Nichts, hatte sich an einem Herrenleben vergriffen.

"Nach alter Sitte" mußte die ganze Sklavenschaft, die unter dem Dache des Stadtpräfekten lebte, die Tat mit dem Leben büßen. Nun entzündete sich die gesellschaftspolitische Frage, ob auch die Freigelassenen unter die Todesstrafe fallen sollten.

Im Senat wurde über diesen Präzedensfall heftig debattiert. Möglicherweise, ich unterstelle sogar wahrscheinlicherweise, war der Senator Cingonius Varro, der beantragte, die Freigelassenen nicht zum Tode zu verurteilen, ein heimlicher oder offener Parteigänger Kaiser Neros. Tatsächlich blieben die Freigelassenen des ermordeten Stadtpräfekten von der Todesstrafe verschont, jedoch der Senat verurteilte sie zur Verbannung aus Italien.

Als man die verurteilten Sklaven und Sklavinnen, samt ihrer Kinder, zur Hinrichtung abführen wollte, kam es in Rom zu einem Volksaufstand. Die empörte Menge verhinderte, daß die zum Tode Verurteilten zur Hinrichtungsstätte vor die Stadtmauern Roms geführt werden konnten.

Nun war eine Entscheidung des Kaisers unausweichlich. Gewiß eine unpopuläre und schwere Entscheidung. Er konnte jedoch das Senatsurteil nicht völlig aufheben. Für die Sklaven, die unterste Gesellschaftsklasse, gab es (nach Tacitus) wohl keine Rettung. Jedoch das Urteil der Verbannung für die Freigelassenen hob Nero auf. Sie waren eine Gesellschaftsklasse, auf die sich die römischen Caesaren im Großen und Ganzen immer verlassen konnten und die unentbehrlich für die Ausübung des Prinzipats waren.

 

XIV. Kapitel

Das Jahr 62 u. Zr.

In diesem Jahr starb der Prätorianerpräfekt Burrus, ein getreuer römischer Heerführer und Gefolgsmann Kaiser Neros und seiner Mutter Agrippina.

Keine Gelegenheit wurde von dem oder den antiken Propagandisten ausgelassen, um Nero Caesar mit Schmutz zu bewerfen. Da Burrus an einem allmählichen Zuschwellen des Halses litt und dadurch bedingt einen langsamen Erstickungstod starb, unterstellten sie Nero, daß er den Ärzten den Befehl gegeben habe, seinen Gaumen und seine Luftröhre mit "schädlicher Arznei", das heißt mit Gift, zu bestreichen. In Wahrheit mag die Arznei der antiken Ärzte dazu beigetragen haben, das Anschwellen des Halses zeitweilig zu vermindern, was dem alten Getreuen ganz im Gegenteil ermöglichte, ein paar Wochen oder gar Monate länger zu leben.

Diese so machtvolle Position eines Prätorianerpräfekten, die der bewährte Vertraute in seinen alleinigen Händen hielt, teilte Nero nun auf zwei Präfekten auf.

Ofonius Tigellinus erhielt das Kommando über die Sicherheitspolizei, sozusagen der "Geheimdienst" und der "Polizeiapparat" des Römischen Reiches. Faenius Rufus erhielt das Kommando über die reine "Wehrmacht" und über das Prätorianerheer, das in einer Kaserne vor den Toren der Stadt Rom stand.

Wie sich später herausstellte war dies eine kluge und richtige Entscheidung Neros.

Es ist ganz einfach nicht wahr, daß (nach Tacitus) Burrus' Tod Senecas Macht "brach". Ich möchte dem alten Philosophen gewünscht haben, daß er sich, wie früher die Kaiserinmutter Agrippina, von der direkten Regierungsverantwortung in eine mehr beratende Tätigkeit zurückziehen konnte. Senecas Lebensaufgabe war noch lange nicht abgeschlossen. Erst mit seinem Tode oder mit dem vorzeitigen Lebensende seines "Schülers" Nero wäre seine Aufgabe zwangsläufig zu Ende gewesen. Dessen war sich der Stoiker Annaeus Seneca absolut bewußt.

Tacitus erwähnt daher in dem angeblichen Gespräch zwischen Kaiser Nero und Seneca auch nur, daß Seneca den Kaiser bat, ihm seine materiellen Reichtümer zu nehmen. Wahrscheinlich wußten die antiken Propagandisten nichts von dem wirklichen Reichtum des Philosophen Annaeus Seneca. Möglicherweise verwechselten sie wieder einmal (mit Absicht) den Philosophen Seneca mit dem "Geldverleiher" Mela, seinem Bruder.

Das Gespräch Senecas mit Kaiser Nero, das Tacitus überliefert hat, ist nach meiner Überzeugung echt. Möglicherweise wurde es von der kaiserlichen Administration schriftlich in Umlauf gesetzt, um jeder Fumusbildung vorzubeugen.

Seneca sprach zu Kaiser Nero: "Es ist das vierzehnte Jahr, Caesar, seit ich deiner hoffnungsvollen Jugend zur Seite gestellt bin, das achte, daß du die Regierung in Händen hast. Im Laufe dieser Zeit hast du soviel Ehren und Reichtümer auf mich gehäuft, daß nichts mehr zu meinem Glück fehlt, als maßvolle Zurückhaltung zu üben. Ich will dafür bedeutende Beispiele nennen, nicht von meinem, sondern von deinem Range. Dein Urgroßvater Augustus gestattete dem Marcus Agrippa in Mytilene zurückgezogen zu leben, dem Gaius Maecenas mitten in Rom gleichsam die Muße einer fremden Stadt. Beide hatten, der eine als sein Gefährte in Kriegen, der andere zu Rom mit vielerlei Geschäften geplagt, ahnsehnliche und doch nur große Verdienste vergeltende Belohnungen empfangen. Ich aber, was konnte ich anderes als Gegengabe für deine Großzügigkeit bieten als mein wissenschaftliches [philosophisches] Bemühen, das sozusagen in deinem Schatten heranwachsen durfte und nur durch dich zu Glanz gekommen ist, weil ich zur ersten Bildung deiner Jugend mitgewirkt zu haben scheine, und das trägt seinen hohen Lohn in sich selber. Du hast mich mit überschwenglicher Gunst und unermeßlichem Reichtum überschüttet, so daß mir recht oft die Gedanken durch die Seele gehen: Wie? Ich, im Ritterstande und in der Provinz geboren, werde den Großen des Staates beigezählt? Unter dem Adel, der mit langer Ahnenreihe glänzt, erhob sich mein jüngst gewonnener Glanz? Wo bleibt da der gepriesene maßvoll bescheidene Sinn? Ist er es, der solche Gärten anlegte, der durch diese Villen in der Umgebung Roms wandelt, der auf ausgedehnten Ländereien durch reichen Ertrag im Überfluß schwelgt? Nur eine Entschuldigung bietet sich an, daß ich nämlich deine Geschenke nicht zurückweisen durfte.

Aber beide haben wir das Maß erfüllt, du in dem, wieviel ein Herrscher dem Freund geben, ich in dem, wieviel ein Freund vom Herrscher annehmen kann. Was darüber hinausgeht, vermehrt nur den Neid, der zwar, wie alles Sterbliche, unter deiner Größe liegt, aber mich belastet; mir muß geholfen werden ..."

 

Was war wohl der wirkliche Grund für Senecas Rückzug aus dem "öffentlichen Leben", aus der römischen Staatspolitik? Die Antwort finden Sie in seinem Werk:

>Über die Kürze des Lebens - An Paulinus<

 

Die Ehe zwischen Kaiser Nero und der Kaiserin Octavia ging bereits ins neunte Jahr. Dieser Ehe hätte nichts auf der Welt etwas zu schaden vermocht, hätte die Tochter des Kaisers Claudius ihrem Ehemann Nero einen Thronfolger schenken können. Jedoch - Octavia blieb kinderlos.

Poppaea Sabina, die Geliebte Neros, merkte im Sommer des Jahres 62 u. Zr., daß sie von ihrem kaiserlichen Liebhaber schwanger war. Wenn Nero einen legitimen Thronfolger, einen Kronprinzen, ja auch nur eine Tochter, wie Kaiser Augustus oder wie Claudius, haben wollte, die Möglichkeit dazu schien durch Poppaeas Schwangerschaft greifbar nahe, so mußte schnell gehandelt werden.

Kaiser Neros Entschluß stand fest: Für die Sicherung seines Pricipats und damit auch für sein politisches Programm der "Wiederkehr des goldenen Zeitalters" für die Menschheit, war ein legitimer Thronfolger, zumindest ein leibliches Kind unabdingbar.

Kaiserin Octavia beugte sich dieser staatspolitischen Notwendigkeit. Wenn sie an der Gerechtigkeitspolitik ihres Ehemannes Gefallen gefunden hatte, so kann sie ihn wegen dieses Entschlusses kaum oder nur ein wenig gehaßt haben. Octavia verzichtete auf die Macht und auch auf den äußeren Glanz einer "Augusta" und trat von der Kaiserbühne ab. Sie zog nach Puteoli, wo sie ohne Furcht vor Attentätern leben konnte. An Reichtum und Luxus übertraf sie möglicherweise sogar ihre Nachfolgerin im "Amt" der Augusta. Wie die weiteren Ereignisse noch zeigen werden, hatte Octavia von den "Unsterblichen" sogar ein besseres Los zum Schicksal erhalten als Poppaea Sabina.

Wiederum "zwischen den Zeilen" der Annalen des Tacitus können wir herauslesen, daß es in Rom wegen der offensichtlich so plötzlichen und überstürzten Scheidung Neros von Kaiserin Octavia zu Tumulten und öffentlichen Demonstrationen kam. Die kaum erst aufgestellten Standbilder der neuen Augusta, Poppaea Sabina, wurden mancherorts gleich wieder umgestoßen und man forderte lautstark, daß die frühere Kaiserin, die Tochter des Claudius', nach Rom zurückkehren solle.

Um die Volksempörung zu besänftigen, ließ Nero seine frühere Ehefrau bitten, für einige Zeit ihren herrlichen Landsitz zu verlassen, um in den Moloch Rom zurückzukehren. Nur so lange natürlich, bis der Volkszorn "verraucht" wäre. Octavia verweigerte sich nicht. Das Volk konnte sehen, daß es ihr gut gehe, das Gerücht über eine drohende Lebensgefahr der früheren Augusta hatte sich (wiederum) als "fumus" erwiesen. Der Pöbel jubelte ihr noch einmal begeistert zu. Man redete noch einige Tage über das bedauernswerte Schicksal der unglücklichen Kaiserin Octavia, die dem Kaiser Nero keine Kinder schenken konnte, dann war sie - vergessen. Octavia kehrte in ihre neue Residenz nach Puteoli zurück. Sie überlebte alle politische Stürme der folgenden Jahre, zumindest während des Neronischen Prinzipats.

Der "fumus" der antiken Propagandisten von Octavias Verstoßung, von ihrer Rückkehr nach Rom, von ihrer anschließenden Verurteilung, Verbannung und angeblichen Ermordung auf der Insel Pandateria, ist und bleibt "fumus", weil Octavia, die Tochter der Messalina, gar nicht Neros Ehefrau war. Außerdem gehören diese Ereignisse, die die jüngere Octavia, die Tochter der Messalina, betreffen, höchstwahrscheinlich in den Zusammenhang mit der Pisonischen Verschwörung des Jahres 65 u. Zr., wo ich, nach der chronologischen Reihenfolge, erneut darauf eingehen werde.

 

XV. Kapitel

Das Jahr 63 u. Zr.

Im Januar kam die Augusta Poppaea Sabina in Antium nieder, wo auch Kaiser Nero geboren war. Poppaea schenkte einem Mädchen das Leben und sie erhielt den Namen Claudia.

Aus den in Stein gemeißelten "Akten" der Arvalbruderschaft sind die Daten der kurzen Vaterfreuden Neros zu ersehen:

Am 21. Januar des Jahres 63 u. Zr. wurden von den Arvalbrüdern die Gelübde erfüllt, bzw. die Opfer dargebracht, die den Göttern für die glückliche Niederkunft und Unversehrtheit der Augusta Poppaea Sabina versprochen worden waren.

Am 10. April des selben Jahres opferten die Arvalbrüder "nomine immolavit in Capitolio A. Vitellius ob adventum Neronis [...] et Poppaeae Augustae et Claudiae Augustae".

Neros Ehefrau und Tochter werden weiter unten als "iunoni" bezeichnet. "Iunoni Poppaeae Augustae vaccam, Iunoni Claudiae Augustae vaccam."

"Iuno" ist das weibliche Gegenstück zu "Genius". Der "Glücksgöttin" der Poppaea und derjenigen der kleinen Claudia, Poppaeas und Neros Tochter, wurden von den Arvalbrüdern Opfer gebracht.

Erst im Jahre 66 finden wir in den (uns erhaltenen) steinernen Akten der Arvalbruderschaft für Neros Tochter Claudia und für seine Ehefrau Poppaea die Bezeichnung "divae", was ihre Vergöttlichung bedeutet. Kaiserin Poppaea starb im Herbst des Jahres 65 u. Zr., wann Poppaeas und Neros Tochter Claudia starb ist ungewiß; nach Tacitus bereits im vierten Lebensmonat, im Mai des Jahres 63.

 

XVI. Kapitel

Das Jahr 64 u. Zr.

Tacitus berichtet, Kaiser Nero sei von diesem Jahr an von "heftiger Begierde" ergriffen worden, alle Bühnen zu betreten. Früher habe der Kaiser nur im Palast und im Park zur Kithara gesungen, demnach in kleinen, ausgesuchten Kreisen. Im Jahre 64 u. Zr. trat er erstmals vor dem Volke auf.

Nero wagte nicht, so Tacitus, zuerst in Rom aufzutreten, sondern er machte in der Campania, möglicherweise in Neapel, den Anfang. In der Stadt lebte eine große Kolonie von Griechen, denen die griechische Schauspielkunst und das Kitharaspiel nicht unbekannt waren.

Dies ist der rechte Zeitpunkt, um Sie, liebe Leser, mit den künstlerischen Ambitionen des Kaisers Nero bekannt zu machen.

Außer in den Wissenschaften wurde Nero auch in den Künsten ausgebildet, wie es einem zukünftigen Princeps gebührte. Die Musik, das Kitharaspiel, besaß jedoch unzweifelhaft sein Hauptinteresse. Verständlich ist es daher, daß er nach seiner Thronübernahme den oder die bedeutendsten Kitharaspieler seiner Zeit, Sueton erwähnt nur einen, Terpnus, zu sich an der Hof rief. Dieser bildete Nero weiter in der Kunst des Kitharaspiels aus.

Außerdem malte, meißelte und dichtete Nero. Die sogenannten >Hirtengedichte aus Neronischer Zeit< und die >Einsiedler - Gedichte< entstanden während seines Prinzipats. Sie sind von Dichtern verfaßt, die möglicherweise in Neros unmittelbarer Umgebung lebten und arbeiteten. Die folgenden Eklogen sind unverhüllte dichterische Bekenntnisse für Kaiser Neros Herrschertugenden. Schade, daß die Blicke einiger Herausgeber dieser Hirtengedichte von den Lügen der antiken Propagandisten über Leben und Prinzipat Neros getrübt waren. Wie hätte man sonst derartige Lobeshymnen auf Kaiser Nero verkennen können:

(Lesen Sie dazu: >Hirtengedichte aus neronischer Zeit<, herausgegeben und übersetzt von Dietmar Korzeniewski, erschienen bei Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.)

Zum Inhalt der Gedichte: Die Sorge vor der Zukunft stört die Freude des Mystes. Das goldene Zeitalter der Menschheit ist mit Neros Prinzipat ja bereits wiedergekehrt, denn: "Törichtes Vieh auch bezeugt dieser Zeit eine goldene Herrschaft" und "schon herrscht dein Apollon - Nero!" ruft Mystes. Jedoch die Putschversuche und Terroranschläge gegen Apollon - Nero sind Zeichen, daß es "böse Mächte" gab, die an republikanischen Freiheiten des Volkes nicht interessiert waren. Vielleicht sind es sogar bereits die Aufstände in Gallien und Spanien, die die Herrschaft des Apollon - Nero bedrohen. Das würde bedeuten, daß das Gedicht im Frühling des Jahres 68 u. Zr. geschrieben wurde.

 

Kaiser Nero plante bereits für das Jahr 64 u. Zr. über Benevent an die Ostküste zu reisen und von da aus mit dem Schiff nach Griechenland überzusetzen. In der Stadt Benevent wurde offensichtlich jedoch eine erneute Verschwörung gegen Nero aufgedeckt. Zum Glück noch vor seiner Abreise.

Torquatus Silanus scheint in die Verschwörung verwickelt gewesen zu sein. Ohne das Urteil des Kaisers abzuwarten, verübte er Selbstmord. Wahrscheinlich um seinen Verwandten das Familienvermögen zu retten.

Nero verzichtete vorläufig auf seine langersehnte "Kunstreise" nach Griechenland und kehrte nach Rom zurück. So lange die Untersuchungen nicht abgeschlossen waren, wäre es mehr als leichtsinnig gewesen abzureisen.

Möglicherweise wegen dieser zweiten Konspiration gegen seine Politik und sein Leben, beschäftigte sich Kaiser Nero in "geheimen Phantasien" mit Ägypten.

Neros Absicht nach Griechenland zu reisen konnte schwerlich geheim bleiben. Die Vorbereitungen dazu waren zu umfangreich. Der "fumus" kursierte daher in Rom, Nero wolle seiner Hauptstadt den Rücken kehren und eine neue Residenz in Griechenland oder Ägypten erbauen lassen. Dies hätte nur auf Kosten Roms und seiner Bevölkerung geschehen können. Wohlstand und Reichtum, die der Kaiser garantierte und vergab, wären einer anderen Stadt und damit anderen Leuten zugeflossen. Um die Zukunftsängste des Volkes von Rom zu beschwichtigen, gab der Polizeipräfekt Tigellinus ein glanzvolles "Sommerfest" für die ganze Stadt.

Wegen der unmenschlichen Sommerhitze zogen viele Bewohner Roms, natürlich nur diejenigen, die es sich finanziell leisten konnten, in die kühleren Berge oder an die See. Kaiser Nero reiste mit der Augusta Poppaea wiederum in die Campania, wo seine Geburtsstadt lag und wo er ausgedehnte Landgüter besaß. In Antium erhielt Nero die Hiobsbotschaft vom Brand der Stadt Rom.

Der verheerende Brand im Sommer des Jahres 64 u. Zr. war wahrscheinlich eine von niemandem herbeigeführte Katastrophe. Rom glühte förmlich in der Sommerhitze. Es kam ein starker und trockenheißer Wind aus Afrika hinzu. Der kleinste Brandherd genügte, um weite Teile der Stadt in Schutt und Asche zu legen. Es war nicht die erste und nicht die letzte Brandkatastrophe, die Rom erlitten und überlebt hatte. Darüber bin ich mit den seriösen und objektiven Nero - Forschern einig. Und ich würde sofort zu den Hilfsmaßnahmen Neros für die betroffene Bevölkerung übergehen, wenn da nicht das Gesetz Kaiser Neros gewesen wäre "gegen das Abreißen von Gebäuden aus Profitgier", zwecks der Verhinderung von "so häßlicher Art von Spekulationsgeschäften".

Das erste Gesetz zur Verhinderung des Abreißens von (historischen?) Gebäuden aus Profitgier stammte aus dem Jahre 47 u. Zr. und wurde von Kaiser Claudius im Senat eingebracht.

Zwei Jahre nach dem Beginn des Neronischen Pricipats erlebte dieses Gesetz eine Novellierung:

[Quelle: >Historische Inschriften zur römischen Kaiserzeit< übersetzt von Dr. Helmut Freis, erschienen in Wissenschaftl. Buchgesellschaft, Darmstadt 1984]

" ... Durch Senatsbeschluß ... am 10. Tag vor den Kalenden des Oktober, auf Veranlassung des vergöttlichten Claudius ergangen, war verfügt worden, keiner solle sein Haus oder ein Landhaus abreißen, um größeren Gewinn für sich zu erzielen, und keiner solle aus Spekulationsabsichten solche Immobilien kaufen oder verkaufen ... Für die Zukunft aber sollen die übrigen daran erinnert werden, sich so häßlicher Art von Spekulationsgeschäften zu enthalten ..."

Der letzte Satz läßt erkennen, daß die Bauspekulanten das Gesetz "gegen das Abreißen von Gebäuden" mit allen Tricks zu umgehen versuchten. Aus diesem Grund wurde das Gesetz auf Veranlassung des vergöttlichten, d. h. bereits verstorbenen Kaiser Claudius noch genauer definiert. Jedoch erst zwei Jahre nach Beginn des Neronischen Prinzipats wurde es im Senat verabschiedet.

Seit dem Jahre 47 u. Zr., bereits 16 Jahre lang, waren den Bauspekulanten die Hände gebunden. Obwohl die Wohnungsnot in Rom immer größer wurde, war es streng verboten, alte und wohl auch historische Gebäude abzureißen und stattdessen mehrstöckige Mietshäuser zu errichten. Offensichtlich war dieses Gesetz eine Präventivmaßnahme, um den Zustrom weiterer Menschenmassen nach Rom unmöglich zu machen, zumindest zu erschweren.

Einzig und allein die "Lobby" der Bauunternehmer und -spekulanten konnte demnach am Untergang eines Teils der alten historischen Stadt einen Vorteil erblicken, während der Kaiser an einem Zuwachs der Bevölkerung gar nicht interessiert sein konnte, da ihm dadurch nur ständig wachsende innenpolitische und finanzielle Probleme entstanden.

Aus diesem Grund wurden wohl auch die Stadtmauern Roms nicht mehr nach außen erweitert. Rom konnte daher nicht mehr in die Breite, sondern nur noch in die Höhe wachsen. Und das Höhenwachstum wurde durch das sogenannte "Spekulationsgesetz" gebremst.

Die Tatsache, daß der Palatin, der Palasthügel der römischen Caesaren, zuerst in Flammen aufging, läßt sogar vermuten, daß dieser Brand in erster Linie ein Racheakt der Bauspekulanten gegen Kaiser Nero war. Das Ausmaß der Brandkatastrophe war jedoch auch von ihnen nicht gewollt.

Nero befand sich bei Ausbruch des Brandes in Antium. Sofort eilte er nach Rom zurück, um die Löscharbeiten und Hilfsmaßnahmen selber zu beaufsichtigen. Der Palast der Caesaren befand sich bei Neros Ankunft wohl bereits in rauchenden Trümmern.

Für die notleidende Bevölkerung ließ er die Bauten des Agrippa, das Marsfeld und seinen eigenen Park öffnen. Um den Obdachlosen Notunterkünfte zu verschaffen, wurden provisorische Unterkünfte errichtet, Bretterhäuser und Zeltlager entstanden. Der Getreidepreis wurde herabgesetzt und für die obdachlosen Einwohner Roms gab es kostenlose Lebensmittelrationen.

Nach Tacitus waren von den vierzehn Stadtbezirken des antiken Rom drei bis auf den Grund zerstört, sieben teils mehr oder weniger zerstört und nur vier Bezirke unversehrt geblieben. Die am schwersten zerstörten Stadtteile entstanden auf dem Reißbrett völlig neu. Nero ließ von den Architekten einen Plan ausarbeiten, so daß geradlinige Straßen, von regelmäßigen Häuserreihen gesäumt, die Stadt durchschnitten. Die Höhe der Gebäude wurde festgelegt, kleine Hinterhöfe mußten sich daran anschließen. An der Front der Häuser mußten Säulengänge angebaut werden, so daß man vor Regen und Sonne geschützt durch die neuen Straßen Roms spazieren konnte. Diese Säulengänge wurden, nach Tacitus, auf Kosten des Kaisers errichtet, also aus der Staatskasse finanziert.

Wiederum wollen uns die antiken Propagandisten "fumus" für Wahrheit verkaufen, wenn sie erzählen, Kaiser Nero habe sich einen Palast errichten lassen, in welchem Gold und Edelsteine in Menge zu bewundern gewesen wäre, den angeblichen "domus aurea neronis", das Neronische "Goldhaus".

Sueton straft sie der Lüge, wenn er berichtet, daß Kaiser Otho vom Senat fünfzig Millionen Sesterzen beantragte, um weiterbauen zu können. Und Othos Nachfolger Vitellius erschien der Palast Neros gar so schäbig, daß er nicht einmal darin wohnen wollte (Quelle: Cassius Dio: Epitome des Buches 64, Xiphilinos 194, 25 - 195, 4).

In Wirklichkeit mag der Entwurf der Architekten Severus und Celer ein kühner Plan weit in die Zukunft gewesen sein, denn ein Palast wurde früher wie heute nicht in drei oder vier Jahren erbaut oder gar fertiggestellt. Der Wiederaufbau der zerstörten Stadtteile kostete enorme Summen und war zweifellos, zwecks Sicherung des Neronischen Prinzipats, vorrangig. Erst ganz zuletzt konnte Nero daher an die Errichtung oder gar Innenausstattung eines neuen Palastes denken. Tacitus und/oder die antiken Propagandisten haben den Plan mit der Vollendung "verwechselt", und das wiederum mit Absicht.

Außerdem war Kaiser Nero durch andere Ereignisse und Pläne, erneuter Kriegsausbruch im Osten und seine mehr als eineinhalbjährige Griechenlandreise, am Vorantreiben des Baus gehindert. Der angebliche "domus aurea neronis" wurde mit Sicherheit nie vollendet.

Kaiser Nero "residierte" daher höchstwahrscheinlich von Sommer des Jahres 64 bis zum Ende seines Prinzipats, im Juni des Jahres 68 u. Zr., also fast vier Jahre lang, in einem teilweise wiederaufgebauten Teil des Palatins, während an mehreren anderen Stellen noch am Wiederaufbau gearbeitet wurde. Natürlich nahm Kaiser Nero dabei auch einige Neubauprojekte in Angriff, jedoch bis zum Ende des Neronischen Prinzipats wurden sie kaum mehr fertiggestellt, so daß der Soldatenkaiser Otho noch Geld beim Senat beantragen mußte, um weiterbauen zu können.

 

XVII. Kapitel

Das Jahr 65 u. Zr.

Im Frühling des Jahres 65 u. Zr., während des Konsulats des Silius Nerva (des späteren Kaiser Nerva) und des Atticus Vestinus, wurde die dritte Konspiration gegen das Leben Neros aufgedeckt, die sogenannte Pisonische Verschwörung. Es war der politisch bedeutendste und folgenschwerste Putschversuch während des Neronischen Prinzipats, wenn wir dem oder den antiken Propagandisten glauben dürfen.

Während des Höhepunktes der mehrtägigen circensischen Spiele, am 19. April, wollte die Verschwörergruppe Nero ermorden.

Lateranus, ein verarmter römischer Ritter, sollte dem Kaiser zu Füßen fallen und ihn um finanzielle Unterstützung anflehen. Während er dem Kaiser die Füße umschlang und ihn zu Boden warf, wollten einige andere Verschwörer hinzueilen und ihn erstechen.

Piso, der von der Verschwörergruppe auserwählte Nachfolger Neros, hätte währenddessen mit Antonia, der mittleren Tochter des Kaisers Claudius, beim Cerestempel bereitgestanden. Bei der Nachricht von der Ermordung Neros wollten die Beiden, in Begleitung des Präfekten Faenius Rufus, ins Lager der Prätorianer marschieren, wo Piso zum neuen Kaiser ausgerufen werden sollte.

Ein Freigelassener des Scaevinius, namens Milichus, erhielt den Auftrag, den Dolch zu schärfen, mit dem Nero ermordet werden sollte. Außerdem schenkte Scaevinius seinen liebsten Sklaven die Freiheit und gab, ohne ersichtlichen Anlaß, ein ungewöhnlich kostspieliges Festmahl. Es hätte ja das letzte für Scaevinius sein können, falls das Attentat fehlschlagen würde. Es sollte in der Tat das letzte für ihn gewesen sein.

Der Freigelassene Milichus informierte heimlich Epaphroditus, einen Freigelassenen Neros, über die ungewöhnlichen Vorgänge im Hause des Scaevinius. Die Ermittlungen kamen sofort in Gang. Es wurde festgestellt, daß Antonius Natalis sich häufig mit Scaevinius unterhielt, beide waren Pisos vertrauteste Freunde. Die beiden Verschwörer wurden getrennt verhört und weil sie sich nicht vorher absprechen konnten, verwickelten sie sich in widersprechenden Aussagen. Der Folter oder nur ihrer Androhung hielten sie nicht Stand; sie begannen ihre Mitverschworenen zu verraten.

Piso, einst ein guter Freund Neros, der Kaiser verkehrte oft in der Campania in dessen Landhaus, kam der Verhaftung zuvor, indem er Selbstmord beging. Durch diese Tat konnte er wenigstens seiner Ehefrau Arria Galla sein hinterlassenes Vermögen retten, wenn auch ihr Traum, eine "Augusta" zu werden, ausgeträumt war.

Gérard Walter schrieb: "Ein Gerichtsurteil hatte die Einziehung des Vermögens des Verurteilten zugunsten des Staates zur Folge, und Nero konnte keinerlei persönlichen Vorteil daraus ziehen. Anders bei jenen, die er zum Selbstmord "einlud"; da sie [die Selbstmörder] nicht Gegenstand irgendeiner Rechtsverfolgung waren, behielten sie auch die freie Verfügung über ihr Vermögen".

Tacitus, bzw. der oder die Verfälscher seiner >Annalen<, unterstellten Kaiser Nero, er habe sich an solchen Selbstmördern zu bereichern versucht, da diese, um ihren Verwandten ein Teil ihres Vermögens zu retten, den Kaiser ebenfalls mit einem "Erbschaftsanteil" testamentarisch bedachten.

Gérard Walter bemerkt dazu: "Wenn dies Neros Absicht gewesen wäre, hätte er nicht so viele reiche Senatoren und Finanzleute verschont, die während seiner Regierung ungeschoren blieben, weil sie >die Klugheit besaßen, politisch untätig zu bleiben<, wie Tacitus es später ausgedrückt hat, als er die Biographie seines Schwiegervaters Agricola schrieb".

Unter den zur Anzeige gebrachten Putschisten befanden sich offensichtlich auch einige Unschuldige, die von den Verschwörern, entweder aus persönlichem Haß oder um Kaiser Nero zu schaden, denunziert wurden. Ein Opfer solcher Denunziation war möglicherweise - der stoische Philosoph L. Annaeus Seneca. Sein Name war von Natalis genannt worden.

Kaiser Nero sandte eine Abschrift des Verhörs, das die Beschuldigung enthielt, an seinen alten Lehrer und Freund, um diesen fragen zu lassen, ob er die Aussage des Natalis anerkenne oder was er dagegen vorzubringen habe. Bevor sich jedoch Annaeus Seneca persönlich vor seinem Princeps rechtfertigen konnte, schickte der Präfekt Faenius Rufus, der ja ebenfalls ein Verschwörer war, einen Centurio zu dem alten Philosophen, um diesen umbringen zu lassen. Annaeus Seneca war demnach höchstwahrscheinlich ein Opfer der Verschwörer, nicht ein Mordopfer Kaiser Neros.

Senecas Ermordung während der Pisonischen Verschwörung ist zweifelhaft. In seinem Werk >Über die Vorsehung< findet sich ein eindeutiges und unbezweifelbares Indiz, daß er noch im Jahre 67 u. Zr. lebte! Siehe weiter unten das XIX und das XXII. Kapitel.

Tacitus berichtet in den >Annalen<, XV. Buch, ab Kapitel 60 über die Vorgänge, die zu Senecas Ermordung führten: Natalis, ein Mitverschwörer gegen Kaiser Nero, habe beim Verhör ausgesagt, er sei von Piso zum kranken Philosophen Seneca geschickt worden, um zu erkunden, warum Seneca dem Piso keinen Zutritt zu sich erlauben würde. Seneca erwiderte Natalis bei diesem Gespräch, es sei für beide von keinerlei Nutzen, ihre Gedanken auszutauschen. Die Standpunkte waren in den Augen Senecas offensichtlich zu extrem. Seneca soll außerdem zu Natalis den zweideutigen Satz geäußert haben, daß "seine eigene Sicherheit auf dem Wohle Pisos gründe".

Nach diesem Verhör des Natalis erhielt der Tribun einer prätorischen Kohorte, namens Gavius Silvanus, den Befehl aus dem Neronischen Kaiserpalast, diese Aussage des Natalis dem Philosophen Seneca zu überbringen und ihn zu fragen, ob er die Worte des Natalis und seine eigenen Worte anerkenne. Dies war nichts anderes als ein normales polizeiliches Verfahren. Ich bin überzeugt, die etwas doppeldeutige Äußerung Senecas, daß sein Wohlergehen auf demjenigen des Piso gründe, erregte bei Kaiser Nero nicht das geringste Mißtrauen gegen seinen alten Freund und Philosophielehrer.

Lucius Annaeus Seneca war angeblich zufällig an diesem Tag aus der Campania nach Rom zurückgekehrt. Er befand sich beim vierten Meilenstein vor der Stadt auf einem seiner Landgüter. Der Tribun kam gegen Abend an und ließ das Haus von Prätorianern umstellen. Das bedeutet, es konnte niemand mehr aus dem Haus heraus oder hinein.

Seneca speiste mit seiner Frau Pompeia Paulina und mit zwei Freunden zu Abend. Auf die Frage des Tribuns, was Seneca mit dem doppeldeutigen Satz aussagen wollte, erwiderte dieser: Die Rettung eines Privatmannes, gemeint ist Piso, seiner eigenen Wohlfahrt vorzuziehen, habe er keine Veranlassung gehabt. Zu Schmeicheleien sei sein Charakter nicht geeignet. Das sei niemand besser bekannt als Nero, der öfter seine Freimütigkeiten erfahren habe.

Nachdem der Tribun diese Aussage Senecas vor Kaiser Nero, Kaiserin Poppaea und dem Präfekt Tigellinus wiederholt hatte, soll Kaiser Nero wutschnaubend den Befehl gegeben haben, Seneca den Tod anzukündigen, d. h. ihm den Selbstmord zu befehlen.

Tacitus und/oder der anonyme Propagandist und Verfälscher seiner >Annalen< hat es sich offensichtlich mit diesem "Propaganda-Märchen" etwas zu leicht gemacht. Ich frage wieder einmal: Warum sollte Kaiser Nero wütend auf Seneca gewesen sein und warum sollte er ihn Hals über Kopf zum Selbstmord auffordern? Die Darstellung bei Tacitus ist völlig unglaubhaft.

Ich behaupte, Kaiser Nero hörte die Antwort Senecas, die ihm der Tribun Gavius Silvanus entweder mündlich oder schriftlich überbrachte, ruhig und gelassen an. Kaiser Nero war sich der Treue seines Staatsphilosophen und alten Lehrers völlig sicher. Der Tribun erhielt daher höchstwahrscheinlich von Nero den Befehl, zu Seneca zurückzukehren und ihm das Vertrauen des Princeps auszusprechen. Möglicherweise erhielt er sogar den Befehl, einige Prätorianer zur Sicherheit Senecas in dessen Landhaus einzuquartieren.

Die folgenden Sätze in den >Annalen< lassen die wirklichen Ereignisse durchscheinen: Tacitus erwähnt, daß der Tribun Gavius Silvanus ebenfalls ein Putschist war. Er kehrte nicht auf dem schnellsten Wege zu Senecas Landhaus zurück, sondern er machte zuvor einen Besuch bei dem Präfekten Faenius Rufus, dem ranghöheren Mitverschworenen. Mit Sicherheit erzählte er ihm die Vorgänge im Zusammenhang mit der Vernehmung des Natalis und der späteren Zeugenbefragung des Philosophen Seneca.

Tacitus stellt es dem Leser so dar, als ob der Präfekt und der Tribun "Memmen" gewesen wären, weil sie dem Befehl Neros, Seneca zu ermorden, nicht die Ausführung verweigert hätten. Silvanus hätte die Frevel noch vermehrt, an deren Sühnung er durch den Sturz und die Ermordung Neros mitwirken wollte.

Dieses Propaganda-Märchen ist zu lau und zu fade erfunden, um es glauben zu können. In Wirklichkeit gab der Präfekt Faenius Rufus den Befehl, Seneca ermorden zu lassen. Mit der Ermordung Senecas wollten die Putschisten offensichtlich Kaiser Nero schaden, denn Seneca war Kaiser Nero mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit absolut loyal gesinnt.

Der Tribun Gavius Silvanus weigerte sich jedoch, den Mordbefehl auszuführen. Der Präfekt mußte einen Centurio damit beauftragen.

Nach Tacitus verlangte der Stoiker Seneca unerschrocken Schreibtafeln, um sein Testament niederschreiben zu können. Der Centurio verweigerte es ihm. An seine Freunde gewendet sagte Seneca, da er daran gehindert werde, ihren Verdiensten Dank zu zollen, könne er ihnen nur noch das Einzige und Schönste, was er jetzt noch habe, zurücklassen: Das Bild seines Lebens.

Und noch etwas muß Seneca mit Bestimmtheit gewußt und gesagt haben: "Dieser Mordbefehl kommt nicht von meinem Kaiser, sondern von den Putschisten und Verschwörern!"

Der Centurio ließ den Philosophen von zwei Soldaten ergreifen, dann zog er sein Kurzschwert und erstach Seneca.

Tacitus und/oder der Verfälscher seiner >Annalen< "sattelte" noch eine Lüge auf das Propaganda-Märchen darauf, indem er schrieb: "Es ging die Rede, Subrius Flavus habe in geheimer Beratung mit Centurionen, doch nicht ohne Wissen Senecas, beschlossen, daß, nach Neros Ermordung durch die Mitwirkung des Piso, auch dieser [nämlich Piso] umgebracht und die Herrschaft dem Seneca gegeben werden solle."

Dieser Satz ist nun wiederum ein deutlicher Beweis dafür, daß der Verfälscher der >Annalen< nicht die geringte Ahnung von der stoischen Philosophie und von der Lehre Senecas besaß. Seneca, der Lucilius im 22sten, 31sten und 32sten Brief (siehe gegen Ende des Buches) riet, der Herrschaft zu entsagen, soll selber nach der Herrschaft gestrebt haben? Eine geradezu groteske Propagandalüge. Ganz zu schweigen von dem Unsinn, daß es eine Centurionen-Verschwörung (eine Art Feldwebel-Verschwörung) gegeben habe und daß ungebildete Legionäre einen Philosophen zu ihrem Staatsoberhaupt gewünscht hätten. Die meisten Centurionen im römischen Heer kannten Seneca nicht einmal mit Namen.

Der Präfekt Faenius Rufus verhörte Scaevinius. Dieser erwiderte, da er, laut Tacitus, "den Mitverschworenen und Inquisitor in einer Person nicht mehr länger ertragen konnte, niemand wisse mehr als er, Faenius Rufus, selber".

Der Präfekt wurde daraufhin entwaffnet und ebenfalls verhaftet. Ihm, wie auch dem Tribun Gavius Silvanus, wurde auf freiem Feld der Kopf abgeschlagen, seine Leiche in der Grube verscharrt, die er für sich selber ausheben mußte.

Tacitus und/oder die antiken Propagandisten übertreiben wie immer maßlos, wenn sie uns glaubhaft machen wollen, die Stadt Rom hätte sich mit den Leichen der Verschwörer "gefüllt".

Gérard Walter stellt fest, daß es ganze zehn Leichenbegängnisse in Rom gab, von den Militärs abgesehen, die hingerichtet und verscharrt wurden. Offensichtlich haben die antiken Propagandisten die Zahl der Verschwörer mit der Zahl der Pocken- oder Pestopfer im Herbst des selben Jahres absichtlich "verwechselt", bzw. gleichzusetzen versucht. Denn während der Pockenepidemie füllten sich tatsächlich die Straßen mit Leichenzügen und die Häuser mit Pockenkranken.

Weiter oben haben wir gehört, daß Antonia, die mittlere Tochter des Claudius, sich an der Pisonischen Verschwörung beteiligte. Was ist aus ihr geworden? Von Tacitus erfahren wir nichts über ihr weiteres Schicksal. Jedoch bei Sueton steht, Kaiser Claudius' Tochter Antonia, die nach dem Tode Poppaeas eine Ehe mit Nero angeblich zurückwies, sei von Nero unter dem Vorwand, sie habe eine Verschwörung gegen ihn angezettelt, umgebracht worden.

Der angebliche "Vorwand" Neros ist, nach Tacitus, eine berechtigte Beschuldigung gewesen: Antonia wollte, nach der Ermordung Neros, an der Seite Pisos durch die Straßen Roms laufen und dessen Thronfolge aktiv unterstützen. Es ist weiterhin mehr als unwahrscheinlich, daß Nero beabsichtigt haben könnte, eine Frau zur Kaiserin zu machen, die vorher gegen ihn "putschte". Hier fehlte es dem Geschichtsverfälscher offensichtlich wieder einmal an Spürsinn für geschichtliche Realität.

Außerdem bedachte Sueton und/oder der antike Propagandist nicht, daß die Augusta Poppaea im Frühling des Jahres 65 noch lebte.

Wegen ihrer Beteiligung an der sogenannten Pisonischen Verschwörung wurde Antonia möglicherweise auf die Insel Pandateria verbannt, was zu Neros Herrschaftsstil passen würde. Keinesfalls ließ Nero sie ermorden. Antonia könnte auch auf Befehl der späteren "Soldatenkaiser", wie etwa durch Galba, Otho, Vitellius oder gar durch Vespasian, umgebracht worden sein. Oder sie starb in der Verbannung eines mehr oder weniger natürlichen Todes, an Entbehrung und an gebrochenem Lebenswillen.

Möglicherweise wurde auch Octavia, Antonias jüngere Halbschwester, auf die Insel Pandateria verbannt.

Neben der Bestrafung der Putschisten gab es selbstverständlich auch Belohnungen für die Getreuen. Der Präfekt Ofonius Tigellinus sowie der designierte Konsul Silius Nerva erhielten die Ehren des Triumpfes. Ihre Standbilder wurden außerdem auf dem Forum und im Palast aufgestellt. Der Militärtribun Nymphidius Sabinus erhielt die konsularischen Insignien und wurde der Nachfolger des Faenius Rufus auf dem Posten des Präfekten der Prätorianer. Tacitus berichtet, Nymphidius habe sich gerühmt, sein Erzeuger sei Gaius Caesar (Caligula) gewesen. Seine Mutter war jedoch nur eine hübsche Freigelassene und die Geliebte des Kaisers.

Auch die Prätorianer wurden für ihre Treue belohnt. Nero schenkte jedem zweitausend Sesterzen und außerdem erhielten sie in Zukunft ihr Getreide kostenlos.

Der Freigelassene Milichius, dem der Kaiser die ersten Informationen verdankte, durfte zu seinem Namen noch den Zusatz "der Retter" hinzufügen. "Milichius der Retter", hieß er von nun an. Hoffentlich wurde ihm dieser Titel nicht später zum Verhängnis.

Natürlich mußten auch den Göttern Dankopfer und -gebete dargebracht werden, besonders aber dem Sonnengott, der am Zirkus, wo die Mordtat geschehen sollte, einen alten Tempel besaß. Das Fest der cerealischen Circensien wurde durch mehrfache Pferderennen diesmal ganz besonders glänzend und kostspielig abgehalten.

Zuletzt weihte Kaiser Nero den Dolch, mit dem er umgebracht werden sollte, auf dem Kapitol mit der Inschrift: "Dem Rächer Jupiter".

Im Oktober des Jahres 65 u. Zr., es war bereits der 11. Jahrestag des Neronischen Prinzipats, wurden die zweiten Fünfjahresspiele, die sogenannten "Neronien", in Rom abgehalten.

Kurz danach oder sogar bereits während der Spiele brach eine "wütende Pest" in Rom aus. Wahrscheinlich war es nicht die Pest, sondern eine Pockenepidemie. Jetzt erst waren, laut Tacitus, "die Häuser mit Leichen, die Straßen mit Leichenzügen angefüllt" (Quelle: Tacitus, >Annalen<, XV.71). Kein Geschlecht, kein Alter, und, bei allen Göttern, nicht einmal der sogenannte "höhere Stand" wurde von der Pockenepidemie verschont. Ein Beweis, daß es bereits in den Augen der antiken Götter keinen Standesunterschied beim Menschengeschlecht gab. Ritter, Reiche und Senatoren wurden, wie die Sklaven und armen Freigelassenen, von der Seuche dahingerafft.

Sueton berichtet, daß "innerhalb eines Herbstes", also in einem Zeitraum von drei oder vier Monaten, dreißigtausend Bestattungen in die Rechnungsbücher der Libitina eingetragen wurden. Sklaven und arme Freigelassene nicht mitgerechnet, denn diese wurden gewiß nicht eingetragen, sondern nur die Angehörigen des Ritter- und Senatorenstandes; eventuell konnten sich noch die reichen Freigelassenen diesen gebührenpflichtigen Aufwand leisten.

Da wir die antiken Historiker (bzw. die anonymen Verfälscher ihrer Geschichtswerke, von mir geringschätzig als "Propagandisten" bezeichnet) bereits so vieler grotesken "Propagandalügen" überführt haben, möchte ich nun eine Hypothese wagen, die gewiß nicht von schlechten Eltern ist: Es besteht die begründete Vermutung, daß viele der früheren und auch noch späteren angeblichen "Mordopfer" Kaiser Neros in Wirklichkeit an einer Pocken- oder Pestepidemie gestorben waren.

Ein wirklich durchschlagendes Indiz für diese These ist der Tod der Augusta Poppaea. Nach Tacitus starb sie nach den Neronien, also während der Pockenepidemie. Wen wundert es noch, wenn in den >Annalen< steht, Nero habe angeblich seiner schwangeren Ehefrau Poppaea einen Fußtritt in den Leib gegeben, woran sie starb?

Poppaea war erneut schwanger! Wiederum bestand für Kaiser Nero die Hoffnung, daß er bald Vater eines Thronfolgers sein könnte! Und da soll er der schwangeren Poppaea mit dem Fuß in den Bauch getreten haben?

Es gab sogar einige moderne Nero - Biographen, die an dieser Propagandalüge zu zweifeln wagten.

Viel wahrscheinlicher, ja geradezu augenfällig ist dagegen, worauf aber meines Wissens noch kein Nero - Forscher kam, daß die schwangere Kaiserin Poppaea von den Pocken dahingerafft wurde, wie dreißigtausend, ja mehr als doppelt oder sogar zehnmal so viele ihrer Mitbürger und Mitbürgerinnen, wenn wir die Sklaven und armen Freigelassenen mitrechnen wollen.

Wäre es nicht ebenso wahrscheinlich, daß die beiden Apostel Petrus und Paulus während der Pocken- oder Pestepidemie im Herbst des Jahres 65 u. Zr. ihr Leben verloren, im selbstlosen Pflegedienst an ihren kranken Glaubensbrüdern und -schwestern? Wäre solch ein Tod nicht ebenfalls ein Märtyrertod zu nennen, wenn sie ihre kranken Glaubensgenossen so lange pflegten, bis sie ebenfalls von den Pocken oder von der Pest infiziert waren, woran sie starben?

Frau Dr. Kari Köster-Lösche schrieb in ihrem Buch >Die sieben Todesseuchen<, Seite 66: "Im römischen Reich trieben zur Zeit von Domitian (90 u. Zr.) und von Commodus (189 u. Zr.) Banden ihr Unwesen, die mit Nadeln [richtiger: mit kleinen spitzen Dolchen oder mit spitzen Eisen] umhergingen und Menschen stachen [richtiger: nur ein wenig die Haut aufritzten, wodurch die Pockenviren in den Blutkreislauf eindringen konnten]: die Stecherbanden.

Die Menschen starben daraufhin schnell; wahrscheinlich wurden sie nicht mit Pest, wie Seneca sagt, sondern mit Pocken infiziert. Die Übertragungsmethode spricht dafür. Man weiß, daß diese Menschen es in verbrecherischer Absicht und gezielt taten. Sie waren Mörder, die einen bakteriologischen Krieg führten ... "

Während Neros Herrschaftszeit wurde der Seeweg nach Indien und China erschlossen. Römische Handelsschiffe brachten die ersten Stoffe aus Seide nach Rom. Kaiserin Poppaea Sabina war die erste römische Kaiserin, die kostbare, ja unbezahlbare Kleider aus chinesischer Seide trug. Mit der Seide wurde auch eine furchtbare Seuche nach Rom importiert: die Pocken.

Flavius Josephus berichtet in seinem Werk >Geschichte des jüdischen Krieges< von Stechern, Sikarier genannt, die bereits während Neros Herrschaft in Jerusalem auftraten.

Während der Neronien im Herbst des Jahres 65 u. Zr. könnte eine Stecherbande einen bakteriologischen Terrorkrieg gegen alle Anhänger, Freunde und Verwandte Neros geführt haben. Diese vereinzelten Terroranschläge entwickelten sich möglicherweise zu einer regelrechten Epidemie in der Stadt Rom, so daß dreißigtausend Bürger des höheren Standes an den Pocken starben und ein mehrfaches davon an Zahl des sogenannten niederen Standes.

Es war wie mit dem Brand Roms im Jahre 64: Wahrscheinlich wollten die Bauspekulanten oder die politischen "Terroristen" nur den Palast Neros zerstören, als ein Racheakt oder als ein Terroranschlag, um Nero einzuschüchtern, jedoch ging dabei die halbe Stadt in Flammen auf.

Die Pockenstecher wollten wohl nur die Familienmitglieder, die persönlichen Freunde und die einflußreichen und mächtigen Anhänger Nero Caesars mit den Pocken infizieren und dadurch töten, jedoch löste dies eine regelrechte Pockenepidemie in Rom aus.

Ein schrecklicher Gedanke und, wiederum, eine gewagte Hypothese; aber auszuschließen ist es keineswegs. Wenn es so war, so kann nur eine radikale Terrorgruppe oder gar eine "fundamentalistische" Priestersekte dafür in Frage kommen.

Liste der angeblichen "Mordopfer" Nero Caesars, die in Wirklichkeit an den Pocken gestorben sind, ja sogar durch gezielte Terroranschläge der Pockenstecher mit Pocken infiziert wurden:

Die schwangere oder bereits mit einem zweiten Kind niedergekommene Kaiserin Poppaea Sabina.

Rufrius Crispinus, Neros Stiefsohn und Sohn der Poppaea.

Crispinus, der frühere Ehemann der Poppaea.

Aulus Plautius, angeblich ein Verwandter Neros? Ja, über Urgulanilla Plautia, die Mutter der früheren Kaiserin Octavia, Neros erster Gemahlin, war er auch mit der "Gens" der Plautii verwandt.

Cornelius Faustus Sulla.

Vestinus, der Konsul und Ehemann der Statilia Messalina.

Die Apostel Petrus und Paulus.

Der Schriftsteller Marcus Annaeus Lucanus (39 - 65 u. Zr.), ein Neffe Senecas.

Annaeus Mela, der Vater des M. A. Lucanus und Bruder des Philosophen Seneca.

Und noch viele andere "Mordopfer" Kaiser Neros, die angeblich im Frühling des Jahres 65 u. Zr. wegen ihrer Beteiligung an der Pisonischen Verschwörung ihr Leben verloren, in Wirklichkeit aber erst im Herbst des selben Jahres während der furchtbaren Pockenepidemie starben.

Als Beweis für meine These dient auch die Tatsache, daß Tacitus, Sueton oder Cassius Dio uns nicht ein einziges prominentes Opfer nennt, das durch die "wütende Pest- oder Pockenepidemie" ums Leben kam. Stattdessen "konstruierten" sie angebliche Mordopfer Kaiser Neros.

Über den römischen Dichter Lucanus fand ich bei Bruno Bauer eine beeindruckend geschriebene Würdigung, die ich dem interessierten Leser nicht vorenthalten möchte (Quelle: >Christus und die Caesaren - Der Ursprung des Christenthums aus dem römischen Griechenthum<, von Bruno Bauer, Berlin 1877):

"Marcus Annaeus Lucanus gehört auch zu den Knaben und Verworfenen. Sein Urteil in politischen Dingen nennt Schiller "knabenhaft", daß der Gegenstand [sein Werk >Der Bürgerkrieg<] an und für sich nichts war, reizte vielleicht gerade des jungen Mannes Eitelkeit; er wollte durch seine hinreißende Deklamation dasselbe zu etwas machen.

Lucan hatte schon im Altertum seine Feinde. Martial spricht (Epigr. 14, 194) von solchen, die ihn nicht als Dichter gelten lassen wollen. Servius (zum Virgil) meint, er verdiene nicht seinen Platz unter den Dichtern, weil er Geschichte, nicht ein Gedicht komponiert zu haben scheine. Gefährlich ist es aber, daß auch der Mann des [angeblich] geläuterten Geschmacks, Petron, an dem poetischen Wert seines >Bürgerkriegs<, der Pharsalia, gezweifelt hat. Denn offenbar soll das Bänkelsängerlied, welches der Dichtergreis seines >Satyrikons<, Eumolpus, vorträgt, eine Ironisierung des Lucanischen Werkes sein und der Ausspruch des selben Sängers: "Ein ungeheures Unternehmen, der >Bürgerkrieg<; wer sich ohne volle Dichterbildung daran macht, wird unter der Last zusammenbrechen; es genügt nicht, in Verse historische Tatsachen zu fassen, denn für diese ist der Geschichtsschreiber da", soll jedenfalls die historische Haltung des Lucanischen Werkes treffen. Eben dahin zielt die Bemerkung, daß die Gedankenblitze sich nicht vom Ganzen abheben dürfen, sondern als das eigene Leuchten des Körpers erscheinen müssen.

Ein Scherz, der mit dem Karikaturgedicht des Eumolpus zusammenhängt, ist dagegen nur, wenn Petron den Dichtergreis sagen läßt, der Poet müsse den Leser durch das Eingreifen der Götter auf die mythologische Folter spannen und sich das Ansehen eines begeisterten Propheten geben. Die Zeit dieser Göttermaschinerie war für immer vorbei und niemand wußte das besser als Petron.

Es war immerhin ein kühner Gedanke Lucans, wirkliche historische Männer mit ihren Empfindungen, Leidenschaften und Reflexionen über das eigene Recht und Tun zum Gegenstand eines Epos' zu machen, wenn auch der Versuch mißlang. Fern davon, "an und für sich nichts" zu sein, ist >Der Bürgerkrieg< als Zusammenstoß der Macht, die sich den alten Formen überlegen fühlt, und des Rechts, das im Unterliegen [dennoch] seiner Zukunft gewiß bleibt, ein Thema, welches niemals aufhören wird, die intensivste, ja leidenschaftlichste Teilnahme der Welt zu erwecken. Lucan mußte jedoch scheitern, weil das Thema für die Poesie zu groß und zu umfassend ist und allein von der Prosa bewältigt werden kann.

Der Imperialismus hat den Homer, nach dem Alexander der Große vergeblich rief, nicht gefunden und wird ihn nicht finden. Er kann sich seines Geschäftes der Überlistung, Täuschung, Übertölpelung und des Hintergehens nicht entschlagen; und diese Maschinerie ist kein Gegenstand für die Poesie. Lucan wählte zu seinem Helden den Vertreter des Rechts, den Senat. Man lächelte über den schwachen und untergehenden Senat in der Heldenrolle, auch über die Idee überhaupt, einen Bundesrat zum Akteur eines Epos' zu machen; aber die Völker werden nicht aufhören, trotz aller Fehlgriffe und Irrungen diesen Akteur herbeizurufen; und dann: ist die Idee, die Lucan vorschwebte, nicht in jenem Senat erfüllt worden, der jenseits des Ozeans gegen Englands imperialistischen Übermut eine neue Welt ins Leben rief?

Pompejus tritt als der Beauftragte des Senats auf und läßt sich durch die Ungeduld der Partei, die ihn gegen seinen Plan in die Schlacht treibt, ins Unglück stürzen. - "Ein schöner Held!" ruft man, und wiederum ist Lucans Idee in dem Feldherrn, der in Einvernehmen und Vereinbarung mit dem Bundesrat in Philadelphia England und den Imperialismus der alten Welt besiegte, Wahrheit geworden.

Cato steht anfangs unbeteiligt da, bis ihn der Tod des Pompejus frei macht und sich ganz der Freiheit (Pharsalia 9, 29.30) widmen läßt, die seit dem Tage von Pharsalus mit Cäsarn das Kämpferpaar bildet, und [Cato] kann sich so wenig für Pompejus wie für Cäsar entscheiden. "Eine öde, trübselige Stellung für einen Helden!" ruft man wieder; aber aus dem Schmerz dieses Isolierten ist jener Wunsch hervorgegangen, der sich ganz der späteren christlichen Anschauung nähert, daß sein Haupt die Strafen der andern tragen und mit seinem Tod die Schuld des allgemeinen Verderbens, welches zum Bürgerkrieg führte, abgebüßt werden möge (2, 306 ff).

Die Lösung der blutigen Kollision, durch welche sich das Gedicht bewegt, ist sogleich im Anfange angegeben. Sie lautet: NERO. Um ihn haben die feindlichen Brüder gekämpft, er ist der Gewinn der Bürgerkriege, ihm bahnten die Greuel den Weg, wie auch erst nach dem Kampfe mit den Titanen den Göttern die Herrschaft zufiel und dem Donnerer der Himmel Gehorsam leistete. Und auch dann, wenn der Friedensfürst als göttliches Gestirn am Himmel thront, wird er der Menschheit den Frieden erhalten, in dem sie ihr Heil beraten und das Band der Liebe die Völker umschlingen wird (1, 33 ff).

Es hilft nichts, um den angeblichen Widerspruch dieser Theodicee der Bürgerkriege mit dem Leib des Gedichts zu beseitigen, das Werk in zwei Abschnitte aufzulösen, in deren ersterem (Buch 1 - 3) der Dichter Cäsarianer sei, während er in den sieben letzten Büchern das Pompejanische Interesse vertrete. Auch in den ersten drei Büchern zieht Cäsar als Einbrecher, Räuber und Rechtsverletzer [als ein Faschist] in Rom ein, während Pompejus als der Legitime auf Seiten des Senats steht.

Seneca sah in den Führern der Bürgerkriege, wie sein Neffe, die Titanen der Eigenmacht und des Frevels, in Cäsar den vervielfältigten Catilina (ad Marciam, 20), in Cato den letzten Vertreter der Freiheit (z. B. de constant. sap. 2. Epist. 104), in der Zukunft den Liebesbund der Völker. Beide fesselte an Nero derselbe Glaube, daß er in Eintracht mit dem Senat für die inneren Kriege den Janustempel schließen werde. [...] Die Sage, daß der Neid Neros auf Lucans Dichtergabe den Bruch herbeigeführt habe, hat nicht mehr Wert als die meisten Hofanekdoten Suetons und des Tacitus.

[...] Er [Lucanus] war sich seiner Ewigkeit gewiß. In jener Stelle, in welcher er (9, 980-986) Cäsar [Nero] zuruft, ihm seinen heiligen Nachruhm nicht zu neiden, versichert er, so lange des Smyrnäischen Sehers (Homers) Ehren dauern, "werden die Kommenden mich und Dich [Nero] lesen; unsere >Pharsalia< wird ewig leben".

Ich wiederhole noch einmal: Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit starb der Dichter Marcus Annaeus Lucanus an der furchtbaren Pockenepidemie im Herbst des Jahres 65; keineswegs wurde er von Kaiser Nero ermordet.

Aufgrund dieser Vorgänge in Rom und im römischen Reich verwundert es nicht, wenn es den Stoiker Musonius Rufus und den Rhetor Verginius Flavus, die beide "durch Weisheitslehren die Bestrebungen der Jugend förderten", von Rom forttrieb. Keineswegs wurden sie von Kaiser Nero verbannt.

Ihre Abreise ist erst nach dem Tode des Senators und Stoikers Paetus Thrasea zeitlich anzusetzen. Siehe dazu das XXIII. Kapitel mit Titel >Die Senatsopposition der Stoiker<. Möglicherweise reisten die Beiden im Schutze der kaiserlichen Flotte oder sogar in Kaiser Neros Reisegesellschaft nach Griechenland.

Warum nur wurde der arme reiche Kaiser Nero derartig mit giftsprühendem Haß und furienartiger Verfolgungswut "bestraft"? Die Antwort auf diese alles entscheidende Frage werde ich gegen Ende von Neros Herrschaftszeit liefern.

Haben Sie ein wenig Mitleid mit dem unglücklichen und wirklich bedauernswerten Kaiser Nero? Mit welch berechtigten Hoffnungen trat er vor fast genau elf Jahren sein Prinzipat an. Und was war ihm in diesen Jahren nicht alles von den "Unsterblichen" verwehrt, genommen und noch dazu auferlegt worden?

 

XVIII. Kapitel

Das Jahr 66 u. Zr.

Wir erinnern uns, bereits im Sommer des Jahres 64 wollte Kaiser Nero nach Griechenland reisen und er beschäftigte sich sogar "in geheimen Phantasien" mit Ägypten. Ich wage die Hypothese, daß diese geheimen Phantasien Neros langsam aber unaufhaltsam die Oberhand gewannen. Nicht so sehr wegen der vielen Mordanschläge und Putschversuche, sondern vor allem wegen der rein persönlichen Schicksalsschläge.

Aber trotz aller Terroranschläge und Mordversuche gab Nero Caesar sein Prinzipat nicht verloren. Die Karten wurden neu gemischt. Das große, gefährliche Pokerspiel um die Macht, zwischen Kaiser Nero (und seiner Volksgunst), dem Senat und den Militärs, begann erneut.

Die >Annalen< des Tacitus enden leider ungefähr Anfang des Jahres 66, wir sind jetzt nur noch auf Cassius Dio und Suetonius angewiesen. Später erhalten wir jedoch noch einen weiteren Berichterstatter hinzu: Plutarch, der Leben und Regierungszeit der Soldatenkaiser Galba und Otho beschrieb.

In der ersten Jahreshälfte traf Tiridates, der König von Armenien und Bruder des Partherkönigs, in Rom ein. Die Reise des Tiridates nach Italien und Rom ist ein höchst ungewöhnliches politisches Ereignis.

Nero und Tiridates trafen sich in Neapel. Anschließend zogen sie über Puteoli nach Rom, wo Tiridates von Nero zum König über Armenien gekrönt wurde. Der Besuch des Armenierkönigs war weniger eine Unterwerfung als ein Staatsbesuch. Cassius Dio nennt Tiridates ausdrücklich einen Gast Neros. Der Staatsgast erhielt als Dank für seine Mühen 200 Millionen Sesterzen, außerdem eine große Anzahl Handwerker, um seine Hauptstadt Artaxata wieder aufzubauen. Diese Geschenke könnte man beinahe als "Wiedergutmachungen" Neros wegen der Zerstörungen durch das römische Heer bezeichnen.

Corbulo, der Oberbefehlshaber über die Ostarmeen, erlaubte jedoch nicht, daß alle Bauarbeiter nach Artaxata ziehen durften. Er ließ nur diejenigen das römische Reich verlassen, die Kaiser Nero dem König von Armenien als ein Geschenk übergab. Diejenigen Facharbeiter, die Tiridates durch hohen Lohn selber "gemietet" hatte, schickte Corbulo nach Italien zurück.

Als sichtbares Zeichen, daß der Krieg mit den Armeniern und sogar mit den Parthern beendet war, ließ Nero Caesar demonstrativ die Tore des Janus - Tempels schließen.

Kaiser Nero erhielt von Tiridates auch eine Einladung von seinem Bruder, dem Partherkönig, zu einem Gegenbesuch.

Wegen der zeitlichen Nähe der Abreise des Tiridates von Rom und dem Beginn der Griechenlandreise Neros, wage ich die Hypothese, daß der Armenierkönig Tiridates von Kaiser Nero per Schiff und unter dem Schutze der römischen Flotte bis in die Nähe von Tarsus (Provinz Cilicien) oder einem anderen Hafen des östlichen Mittelmeers begleitet wurde. Der angebliche Grund, warum Tiridates eine äußerst beschwerliche Reise auf dem Landweg von Armenien bis Rom unternahm, nämlich religiöser Zwang, das Meer nicht befahren zu dürfen, könnte wiederum "fumus" sein, um die Vermutung einer gemeinsamen Schiffsreise Neros mit Tiridates nicht aufkommen zu lassen.

Helios, einem bewährten Freigelassenen und Vertrauten des Kaisers, wurden die Regierungsgeschäfte überlassen, die er während der Abwesenheit Neros führen sollte. Um den 25. September des Jahres 66. u. Zr. reiste Kaiser Nero wohl von Rom ab. Dieses Datum finden wir wiederum in den Akten der Arvalbrüder, die an diesem Tag für eine glückliche Rückkehr des Kaisers opferten.

Auf den Steintafeln der Arvalbrüder wurde eine dritte Ehefrau Neros, namens Statilia Messalina, erwähnt. Wann Nero die Ehe mit ihr einging, ist ungewiß. Sicher ist nur, daß zu diesem Zeitpunkt (25. September 66) die Kaiserin Poppaea Sabina schon fast ein Jahr lang tot war.

Neros Ehe mit Messalina war möglicherweise unglücklich oder gar nur eine Scheinehe gewesen, deswegen geschlossen, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen über seine wirklichen Zukunftspläne. Seit dem Tode seiner zweiten Gattin, Poppaea Sabina, die er sehr liebte, könnte Kaiser Nero bereits mit dem Gedanken gespielt haben, sich aus der Politik zurückzuziehen, wie Kaiser Tiberius, der aus dem Moloch Rom auf sein >Tusculum< nach Capri ging. Offensichtlich hatte sich der Kaiser im November des Jahres 67 bereits von Messalina getrennt und sie nach Rom zurückgeschickt. Auf der Freiheitserklärung Neros für Griechenland wurde deswegen wieder seine verstorbene zweite Ehefrau, die "divae" (d.h. die vergöttlichte) Poppaea, erwähnt.

Über Neros Reiseroute ist uns wiederum rein gar nichts bekannt. Wir erfahren von den antiken Propagandisten nur, welche Orte er angeblich nicht besuchte, weil er sich als (angeblicher) Bruder-, Gatten- und Muttermörder davor gefürchtet haben soll. Da wir diese Anschuldigungen bereits als "fumus", bzw. als bewußte Propagandalügen entlarvt haben, können wir guten Gewissens behaupten, daß Kaiser Nero sich kaum eine der großen antiken Sehenswürdigkeiten Griechenlands entgehen ließ.

Auch Kaiser Nero war ein Myste!

Bei seiner Einweihung in die Eleusinischen Mysterien sprach die Priesterin der Demeter:

Marcians Mutter bin ich, und des Demetrius Tochter.

Nicht sei mein Name genannt, so verlangt es mein Amt.

Als mich zur Hierophantin die Kekropiden, die heiligen,

Weihten, verbarg ich mich tief in dem unsagbaren Grund.

Nicht habe die Kinder ich eingeweiht der lakonischen Leda,

Jenen nicht, der allhier ärztliche Künste erlernt,

Nicht den Herakles, der laut schrie vor unendlicher Mühe,

Als für Eurystheus er zwölf Taten gewaltig vollbracht.

Nein, den Gebieter von weiten Ländern und wogenden Meeren,

Ihn, der der Sterblichen viel unter sein Zepter vereint,

Der auf alle Städte unendlichen Reichtum ergossen,

Nero rief ich heraus aus dem kekropischen Schlaf!

Möglicherweise unternahm Nero Caesar von Griechenland aus sogar einen "kleinen Abstecher" nach Alexandria in Ägypten. Sueton berichtet, Nero habe Tuscus, den Sohn einer seiner Ammen, in die Verbannung geschickt, weil er als Statthalter von Ägypten in den für den Besuch des Kaisers errichteten Bädern gebadet habe. Wäre Kaiser Nero nicht nach Alexandria gereist, hätte der Statthalter von Ägypten, Tuscus, so oft wie es ihm beliebte sich darin tummeln können. Möglicherweise badete er noch kurz vor der Ankunft Neros in den Bädern, die eigens für den Kaiser mit frischem (hygienisch sauberem) Wasser gefüllt worden waren. Tuscus handelte demnach einem persönlichen Befehl Neros zuwider. Es mag nicht der einzige Grund gewesen sein, warum er seines Postens als Statthalter über Ägypten enthoben wurde.

Lesen Sie an dieser Stelle in meinem Buch >Die "Bibel" der Freidenker< die Abhandlung Senecas:

>Über die Geist-Gemütsruhe<

 

XIX. Kapitel

Das Jahr 67 u. Zr.

Angeblich nahm Kaiser Nero während seiner Griechenlandreise an den Olympischen Spielen teil. Suetonius berichtet, Nero habe die Kampfrichter vor seinen musischen Darbietungen eingeschüchtert, den Konkurenten habe er Fallen gestellt, sie verleumdet und, wenn das alles nichts nutzte, sie zu bestechen versucht. Als Sieger hätte er sich gewöhnlich selbst ausgerufen. Ja um das Andenken der Sieger zu vernichten, die in früheren Zeiten bei den Olympischen Spielen gewonnen hatten, soll Kaiser Nero den Befehl gegeben haben, ihre Statuen und Büsten umzustürzen und mit Haken in die Latrinen zu schleifen.

Diese Propagandalügen werden eindeutig bei L. Annaeus Seneca widerlegt. In dem Werk >Über die Vorsehung< (De Providentia, IV.2) schrieb Seneca: "Du hast Dich zu den Olympischen Spielen begeben, aber niemand außer Dir: Die Krone hast Du; den Sieg hast Du nicht".

Damit kann niemand anderes als Nero Caesar gemeint sein. Nero begab sich zu den Olympischen Spielen. Als jedoch bekannt wurde, daß der Princeps des Römischen Reiches als Kitharöde auftreten wollte, wagte kein anderer Olympionike, gegen ihn anzutreten.

Daher sprach Seneca, als er mit Kaiser Nero über die Vorsehung philosophierte: "Ein großer Mann bist Du? Aber woher weiß ich es, wenn Dir das Schicksal nicht Gelegenheit gibt, mannhaftes Verhalten zu zeigen? Du hast Dich zu den Olympischen Spielen begeben, aber niemand außer Dir: Die Krone hast Du; den Sieg hast Du nicht. Nicht wünsche ich Dir Glück wie einem tapferen Manne, sondern wie wenn einer Konsulat oder Prätur erlangt hat: Durch eine Ehre [gemeint ist: der Prinzipat] bist Du erhöht worden. [...] [Seneca zitiert einen Spruch des Kynikers Demetrios] >Für unglücklich erkläre ich Dich, weil Du niemals unglücklich gewesen bist. Du bist ohne Gegner durch das Leben gegangen; niemand kann wissen, was Du vermagst, nicht einmal Du selbst.<"

Selbstverständlich durfte Seneca das Werk >Über die Vorsehung< nicht seinem Kaiser widmen, sonst hätte er Nero in aller Öffentlichkeit kompromittiert. Der Name Lucilius könnte daher ein Pseudonym für Lucius, alias Nero, gewesen sein. Natürlich gab es auch Leute, die Lucilius hießen, wie der Procurator von Sizilien.

Wenn diese Zuschreibung richtig ist, wovon ich überzeugt bin, dann haben wir gleichzeitig eine weitere sensationelle Entdeckung gemacht: Annaeus Seneca lebte noch im Jahre 67 u. Zr.! Er war demnach gar nicht während der Pisonischen Verschwörung ums Leben gekommen und er überlebte auch die furchtbare Pockenepidemie im Herbst des selben Jahres! (Siehe das XVII. Kapitel.) Nach den vielen grotesken Unwahrheiten der antiken Propagandisten, die wir bereits aufgedeckt haben, müssen wir davon ausgehen können. (Siehe weitere Indizien zu diesem unbestreitbaren Tatbestand in Senecas >Briefe an Lucilius< weiter unten.)

Cassius Dio berichtet über Neros Griechenlandreise, daß er "unter Preisgabe seiner Herrscherwürde" die Maske angelegt habe (Schauspieler trugen in der Antike beim Spielen Masken), um "in der Rolle eines entlaufenen Sklaven zu betteln, sich als Blinder führen zu lassen [gemeint ist das Schauspiel >Oedipus auf Kolonos< von Sophokles], die Schwangere zu spielen, ein Kind zu gebären, den Verrückten zu machen, sich in der Fremde herumzutreiben, wobei er mit Vorliebe den Part eines Oedipus, Thyestes, Heracles, Alcmeon und Orestes übernahm".

Unzweifelhaft liebte Kaiser Nero die griechische Schauspielkunst. Er las nicht nur die Werke von Euripides oder Sophokles, sondern er trat sogar in den Hauptrollen dieser Stücke auf dem Theater auf.

Wegen dieser Theaterliebhaberei Neros hatten es die antiken Propagandisten wiederum so leicht, Schauergeschichten von angeblichen sexuellen Perversitäten Neros zu erfinden. Cassius Dio berichtet, Nero habe einen jungen Mann, namens Sporus, weil er seiner früheren Ehefrau Poppaea Sabina so überaus ähnlich sah, zuerst entmannen lassen und danach sogar öffentlich geheiratet. Ich schließe es nicht aus, daß der junge Sporus (Sabinus) ein Verwandter, möglicherweise sogar ein (Halb-) Bruder der Poppaea Sabina war und deshalb von Nero überall hin mitgenommen wurde. Möglicherweise traten die Beiden zusammen in einem Schauspiel auf, worin eine Hochzeitsszene vorkam. Schon wurde von den Neidern des Kaisers oder von den ungebildeten Prätorianern der "fumus" in die Welt gesetzt, Kaiser Nero habe sich in aller Öffentlichkeit mit einem angeblich entmannten Mann "verheiratet".

Sueton berichtet, daß Sporus von Kaiser Nero "in den Ornat der Kaiserinnen gekleidet wurde, er [Nero] ließ ihn in einer Sänfte tragen und nahm ihn zu allen Gerichtstagen und Märkten in Griechenland und darauf [nach Neros Rückkehr] nahm er ihn auch in Rom bei den Sigillarien als seinen Begleiter mit, wobei er [Nero] ihn [Sporus] häufig küßte".

Außerdem soll angeblich sein Name Sporus (Sabinus) in Sabina umgeändert worden sein. Die Änderung des Namens hätte doch wohl nur durch eine Adoption erfolgen können. Ist es nicht viel wahrscheinlicher, daß der junge Sporus bereits von Geburt an zur "Gens" der Poppaea Sabina gehörte? Er könnte ein (Halb-) Bruder oder ein sonstiger Verwandter der Kaiserin Poppaea Sabina gewesen sein. Möglicherweise war der junge Sporus (Sabinus) von Kaiser Nero zu seinem designierten Nachfolger auf dem Caesarenthron auserwählt worden?

Es ist meine felsenfeste Überzeugung, daß die angeblichen homosexuellen Perversitäten des Nero Caesar reiner "fumus" ist, der von dem oder den antiken Propagandisten aus Neros Liebhaberei für die Schauspielkunst abgeleitet wurde. Die öffentlichen Auftritte Kaiser Neros als Schauspieler und Kitharaspieler, zusammen mit Sporus, brachten ihm zwar erhebliche Sympathien beim Volke ein, zumindest in Griechenland und in der Campania, gleichzeitig aber boten sie der senatorischen Opposition reichlich Stoff zu Verleumdungen. Nicht Nero Caesar, sondern die antiken Propagandisten waren pervers, zumindest in ihrer Phantasie ließen sie allen Perversionen freien Lauf.

Cassius Dio berichtet uns noch etwas sehr Merkwürdiges. Die Masken, die Nero während des Schauspiels trug, waren, wenn er weibliche Rollen spielte, "samt und sonders nach Sabinas Gesichtszügen gebildet, damit auch sie [Poppaea Sabina], obschon tot, am Schauspiel teilnehme".

Kaiser Nero muß seine verstorbene zweite Gemahlin, Poppaea Sabina, doch sehr geliebt haben.

Der Aufenthalt in Griechenland, der bereits ins zweite Jahr ging, gefiel Nero Caesar so sehr, daß er am 28. November des Jahres 67 u. Zr. kurzerhand der ganzen Provinz die Freiheit schenkte.

 

Nach Sueton, Tacitus und Cassius Dio hat Kaiser Nero den Griechen aber nicht nur Wohltaten erwiesen, sondern er habe sie, man höre und staune, angeblich sogar "beraubt". Einerseits schenkte er den Hellenen, dem edelsten Volke unter der Sonne, die Steuerfreiheit, Nero beraubte sich daher selber, nämlich der Steuereinnahmen, und andererseits, um seine Wohltaten wieder zunichte zu machen, raubte er ihnen angeblich die wertvollsten Kunstschätze und schändete angeblich sogar das Heiligtum von Delphie. Kein Wunder also, wenn die meisten Nero - Biographen den Kaiser für einen Wahnsinnigen gehalten haben. Wahnsinnig kann man jedoch nur bei dem Gedanken werden, wie es möglich war, daß solche dummfrechen Propagandalügen eintausendundneunhundert Jahre bestehen konnten?

Hermann Schiller, einer der ältesten (neuzeitlichen) Nero - Biographen, konnte es bereits nicht glauben. Er schrieb ab Seite 247:

"Selbstverständlich hat die Anwesenheit des Kaisers und seines Gefolges in einem an Kunstschätzen aller Art so reichen Landes, wie Hellas war, namentlich in denjenigen Angaben große Irrtümer und Übertreibungen hervorrufen müssen, welche sich auf die Wegschleppung von Erzeugnissen der bildenden Kunst beziehen. Sueton ... hat hierüber gar keine Nachricht, und Vespasian, welcher sonst in Beurteilung der Erwerbungen seiner Vorgänger ziemlich gewissenhaft verfuhr, hat aus dem Nachlasse Neros zwar verschiedene Kunstwerke in den Tempel der Friedensgöttin, aber nicht nach Griechenland bringen lassen. Es wird danach doch etwas zweifelhaft, ob das "Raubsystem" Neros bei seiner Anwesenheit wirklich so ausgebildet war, wie uns spätere Quellen dies mitteilen. (Fußnote: Philostratos ["Apollonius von Tyana", V.2] schätzt den Schaden, welchen Neros Reise in Griechenland angerichtet habe, höher als den durch Xerxes' Zug verursachten.) Die glaubwürdigen Quellen, wie Pausanias und Dio Chrysostemos bestätigen durch ihre Angaben eine solche Annahme keineswegs. Nach Pausanias hat Nero aus Delphie fünfhundert eherne Statuen von Göttern und Menschen dem Apollo wegnehmen lassen. Schon die große Anzahl macht es von vornherein wenig glaubwürdig, daß Nero dieselben alle mit sich geschleppt haben sollte. Aus Olympia wurde außer wenigen alten Arbeiten der Argeier Glaukos und Dionysos eine Statue des Odysseus entführt. Thespiä verlor den Eros des Praxiteles, welcher später in einem Brande zu Rom zerstört wurde ...

Berücksichtigt man dabei, daß Bausanias an allen Orten des Peloponnes und von Hellas noch eine erstaunliche Menge der größten Kunstwerke vorführt, auch an solchen Orten, wohin Nero nachweislich gekommen ist, wie Corinth, Megara, Argos, ohne irgend einen "Raub" Neros zu registrieren, so wird es glaublich, daß sich jene Überlieferungen entweder auf ganz vereinzelte Fälle reduzieren, wo immer noch die Möglichkeit einer Schenkung nicht ausgeschlossen ist, oder aber einfach auf einer Verwechslung ...

Nach allen diesen angeblichen Räubereien gibt Plinius die Zahl der in Rhodos vorhandenen Statuen noch auf dreitausend an, und bemerkt ausdrücklich, daß auch für Olympia, Delphie und Athen keine geringere Zahl anzusetzen sei. Pausanias ergänzt diese Angabe dahin, daß sich unter dem Vorhandenen noch alle die wertvollen Arbeiten der ersten Koryphäen, eines Phidias, Praxiteles, Skopas, Lysippus, Polyklet und Myron befinden; selbst goldene Statuen, die durch ihren Metallwert besonders reizen mußten, waren unangetastet geblieben ..."

Die Widersprüche unter den antiken Geschichtsschreibern, wegen ihrer offensichtlich "interpolierten" Werke, sind wieder einmal deutlich erkennbar und nur aus einer bewußt angelegten "Propagandahetze" gegen Nero zu erklären.

Hermann Schiller fährt fort auf Seite 254:

"Ganz unklar sind die Gründe für die angebliche Schließung des Delphischen Orakels und die angebliche Confiscation des Gebietes von Kirrha [durch Nero]; ersterer soll er [Nero] dadurch eingeleitet haben, daß er Menschen töten und sie in den Schlund werfen ließ, aus welchem die heiligen Dämpfe aufstiegen; jedenfalls konnte sie [die Schließung des Orakels] nicht lange gedauert haben, da das Orakel bald nachher wieder in seiner gewohnten Tätigkeit erscheint; auffallend ist, daß Pausanias, während er doch von der [angeblichen] Beraubung des Heiligtums durch Nero spricht und auch die Heimsuchungen erwähnt, welche in früheren Zeiten über die Stätte kamen, von einem solchen unerhörten Frevel Neros nichts weiß, und Dio Chrysostemos sogar ausdrücklich berichtet, Nero habe die Heiligtümer zu Olympia und Delphie besonders geehrt, eine Angabe, die wenigstens für den ersteren Ort durch Pausanias bestätigt wird.

Ob Nero deswegen Sparta nicht besucht hat, weil ihm die lykurgische Gesetzgebung nicht sympathisch war, und Athen, weil dort die Sage von den Furien bestand, ist sehr fraglich; für letztere Stadt erscheint es schwer glaublich, daß er die großartigen Kunstschätze zu betrachten unterlassen haben sollte ..."

 

XX. Kapitel

Das Jahr 68 u. Zr.

Wahrscheinlich kehrte Kaiser Nero erst Ende März des Jahres 68 auf italischen Boden zurück. Ab diesem Zeitpunkt war das Mittelmeer wieder ohne größere Gefahr schiffbar. Der Anlaß dazu mag der Aufstand des Vindex in Gallien gewesen sein. Nero soll, nach Sueton, jedoch zuerst in Neapel im Triumpfzug eingezogen sein.

Die Lage in den westlichen Provinzen Gallien und Spanien entwickelte sich immer bedrohlicher. Vindex stand in Korrespondenz mit Galba, dem Statthalter Spaniens. Dieser ließ sich zum offenen Abfall von Rom und von Kaiser Nero verleiten.

Nero erfuhr die Nachricht von Galbas Meuterei in Neapel. Der Kaiser soll vor Wut einen Tisch umgeworfen haben. Nun, das können wir noch als eine menschliche Reaktion gelten lassen. Nero entschloß sich nun endlich zur Rückkehr nach Rom. Er machte jedoch in Antium einen Zwischenaufenthalt.

Auf seinem Gut Albae, kurz vor Rom, wartete Nero Ceasar, bis in der Hauptstadt alle Vorbereitungen zu einem triumphalen Einzugsspektakel abgeschlossen waren.

Ich vermute hinter dieser "show" eine handfeste politische Absicht Nero Caesars. So lange das Volk ihm zujubelte und -winkte, so lange er die offenbare Volksgunst besaß, hielten die "patres conscripti" stumm den Atem an und auch das Militär zeigte sich gehorsam. Die Volksgunst war ein wesentlicher Faktor, auch in der Herrschaft eines Caesaren. Senat und Militär fürchteten sich vor nichts mehr als vor innerrömischen Unruhen, das heißt vor einem Bürgerkrieg.

Ein letztes Mal zog Kaiser Nero in einem grandiosen Triumpfzug in Rom ein.

Der Aufstand des Vindex in Gallien bedeutete keine große Gefahr für Neros Prinzipat. Militärische Gegenmaßnahmen wurden bereits von Neapel aus in die Wege geleitet. Verginius Rufus, der Kommandant des germanischen Heeres, war offensichtlich ein Getreuer Kaiser Neros. Er griff Vindex mit seinem germanischen Heer an und besiegte dessen kleine Streitmacht. Vindex stürzte sich nach der militärischen Niederlage ins eigene Schwert.

Möglicherweise ist es derselbe Verginius Rufus, der im Jahre 97, unter dem Prinzipat des Nerva, das Konsulat ausübte und während seiner Amtszeit verstarb.

Galba, der Statthalter Spaniens, gab nach Vindex' Tod und nach der Niederlage der Gallier seine Sache und sein Leben bereits verloren. Er zog sich in die spanische Stadt Clunia zurück. Galba verbrachte, nach Plutarch, "seine Zeit mehr in Reue wegen des Geschehenen", weil er sich von Vindex zum Aufstand gegen Nero Caesar verleiten ließ, "als etwas Notwendiges zu tun".

Vom Senat in Rom wurde Galba zu allem Unglück auch noch zum Staatsfeind erklärt.

Es war Mitte bis Ende Juni als ein Freigelassener Galbas, namens Icelus, plötzlich in Clunia erschien und Galba die überraschende Nachricht brachte, daß Nero Caesar tot sei.

Plutarch berichtet ausdrücklich, daß Galba die Nachricht seines Freigelassenen zuerst gar nicht glauben konnte. Icelus versicherte Galba, daß er selber denen, die es meldeten, anfangs keinen Glauben schenkte. Erst "nachdem er ihn [Nero] liegen gesehen", habe er sich auf den Weg gemacht, um Galba von seinem Glück zu benachrichtigen.

Zwei Tage später soll auch eine Abordnung des Senats bei Galba eingetroffen sein, die ihm den verwaisten Caesarenthron anbot.

Dieser Bericht des Plutarch und noch viele andere Indizien, die ich weiter unten in chronologischer Folge aufführen werde, lassen aufhorchen. Nero Caesar besaß Ende Mai bis Anfang Juni noch die absolute Herrschaft über Rom und über die größere Militärmacht, da die meisten römischen Provinzstatthalter und Legionskommandanten ihm weiterhin die Treue hielten. Auch die Volksgunst in Rom und die Mehrheit des Senats stand noch auf Neros Seite, wenn auch die Opposition stärker geworden war. Ein absoluter Beweis für diese These ist der Senatsbeschluß, der Galba zum Staatsfeind erklärte, und der erst im April oder Mai erfolgt sein konnte.

Bereits mehrere Historiker haben die Ansicht geäußert, daß es um Neros Herrschaft im Mai des Jahres 68 u. Zr. gar nicht aussichtslos gestanden habe.

Hat Kaiser Nero die Nerven verloren und ist vor einem Mann in Panik, ja in hoffnungslose Verzweiflung geraten, der seinerseits aus Furcht vor ihm in Lethargie versunken war? Nein! Die Lösung dieses Teilrätsels ist die Lösung aller Rätsel über Nero Caesar.

Meine Hypothese lautet: Nero entsagte freiwillig dem Prinzipat. Es gelang ihm die unerkannte und ungehinderte Absetzung aus Rom und Italien. Nero floh wohl zuerst in den Osten des Reiches, möglicherweise in den Osten Griechenlands, später fand er bei dem Armenierkönig Tiridates oder sogar bei dem Partherkönig Schutz und Asyl.

 

Indizienkette zur These, daß Kaiser Nero

freiwillig dem Prinzipat entsagte

Im Frühsommer des Jahres 66 u. Zr. schloß Kaiser Nero einen Friedens-, ja möglicherweise sogar einen Freundschaftsvertrag mit Tiridates, dem König von Armenien, wahrscheinlich auch mit dessen Bruder, dem Partherkönig. Nero erhielt sogar eine Einladung des Partherkönigs zu einem Gegenbesuch.

Die Griechenlandreise, die über eineinhalb Jahre dauerte, könnte der Anlaß zu einem grundlegenden Sinneswandel Neros gewesen sein. Er erkannte so deutlich wie nie zuvor, daß sein Lebensinhalt nicht mehr mit seiner Pflicht als Herrscher des römischen Reiches vereinbar war. Noch deutlicher gesagt: Nero ekelte die Herrschaft an. Aus künstlerischen und philosophischen Gründen, der Einfluß des Stoikers Annaeus Seneca kann meiner Überzeugung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, sah Nero keinen Sinn mehr in seinem Tun und Handeln als römischer Kaiser.

"Wenn du die Zeichen deiner Macht von dir wirfst, bist du dann nicht das, was zu sein du vorgibst?" soll Seneca einst zu Nero gesagt haben.

Neros Äußerung, "die Kunst wird uns ernähren", läßt darauf schließen, daß er insgeheim sich mit dem Gedanken beschäftigte, der Herrschaft zu entsagen, um als ein Privatmann und Künstler zu leben.

Cassius Dio berichtet, Nero habe den Plan gehegt, "nach Alexandria [Ägypten] zu fahren. Er machte auch die Andeutung: >Selbst wenn wir aus unserem kaiserlichen Amt verjagt werden, wird uns dies bescheidene Talent [das Kitharaspiel] dort durchhelfen<". Cassius Dio bemerkt dazu: "So weit hatte ihn [Nero] der Verstand verlassen, daß er tatsächlich auf den Gedanken kam, ohne weiteres als Privatmann und dazu noch als Kitharöde leben zu können".

Nero hatte alles verloren, was ihn in die moralische Pflicht genommen haben könnte, die Mühe und das persönliche Opfer des Prinzipates noch länger zu tragen. Seine Mutter Agrippina war tot, sie starb während eines Schiffbruchs, seine Ehefrau Poppaea Sabina war tot, leibliche Kinder waren ihm nicht vergönnt gewesen, das heißt sie starben im Säuglingsalter.

Sueton berichtet von Neros angeblichen Vorbereitungen zu einem Feldzug. Diese Vorbereitungen waren höchstwahrscheinlich keine Angriffs-, sondern vielmehr Rückzugsvorbereitungen. Die offizielle Version war, zwecks Tarnung, Nero wolle gegen Galba in den Krieg ziehen. Sueton berichtet, daß Neros "erste Sorge der Auswahl der Wagen galt, mit denen seine Bühnenapparatur befördert werden sollte".

Kaiser Nero setzte die Konsulen vor der Zeit ab und bemächtigte sich auch ihrer Machtsphäre.

Tigellinus, den Präfekt und Chef des Geheimdienstes des Römischen Reiches, schickte Kaiser Nero auf Genesungsurlaub, da er seit einiger Zeit kränkelte. Tigellinus lebte noch im Jahre 69 und suchte in den Heilbädern von Sinuessa, im Raum Neapel, Heilung von seinen Leiden zu finden (Tacitus: Historiae, I,72).

Nero erließ eine "Notsteuer". Leute, die Privat- oder Miethäuser besaßen, mußten eine Jahresmiete an die kaiserliche Kasse abliefern. Dabei zeigte Nero sich, nach Sueton, "von einer ungeheuren Peinlichkeit und Härte" und nahm nur neue Geldstücke aus feinstem Silber und reinstem Golde an. Offensichtlich versorgte sich Kaiser Nero auf diese Weise mit dem notwendigen "Reisegeld" für seine Flucht.

Die Erhöhung des Getreidepreises hätte jedoch Neros Fluchtabsicht, durch die Gefahr eines Volksaufstandes, vereiteln können. Die Erhöhung der Preise und die Verknappung der Lebensmittel fällt daher erst in die Zeit nach seiner Flucht, als der Bürgerkrieg ausbrach.

Eine seiner letzten öffentlichen Auftritte war, "prunkvoll" das vollendete und ausgeschmückte Heiligtum (d.h. den Tempel) der vergöttlichten Poppaea Sabina einzuweihen. Eine Inschrift am Eingang des Tempels verkündete:

 

>Der vergöttlichten Sabina, der Venus, haben es die Frauen errichtet.<

Wie genial und kaltblütig Kaiser Nero seine Flucht plante und ausführte, und welche Täuschungsmanöver er sich ausdachte, um den Senat zu überlisten, davon berichtet Cassius Dio folgendes: " ... Eines Nachts ließ er [Nero Caesar] plötzlich die angesehensten Senatoren und Ritter zu sich kommen, so als wolle er ihnen eine wichtige Mitteilung über die augenblickliche [politische und militärische] Lage machen, und dann sagte er zu ihnen, ich [Cassius Dio] zitiere wörtlich: >Ich habe eine Möglichkeit gefunden, daß die Wasserorgel lauter und musikalischer klingt.< Zu derartigen Späßen war er [Nero] selbst in der damaligen Krise noch aufgelegt ..."

Offensichtlich erlaubte sich Kaiser Nero den Spaß, einige Senatoren und Ritter, die möglicherweise in Opposition zu seiner Politik standen, nachts aus dem Bett zu rufen, ihnen einen gehörigen Schrecken einzujagen und sie noch ein letztes Mal zu zwingen, seinem Orgelspiel zuzuhören.

Jawohl, Nero Caesar war kein dekadenter Weichling, sondern, ganz im Gegenteil, ein kühler und klardenkender Kopf, ein Mann, mit dem man "Pferde stehlen" konnte.

Längst schon lagen mehrere Schiffe irgendwo an der langen Küste Italiens für Nero bereit, die nur noch auf seine Ankunft warteten, um in See zu stechen. Plutarch berichtet, daß die germanische Leibwache, auf Befehl Neros, nach Alexandria verschifft wurde. Auf einem dieser Schiffe oder auf einem unauffälligeren Frachtschiff, im Geleite der römischen Kriegsflotte, befand sich - der fliehende Kaiser Nero.

Neros "Flucht" aus Rom war ein meisterhaftes und wohldurchdachtes Absetzungsmanöver, das jedoch nicht ohne ein Opfer, ein Menschenleben, gelingen konnte. Spätestens seit der Pisonischen Verschwörung könnte es Nero Caesar für nützlich und lebensrettend erachtet haben, sich einen Doppelgänger zuzulegen. Irgendein armer junger Sklave, der dem Kaiser in rotblonder Haarfarbe, in Größe, ja sogar im Gesicht sehr ähnlich sah, er mußte ein vorspringendes, ein sogenanntes "energisches" Kinn besessen haben, fiel plötzlich das unverhoffte Glück zu, in die Schar der Hausbediensteten des Kaisers aufgenommen zu werden. Möglicherweise wurde ihm sogar von Tigellinus, dem Polizeipräfekten, ganz offen die Rolle eines Doppelgängers angeboten. Über die Gefahr, in die er sich dadurch begab, war sich der junge Mann allerdings anfangs kaum oder nur wenig bewußt.

Damit der echte Nero von der Kaiserbühne, ja sogar gänzlich von der Bühne der Welt abtreten konnte, um ein relativ gefahrloses Leben unter einem bürgerlichen Incognito führen zu können, mußte der falsche Nero, der Doppelgänger, sterben.

Nero Caesar entkam in einer Sänfte oder z. B. als ein einfacher Prätorianer verkleidet im Schutze der Nacht und in Begleitung einiger Getreuer unbemerkt aus der Stadt Rom. Er ritt im Eiltempo an die Küste, wo seine Schiffe zur Flucht bereitstanden.

Wohl erst in der darauf folgenden Nacht begann das Drama des Doppelgängers. Vier Freunde Neros, der Freigelassene Phaon, der junge Sporus Sabinus, der Freigelassene und (ehemalige) Minister für Bittschriften Epaphroditus und möglicherweise noch (nach Schiller) der Freigelassene Neophytus, nahmen den Doppelgänger in ihre Mitte und ritten mit ihm bis zum Landhaus des Phaon, das ungefähr fünf Kilometer von Rom entfernt zwischen der Via Salaria und der Via Nomentana stand.

Sueton berichtet, daß der angebliche Nero barfuß und nur in eine Tunika gekleidet gewesen wäre. Dem Doppelgänger wurden absichtlich die Schuhe ausgezogen, damit er nicht noch im letzten Augenblick davonrennen und die Flucht Nero Caesars verraten konnte.

In dieser Nacht wurden die Prätorianer vom Palast des Kaisers abbefohlen. Kurz darauf verließen die Freigelassenen und Sklaven ebenfalls den Palast. Sie nahmen an Kostbarkeiten mit, was sie zu tragen vermochten. Der Senat von Rom wurde kurze Zeit später benachrichtigt. Eine Abordnung von Senatoren begab sich zum Palatin und wollte den Kaiser sprechen. Sie fanden einen gespenstisch leeren Palast vor. Kaiser Nero war wie vom Erdboden verschluckt.

Die Prätorianer durchstreiften die Stadt und durchsuchten jedes Haus nach dem Kaiser, jedoch vergebens. Derweilen debattierten die "patres conscripti" heftig im Senat, was dies zu bedeuten habe.

Schließlich wurde von irgendjemandem das Gerücht in die Welt gesetzt, natürlich ganz nach Plan, Kaiser Nero befände sich auf dem Landgut des Phaon. Eine Kohorte Prätorianer wurde abgeschickt, um das Gerede zu überprüfen.

Beim Nahen der Prätorianer stieß (angeblich) Epaphroditus dem Doppelgänger Neros einen Dolch durch die Kehle. Er war, nach Sueton, bereits halbtot als ein Offizier hereintrat. Der angebliche Nero Caesar lag in einer Blutlache in den letzten Todeszuckungen. Mit einem Messerstich durch die Kehle konnte der Doppelgänger die Flucht Kaiser Neros auch nicht mehr im allerletzten Augenblick verraten. Der angeblich letzte Satz Kaiser Neros "welch ein Schauspieler stirbt mit mir" ist daher wiederum "fumus", denn mit einem Schnitt durch die Kehle kann man nicht mehr sprechen.

Die Prätorianer, die ihrem Kaiser bis zu dieser Stunde die Treue hielten, standen zutiefst erschüttert vor der Leiche des angeblichen Nero Caesar.

Der Freigelassene Phaon und der Minister für Bittschriften, Epaphroditus, erzählten dem Offizier der Prätorianer das Lügenmärchen, Nero Caesar habe aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit wegen der Aufstände in Gallien und Spanien Selbstmord verübt. Die Prätorianer brachten die angebliche Leiche des Kaisers nach Rom.

Bei der Nachricht vom angeblichen Selbstmord Nero Caesars glich Rom wieder einmal einem einzigen Irrenhaus. Die Nero - Anhänger brachen bei der Nachricht seines angeblichen Todes in weinende Verzweiflung aus. Die Opposition schickte ihre Klienten auf die Straße, um den Tod Neros "feiern" zu lassen.

Icelus, ein Parteigänger und Agent Galbas, der nach Rom gekommen war, wohl um die politische Lage zu erkunden, war verhaftet worden und saß im Gefängnis. Nach dem angeblichen Tode Neros wurde er freigelassen. Zuerst vergewisserte er sich mit eigenen Augen, ob Nero wirklich tot sei, dann erst kehrte er zu Galba nach Spanien zurück, um ihm die freudige Nachricht seines unverhofften Glückes zu überbringen. Verwundert hörte Galba vom angeblichen Selbstmord Nero Caesars und konnte es anfangs gar nicht glauben. Zwei Tage später kam eine Abordnung des Senats, die ihm den Beschluß überbrachte, daß er zum Nachfolger Neros auf dem Caesarenthron auserwählt worden sei.

Der Polizeipräfekt Tigellinus, wie auch der Prätorianerpräfekt Nymphidius Sabinus konnten sich auch nach Neros Flucht noch einige Monate lang unangefochten in ihren Machtpositionen behaupten.

Der angebliche tote Kaiser Nero, in Wirklichkeit war es sein ermordeter Doppelgänger, wurde mit einem Kostenaufwand von zweihunderttausend Sesterzen beigesetzt. Die Leiche wurde in goldbestickte, weiße Kleider gehüllt, die der echte Kaiser noch kurz zuvor getragen hatte, und verbrannt, wie es römischer Bestattungsbrauch war. Die Asche bargen Neros Ammen Egloge und Alexandria und, man höre und staune, sogar seine frühere Geliebte, Claudia Acte, befand sich in Rom und beteiligte sich an der Bestattung des angeblichen Nero Caesar.

In der Begräbnisstätte der Domitier, die man in der Antike, nach Sueton, "vom Marsfeld aus hoch oben auf dem Gartenhügel [Monte Pincio] liegen sah", wurde die Asche aufbewahrt. "Darin steht ein Sarkophag aus Porphyr, darüber ein Altar aus lunesischem Marmor, das Ganze eingefaßt mit thasischem Stein".

Möglicherweise wurde auf Betreiben einiger Nero-Getreuer die angebliche Leiche des Kaisers so schnell als möglich verbrannt. Jetzt konnte niemand mehr auf den Einfall kommen, den Toten genauer zu untersuchen.

Sueton berichtet, daß es nicht an Leuten fehlte, die noch lange Zeit hindurch Neros (angebliches) Grab mit Frühlings- und Sommerblumen schmückten.

Es gab sogar Neroanhänger, die "Bildnisse von ihm mit der senatorischen Toga bekleidet bei der Rednertribüne aufstellten", ja sogar Edikte (Briefe) Neros herumzeigten, "als ob er noch lebe und binnen kurzem zum Verderben seiner Gegner wiederkehren werde. Ja selbst Vologaesus, der Partherkönig, verwendete sich anläßlich einer Gesandtschaft an den Senat wegen einer Erneuerung des Bündnisses lebhaft dafür, das Andenken Neros zu pflegen".

In Rom und im Römischen Reich brach der Bürgerkrieg aus. Der Senat hatte Galba zum Nachfolger Neros auf dem Cäsarenthron bestimmt. Dies gefiel jedoch dem Prätorianerpräfekt Nymphidius Sabinus, dem natürlichen Sohn des Kaisers Gaius (Caligula), gar nicht.

Nymphidius gab sich nur zum Schein als ein Galbaanhänger. In Wirklichkeit strebte er selber nach dem Thron. Er beteiligte sich an der Verfolgung von Nerogetreuen und als er schließlich glaubte, seine Machtposition sei stark genug, unternahm er den Versuch, die Prätorianer zum Putsch gegen Galba aufzuwiegeln. Um Mitternacht wollte er sich mit einigen Anhängern in die Kaserne der Prätorianer begeben.

Der Plan muß verraten worden sein. Der Kriegstribun Antonius Honoratius versammelte die Prätorianer bereits vor der Ankunft des Nymphidius Sabinus und hielt ihnen, nach Plutarch, folgende Ansprache: Er schalt zuerst sich, Antonius Honoratius, selber und dann die Soldaten, weil sie innerhalb kurzer Zeit so oft die politische Stellung gewechselt hätten, von Nero zu Galba und von diesem jetzt wieder zu Nymphidius, und nicht nach einem wohlüberlegten Plan handeln würden, um sich für den Besseren zu entscheiden, sondern "weil ein Dämon sie von Verrat zu Verrat treibe". Wörtlich berichtet Plutarch über die Rede des Antonius: "Auch jenen [Kaiser Nero] hätten wir trotz solcher Verbrechen [der "fumus" von Neros angeblichem Mutter- und Gattenmord könnte gemeint sein] nicht gewagt, im Stich zu lassen, sondern weil wir Nymphidius glaubten, daß er [Nero] zuerst uns im Stich gelassen habe und nach Ägypten geflohen sei".

Ausdrücklich wird von Plutarch berichtet, daß Nymphidius Sabinus, der Prätorianerpräfekt, vom Tode Neros keineswegs überzeugt war. Er beschuldigte den Kaiser, seine Prätorianer im Stich gelassen zu haben und nach Ägypten geflohen zu sein.

Der Kriegstribun Antonius Honoratius rief die Prätorianer auf, Nymphidius für seinen Putschversuch zu bestrafen, um als Rächer Neros und als gute und getreue Wächter Galbas aufzutreten.

Als Nymphidius mit einigen Anhängern um Mitternacht die Kaserne betrat, war die Stimmung der Prätorianer bereits zu seinen Ungunsten umgeschlagen. Als das Tor hinter ihm zufiel, wurde er von Galbaanhängern ermordet.

Galba griff hart durch. Ohne Gerichtsverhandlung ließ er Freunde des Nymphidius Sabinus umbringen. Plutarch berichtet, daß "alle eine andere Form der Herrschaft" von Galba erwartet hätten, "in dem sie sich wie gewöhnlich durch die am Anfang gemachten Versprechungen täuschen ließen. Noch mehr erbitterte sie der Befehl zur Hinrichtung eines gewesenen Konsuls, der Nero treu geblieben war: Petronius Turpilianus".

Galba wurde ermordet, weil er sich weigerte, den Prätorianern beim Antritt seines Prinzipats ein Geldgeschenk zu machen, wie vor ihm Claudius und Nero. Otho, sein Nachfolger, gab sich nach einer verlorenen Schlacht selber den Tod, um Rom und das Reich nicht dem totalen Bürgerkrieg und damit dem Untergang zu weihen. Seine letzte Rede an die Getreuen enthielt einen konkreten Vorwurf gegen Nero. Nach Cassius Dio sprach Otho zu seinen Soldaten: "... Was mich anlangt, will ich mich selbst befreien, auf daß alle auch aus der Tat erkennen: Ihr habt zum Kaiser einen solchen Mann auserwählt, der nicht euch [die Soldaten] aufgab, um sein eigenes Leben zu retten [wie Kaiser Nero], sondern sich [aufgab], damit ihr am Leben bleibt!"

Als dritter Soldatenkaiser zog Vitellius in Rom ein. Vitellius wurde von Vespasians Bruder in Rom eingeschlossen, belagert und besiegt. Die Eroberung Roms im Jahre 69 u. Zr. richtete höchstwahrscheinlich größere Schäden an als der große Brand des Jahres 64, zumindest an den öffentlichen Gebäuden und an den Tempeln.

Tacitus berichtet in den >Historien<, daß bereits unter der Herrschaft des Otho ein angeblicher Doppelgänger Neros aufgetreten sei.

"... Um eben diese Zeit [ungefähr zu Anfang des Jahres 69 u. Zr.] gerieten Achaja [Griechenland] und Asien ... durch die Nachricht in Schrecken, Nero komme an, da die Gerüchte über seinen Tod verschiedenartig waren ..."

Nach Tacitus war es angeblich "... ein Sklave aus Pontus oder, wie andere berichtet haben, ein Freigelassener aus Italien, des Citharaspiels und Gesanges kundig, was neben seiner Ähnlichkeit im Aussehen ihm noch mehr Beglaubigung für seinen Betrug verschaffte, nachdem er Deserteure an sich gezogen, die er, da sie mittellos umherirrten, durch ungeheure Versprechungen bestochen hatte."

Cassius Dio berichtet genau das gleiche: "Damals versetzte ein Mann, der sich wegen seiner Ähnlichkeit mit Nero als diesen ausgab, beinahe ganz Griechenland in Aufruhr; er bildete aus Verbrechern eine Truppe und zog damit gegen die Legionen in Syrien. Als er aber durch Kydnos kam, nahm ihn Calpurnius fest und ließ ihn hinrichten."

Aus diesen Berichten des Tacitus und Cassius Dio können wir schließen, daß Nero sich nach Griechenland wandte, um dort als Kitharaspieler, Sänger und Schauspieler aufzutreten. Höchstwahrscheinlich wurde er in Griechenland als Kaiser Nero wiedererkannt. Es gelang ihm wohl nicht, sein Incognito zu wahren. Wenige Monate später mußte sich Nero mit einer Schar von Bewaffneten umgeben, um sich vor einer Festnahme seitens des Römischen Heeres zu sichern. Nero versuchte offensichtlich, sich durch Kleinasien (die heutige Türkei) und über den Euphrat nach Armenien oder ins Partherreich durchzuschlagen. Er wurde keineswegs von Calpurnius festgenommen und hingerichtet, dies beweist ein Abschnitt in den Sibyllinischen Büchern und Neros erneutes Auftreten etwa zwölf Jahre später.

In den Sibyllinischen Orakel, viertes Buch, steht:

"... Und dann wird von Italien der große König [Nero Caesar], wie ein Entlaufender, fliehen, verschwunden, verschollen, über den Strom Euphrat, welcher einst Blutschuld schrecklichen Mordes an der Mutter wagen wird [richtig: angeblich wagte], und vieles andere ["fumus" über Neros angebliche Verbrechen], der bösen Hand folgend. Viele aber werden um den Thron Roms den Boden mit Blut besudeln, nachdem jener [Nero Caesar] entlaufen ist jenseits des parthischen Landes ..."

Die Indizien, die auf Nero deuten, sind unverkennbar. Der "große König von Italien", damit ist unzweifelhaft Nero Caesar gemeint. Der "fumus" von Neros angeblichen Verbrechen wurde, wegen seiner Flucht aus Rom und wegen seines "Verrates", zu einer regelrechten staatlichen Hetzpropaganda gegen ihn verwendet. Und die Vielen, die um den Thron Roms den Boden mit Blut besudelt haben, damit sind die Soldatenkaiser Galba, Otho, Vitellius und Vespasian gemeint. Wir können konstatieren, daß Neros "Flucht" vor dem Prinzipat auch den Verfassern der Sibyllinischen Orakel bekannt war.

Bei Cassius Dio finden wir den konkreten Hinweis, daß ungefähr elf oder zwölf Jahre später, unter der Regierung des Titus (79 - 81 u. Zr.), erneut ein (angeblich falscher) Nero auftrat, mit Namen Terentius Maximus, der Nero äußerlich wie auch in der Stimme geglichen habe. Er suchte möglicherweise jetzt erst Zuflucht bei dem Partherkönig. "Dieser gewährte aus Groll gegen Titus dem Manne [dem früheren Kaiser Nero] nicht nur einen freundlichen Empfang, sondern traf auch Vorbereitungen, ihn nach Rom zurückzubringen."

In dem sogenannten Ergänzungsbericht zu Cassius Dio (Quelle: Joann. Antioch. fr. 104 (Muell.) steht es noch deutlicher:

"Unter der Regierung des Titus ... gab sich ein Mann als Nero aus und behauptete, er sei einst den gegen ihn ausgesandten Soldaten entgangen und habe bisher irgendwo im Verborgenen gelebt. Tatsächlich vermochte er durch diese Angaben viele Leute aus Asia Minor als Anhänger zu gewinnen, und während er nun zum Euphrat hin weiter zog, vermehrte er noch sein Gefolge um eine weit größere Zahl. Schließlich nahm der Mann Zuflucht bei den Parthern und erklärte, sie schuldeten ihm wegen der Überlassung Armeniens eine gewisse Entschädigung ..."

Über zwölf Jahre nach Neros gelungener "Absetzung" aus Rom hören wir also erneut von ihm, im Zusammenhang mit der Regierungszeit des Kaisers Titus. Es wird berichtet, daß er bei dem Partherkönig Schutz und Asyl fand. Ja der Partherkönig wollte möglicherweise sogar Nero zum Caesarenthron zurückverhelfen. Ob Nero beabsichtigte, ein zweites Mal Kaiser des römischen Reiches zu werden? Ich glaube es nicht.

Von Kaiser Domitian wird bei Cassius Dio berichtet, daß er Epaphroditus, Neros Freigelassenen und ehemaligen Minister für Bittschriften, unter dem Vorwand ermorden ließ, Epaphroditus habe Kaiser Nero nicht "geholfen", das heißt, nicht vom Selbstmord abgehalten. Wir wissen jedoch, daß Epaphroditus mit noch zwei oder drei anderen Getreuen seinem Kaiser sogar aktiv zur Flucht verhalf, indem ein Doppelgänger Neros ermordet und dieser als der tote (selbstgemordete) Kaiser ausgegeben wurde. Mehr als dreizehn Jahre nach der "Flucht" Neros mußte der Freigelassene Epaphroditus noch sterben, weil Kaiser Domitian sich möglicherweise vor einer Neronischen Opposition fürchtete. Offensichtlich wollte Kaiser Domitian Epaphroditus bestrafen, weil er dem "Verräter" Nero zur Flucht verhalf.

Bemerkenswert ist, daß Flavius Josephus sein Werk >Jüdische Altertümer< dem Epaphroditus, Neros Freigelassenen und ehemaligen Minister für Bittschriften, gewidmet hatte.

Das Gerücht von Neros Flucht aus Rom und daß er "noch leben" würde, hielt sich bis ins 11. christliche Jahrhundert.

Hermann Schiller schrieb in seiner Nero - Biographie (Seite 290): "... Noch Augustin findet es für nötig gegen die Ansicht, Nero sei nicht gestorben, zu protestieren; aber selbst noch am Ende des 11. Jahrhunderts unter Paschal II. beunruhigte sein [Neros] Geist die Umgebung des Monte Pincio [in Rom] und erst die kräftigsten Exorzismen und die Erbauung der Kirche S. Maria del Popolo konnten die abergläubischen Bewohner in ihrer Angst vor dem Schatten des heidnischen Kaisers beruhigen ..."

Die italienische Sage von einer Wiederkehr Kaiser Neros hat ein Pendant in der deutschen Sage von Kaiser Barbarossa, der "eines Tages wiederkommen werde, um sein geknechtetes Volk von den Peinigern zu befreien".

Solche Hoffnung eines Volkes kann sich doch wohl nur auf gute und gerechte Herrscher gründen. Es ist ein weiteres sehr gewichtiges Indiz dafür, daß Neros Prinzipat die "beste Epoche war, die Rom je kannte".

 

XXI. Kapitel

Staatliche Propagandahetze gegen Nero

Nero Caesar war ein Mann der Gerechtigkeit und der Liberalität. Sein Prinzipat stand unter der Regierungserklärung der "Wiederkehr des goldenen Zeitalters" für die Menschheit. Er wollte nach den Grundsätzen des Augustus regieren, ja dessen Prinzipat an Gerechtigkeit und an demokratischen Freiheiten für das römische Volk noch überbieten. Kaiser Trajan äußerte daher mit Recht, daß Neros Prinzipat die beste Epoche gewesen sei, die Rom je gekannt habe.

Nero Caesar wollte die Grenze des Römischen Reiches befrieden. An ihre Erweiterung dachte er schon gar nicht. Er versuchte außerdem, die Verwaltung und die Verfassung des Reiches durch eine "Revolution von oben" zu reformieren. Die Rechtsprechung wurde strenger gehandhabt und die Einhaltung der Gesetze strenger überwacht.

Die vielen Putschversuche und Caesarenmorde dokumentieren die Labilität des sogenannten Prinzipates. Jeder Caesar mußte, um an der Herrschaft zu bleiben und um sein Leben zu erhalten, gegen eine schwankende Volksgunst, gegen ein aufrührerisches Offizierscorps und gegen die Machtintrigen des Senats ankämpfen.

Es war wohl nur noch eine Frage der Zeit, wann Neros Politik der "Wiederkehr des goldenen Zeitalters" gescheitert wäre. Um an der Macht bleiben zu können, wäre er früher oder später gezwungen gewesen, zu den brutalen Polizeimitteln eines früheren Tiberius oder eines späteren Domitian zu greifen.

Die heidnische Reaktion, die nach der erfolgreichen Absetzung Neros aus Rom und Italien einsetzte, ließ erst die Urchristen zu Staatsfeinden erklären und systematisch verfolgen. In den Bürgerkriegswirren unter den Soldatenkaisern Galba, Otho, Vitellius und Vespasian könnten die ersten Christenverfolgungen begonnen haben. Erst unter Domitian begannen sie zahlenmäßig größere Ausmaße anzunehmen.

Unter Domitian entstand wohl auch das antike Propagandawerk >Apollonius von Tyana<, in welchem ein Apollopriester zu einem heidnischen "Christusideal" hochstilisiert wurde.

Was waren denn nun die wirklichen Verbrechen Kaiser Neros gewesen? Sein "Haupt- und Staatsverbrechen" war, Selbstmord vorgetäuscht und sein Prinzipat (römisches Volk und Heer) "im Stich gelassen" zu haben, wodurch das Römische Staatswesen unzweifelhaft in einen furchtbaren Bürgerkrieg stürzte. Dies muß man, bei allem Mitgefühl für den unglücklichen Nero Caesar, als ein wirkliches Verschulden ansehen. Nero entledigte sich auf eine unrechtmäßige Art und Weise seiner ihm vom Staate übertragenen Aufgabe und Verantwortung. Mildernde Umstände können wir ihm nur aufgrund der persönlichen Schicksalsschläge (Tod der Kaiserinmutter Agrippina, Tod der Ehefrau Poppaea Sabina, Tod seiner Kinder) und anderer Unglücksfälle während seines Prinzipats (die sogenannte Pisonische Verschwörung und eine furchtbare Pockenepidemie) zubilligen. Außerdem ist als Milderungsgrund zu bedenken, daß es für einen römischen Kaiser beinahe unmöglich war, sich ins Privatleben zurückzuziehen. Nur Tiberius brachte dieses "Kunststück" fertig, als er im hohen Alter die Regierungsverantwortung einigen Bevollmächtigten übergab und nach Capri ging.

Ein weiteres Staatsverbrechen Nero Caesars war, daß er sich unrechtmäßig aus der Römischen Staatskasse bereicherte.

Außerdem sah sich der nunmehrige Privatmann und Künstler Nero schon bald nach seiner Absetzung aus Rom gezwungen, sich mit einer bewaffneten Streitmacht zu umgeben, um einer Verhaftung und damit dem sicheren Todesurteil zu entgehen. Durch kriegerische Auseinandersetzungen mit dem legitimen römischen Heer wurde der frühere Kaiser Nero jetzt sogar, rechtlich gesehen, zum Bandenführer und Räuberhauptmann. Die Bemerkung von Cassius Dio, daß Nero sich mit einer "Verbrecherbande" umgab, um sich vor einer Verhaftung zu schützen, besteht daher völlig zu Recht.

Ich konstatiere: Erst mit seiner heimlichen und illegitimen Absetzung aus Rom und bei seiner weiteren Flucht aus Griechenland, durch die heutige Türkei bis ins Partherreich, wurde der frühere Kaiser Nero zu einem wirklichen Staatsverbrecher.

Nicht zuletzt weil Nero ausgerechnet bei den Parthern, den Feinden Roms, Schutz und Asyl fand, fiel der frühere Kaiser Nero der "damnatio memoriae" anheim. Seine Standbilder wurden aus den öffentlichen Gebäuden entfernt, seine eigenen (literarischen) Schriften und die Nero - Biographie des Cluvius Rufus wurden verboten. Um dem einfachen Volke einen Grund für die damnatio memoriae des früheren Kaiser Nero anzugeben (den wirklichen Grund, Neros "Flucht" vor dem Prinzipat, wagte man nicht öffentlich einzugestehen), mußte seine Biographie und sein Prinzipat ins Abscheuliche verfälscht werden.

Ein erstaunliches Phänomen mag dazu beigetragen haben: Im Volke, also unter den Sklaven und armen Freigelassenen, natürlich auch unter einigen Intellektuellen, hielt sich die Sehnsucht nach dem gerechten Prinzipat des Nero Caesar noch jahrzehntelang wach. Es mußte daher eine "Gegenpropaganda" geschaffen werden, die "beweisen" sollte, daß Neros Herrschaft wie auch seine Person, naiv ausgedrückt, nicht gut, sondern angeblich verlogen und abgrundtief böse gewesen wäre.

Die >Annalen< des Tacitus, die Geschichtswerke eines Sueton und Cassius Dio, die ursprünglich kritisch geschrieben und der größtmöglichen Wahrheit verpflichtet gewesen sein mögen, wurden von späteren antiken Propagandisten systematisch ins Abscheuliche umgeschrieben und verfälscht.

Möglicherweise waren bereits Tacitus, Cassius Dio und Suetonius die ersten Geschichtsverfälscher, aus Unwissenheit oder eigener Fehlinformiertheit und/oder weil sie die reine Wahrheit über Nero Caesar gar nicht schreiben und schon gar nicht veröffentlichen durften, wegen der antiken kaiserlichen Zensurverordnungen.

Auch die Päpste des frühen Mittelalters könnten in Versuchung gewesen sein, die Geschichtswerke über die ersten zwölf Caesaren systematisch zu interpolieren. Im fünften bis achten Jahrhundert u. Zr. befanden sich wahrscheinlich in der päpstlichen Bibliothek oder in anderen Klosterbibliotheken noch die urspünglichen Geschichtswerke von Tacitus, Cassius Dio und Suetonius, außerdem die Nero - Biographie des Cluvius Rufus, in welcher Nero möglicherweise verherrlicht wurde, weil er, nach Flavius Josephus, "nur Gutes" über den Kaiser berichtet habe. Möglicherweise war auch noch die Autobiographie der Kaiserin Agrippina vorhanden.

Außerdem fanden sich in den Bibliotheken einige Propagandaschriften, in welchen die Person und die Herrschaft Neros und seiner Mutter Agrippina ins Abscheuliche verfälscht waren.

Im Glaubenseifer könnte es einem oder sogar zu verschiedenen Zeiten mehreren der sehr frühen Kirchenführer eingefallen sein, wie der Prinzipat Neros so auch die Herrschaftszeiten der anderen elf Caesaren ins Abscheuliche zu verfälschen.

Die größte und früheste Geschichtsverfälschung, bereits von heidnisch - antiken Propagandisten ausgeführt, wurde jedoch über Leben und Prinzipat Neros (nach Ernst Kornemann auch über Leben und Prinzipat des Tiberius) begangen.

Ich wage sogar die Hypothese, daß die heidnisch - antike Geschichtsverfälschung nicht nur wegen Neros "Flucht" aus Rom und weil er ausgerechnet bei den Feinden Roms Asyl fand veranlaßt wurde, sondern, weil das Neronische Prinzipat und die Stoische Staatsphilosophie Senecas (bewußt oder unbewußt) so eng mit dem Urchristentum verbunden war. Die "damnatio memoriae" könnte eine heidnische Reaktion gegen die Neronische "Staatsphilosophie der milden Herrschaft" gewesen sein.

Die frühen Päpste sahen keinen Grund, trotz eventuell noch unverfälschter schriftlicher Zeugnisse über den wirklichen Nero und sein wirkliches Prinzipat, einen heidnisch - antiken Caesaren zu rehabilitieren. Im vierten oder fünften Jahrhundert war das Verdienst Senecas und die Toleranz Neros gegenüber dem Urchristentum bereits in Vergessenheit geraten. Das beweisen die vielen Märtyrer- und Heiligenlegenden, die von der geschichtlichen Realität weit entfernt sind, nicht nur was Nero betrifft.

Möglicherweise, die Wahrscheinlichkeit ist allerdings mehr als gering, befindet sich in der Geheimbibliothek des Vatikan noch die Nero - Biographie des Cluvius Rufus? Dieses Geschichtswerk enthält bedeutend mehr geschichtliche Wahrheit als die Propagandawerke, die uns unter den Namen eines Tacitus, Sueton und Cassius Dio bekannt sind.

Aus Glaubensgründen und aus Verachtung vor dem angeblichen Christenverfolger Nero, der angeblich auch die Apostel Petrus und Paulus den Märtyrertod sterben ließ, wurde das Werk des Cluvius Rufus von der Curie möglicherweise bisher nicht "freigegeben", da es bis heute als ein heidnisches Propagandawerk angesehen wurde. Dabei ist es gerade umgekehrt, nicht die Nero - Biographie des Cluvius Rufus, sondern die Werke der anderen sind Propagandaschriften, bzw. die größeren Geschichtsverfälschungen.

 

XXII. Kapitel

Zwölf Hauptthesen über Nero Caesar

I. These

Die Ehe der Agrippina mit Kaiser Claudius wurde von Anfang an im Hinblick auf die Thronfolge Neros geschlossen.

Da Nero der designierte Nachfolger des Claudius war, brauchte Agrippina den Kaiser nicht vergiften zu lassen. Claudius, wie auch sein epileptischer Sohn Britannicus, starben eines natürlichen Todes. Weder Agrippina noch Nero waren Giftmörder und brauchten daher auch nicht einer von dem anderen einen Mordanschlag zu fürchten.

II. These

Neros erste Ehefrau Octavia war höchstwahrscheinlich nicht die Tochter der Kaiserin Messalina, sondern die Tochter der Urgulanilla Plautia, der ersten Ehefrau des späteren Kaisers Claudius. Siehe das Cameo auf Seite 25 dieses Buches.

Octavia wurde keinesfalls von ihrem Gemahl, Kaiser Nero, ermordet; nicht einmal aus Italien verbannt.

III. These

Auch die Kaiserinmutter Agrippina wurde keineswegs von ihrem Sohn Nero Caesar ermordet, sondern sie verlor bei einem Schiffbruch das Leben. Im Verlaufe der Untersuchungen über die Schiffskatastrophe kamen die Sicherheitskräfte möglicherweise der ersten Verschwörung gegen Neros Prinzipat auf die Spur. Es gibt Indizien in den >Annalen< des Tacitus, die darauf schließen lassen, daß der Tod der Agrippina im Zusammenhang mit einer Konspiration gestanden haben könnte.

IV. These

Wegen Kinderlosigkeit trennte sich Kaiser Nero von seiner Ehefrau Octavia und heiratete kurz darauf seine Geliebte, Poppaea Sabina, die möglicherweise bereits vor der Heirat von Kaiser Nero schwanger war.

V. These

Die mittlere Tochter des Kaisers Claudius, namens Antonia, beteiligte sich an der Pisonischen Verschwörung und wurde höchstwahrscheinlich deswegen auf die Insel Pandateria verbannt.

VI. These

Viele der angeblichen "Mordopfer" Nero Caesars sind in Wirklichkeit an der Pockenepidemie im Herbst des Jahres 65 u. Zr. gestorben. Auch die Apostel Petrus und Paulus könnten an den Pocken gestorben oder gar durch direkte "Terroranschläge" der sogenannten Pockenstecher mit Pocken infiziert und getötet worden sein. Während des Neronischen Prinzipats wurde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein sogenannter "Urchrist" wegen seines Glaubens verfolgt oder gar getötet.

VII. These

Die angeblichen sexuellen Perversitäten Neros, die augenscheinlich von seiner Theaterspielerei abgeleitet wurden, sind ebenfalls Propagandalügen. Die antiken Geschichtsverfälscher haben ganz einfach Neros Theaterspielerei mit der Realität gleichzusetzen versucht.

Ebenso halte ich die angeblichen sexuellen Perversitäten der ersten fünf Caesaren (Julius Caesar, Augustus, Tiberius, Gaius [Caligula] und Claudius) für "fumus", bzw. für Propagandalügen der antiken Geschichtsschreiber, die dafür, nach Flavius Josephus, unsere "vollste Verachtung" verdienen.

VIII. These

Wegen der "Flucht" vor dem Prinzipat verfiel Nero auf Senatsbeschluß der "damnatio memoriae". In den Augen des römischen Senates und seiner Nachfolger auf dem Caesarenthron, wie etwa Galba, Otho, Vitellius, Vespasian oder Domitian, war Nero ein "Verräter" an der Sache Roms. Nicht zuletzt deswegen, weil Nero ausgerechnet bei den Parthern, bei den Feinden Roms, Schutz und Asyl fand, wurde er als ein "Verräter" angesehen.

Zur "damnatio memoriae" genügte es aber nicht nur, Neros Namen aus historischen Inschriften herauszumeißeln, seine Büsten und Standbilder zu zerstören und seine Münzen einzuschmelzen, sondern es mußte auch seine Biographie und seine Herrschaft systematisch ins Abscheuliche umgeschrieben oder von Anbeginn an (bereits von Tacitus?) verfälscht dargestellt werden.

Auch Neros Mutter Agrippina, seine Ehefrauen Octavia und Poppaea Sabina, wie auch andere Personen, die mit Nero verwandt waren, fielen zwangsläufig der "damnatio memoriae" zum Opfer.

IX. These

Während des Neronischen Prinzipats konnte sich der Monotheismus, darunter auch die christliche Urgemeinde, ungehindert ausbreiten.

Mit dem Pseudonym "Theophilus", dem Gottesfreund, könnte nicht nur Annaeus Seneca oder Epiktet, sondern sogar Kaiser Nero gemeint sein.

X. These

Von den antiken "Geschichtswerken" (den >Annalen< des Tacitus, den >Leben der zwölf Caesaren< von Sueton und den Bruchstücken eines Geschichtswerkes von Cassius Dio) bleiben, zumindest was Nero Caesar betrifft, nur einige wenige biographische Informationen als geschichtliche Wahrheit bestehen. Der überwiegende Teil dieser "Geschichtswerke" besteht aus Propagandalügen und frei erfundenen Gruselgeschichten. Das Urteil des Flavius Josephus sowie das Senecas über die römischen Geschichtsschreiber (siehe Seite 4) ist geradezu vernichtend.

Nicht die ersten Kirchenführer und frühen Päpste gaben die Geschichtsverfälschungen über Kaiser Nero in Auftrag, wie man bisher vermutete, sondern Nero fiel bereits kurze Zeit nach seiner "Flucht" aus Rom einer staatlich angeordneten antiken Propagandahetze anheim.

Der wirkliche Grund für Neros Verdammung, nämlich heimliche Flucht vor dem Prinzipat und Asyl bei den Feinden Roms, wurde aus staatspolitischem Interesse nicht öffentlich zugegeben. Stattdessen wurde die Person und die Herrschaft Neros ins Abscheuliche "umgeschrieben".

Der tatsächliche Grund für die "damnatio memoriae" ist die "Flucht" Neros vor dem Caesarenthron, nicht weil er ein abscheulicher Mensch und Herrscher gewesen wäre.

XI. These

Der letzte Anlaß und der tiefste Grund dafür, weshalb Nero Caesar im Mai des Jahres 68 u. Zr. den Entschluß faßte, dem Caesarenthron aus freiem Willen zu entsagen, diese Frage bleibt wohl für immer unbeantwortet. - So glaubte ich noch bis zum Abschluß der II. überarbeiteten Auflage zu Anfang des Jahres 1992. Inzwischen, nach einem tieferen Studium der Stoischen Philosophie und speziell von Senecas philosophischem Oevre, bin ich überzeugt, auch die Lösung dieses Rätsels gefunden zu haben. Lucius Annaeus Seneca schrieb in dem Werk >Über die Muße< (De Otio):

[Kapitel III.2] "[...] Zwei Schulen sind am meisten [...] verschiedener Meinung: die der Epikureer und die der Stoiker; aber jede von beiden schickt (uns) zur Muße auf verschiedenem Wege. Epikur sagt: >Nicht wird in die Politik gehen der Weise, außer wenn etwas eintritt.< Zenon sagt: >Er wird in die Politik gehen, außer wenn ein Hindernis eintritt.< (3) Der eine sucht die Muße mit Absicht, der andere auf Grund eines Anlasses. Als Anlaß aber kommt folgender in weitem Umfange in Frage: Wenn der Staat zu verkommen ist, als daß man ihm helfen könnte; wenn er verdunkelt ist von verhängnisvollen Umständen, dann wird sich der Weise nicht umsonst bemühen noch sich, ohne helfen zu können, aufopfern [...] so wird er einen Weg, den er als unbegehbar kennt, nicht beschreiten [...]

[Kapitel VIII.1] Nimm nun hinzu, daß man nach dem Gesetz des Chrysippos in Muße leben darf: Nicht sage ich, daß man die Muße dulde, sondern wähle. Wir Stoiker behaupten nicht, der Weise werde in einem beliebigen Staatswesen eine Tätigkeit übernehmen: Was aber macht es für einen Unterschied, wie der Weise zur Muße kommt - weil der Staat ihm fehlt oder er selber dem Staat, wenn allen der Staat fehlt? Stets aber wird er fehlen denen, die anspruchsvolle Forderungen stellen. (2) Ich frage, in welchem Staat der Weise eine Tätigkeit übernehmen wird: Athen, wo Sokrates verurteilt wurde? Aristoteles, um nicht verurteilt zu werden, floh? In einem Staat, in dem Gehässigkeiten die sittlichen Fähigkeiten überwältigt haben? [...] (3) Wenn ich die Staaten einzeln mustern will, werde ich keinen finden, der den Weisen oder den der Weise ertragen könnte. Wenn nun nicht gefunden wird der Staat, den wir uns vorstellen, dann beginnt für alle [Stoiker] Muße notwendig zu werden, weil, was einzig vorgezogen werden konnte der Muße, nirgend existiert [...]"

 

Außerdem schrieb Seneca dem Statthalter von Sizilien Lucilius (Quelle: Senecas >Briefe an Lucilius<, übersetzt von Albert Forbiger, Stuttgart 1866, vom Herausgeber ins Neuhochdeutsche redigiert):

22. Brief: Rat, sich möglichst bald den Staatsgeschäften zu entziehen.

Du wirst nun einsehen, daß Du Dich aus jenen blendenden und unheilvollen Geschäften herausziehen mußt; Du fragst aber, wie Du dies ermöglichen könntest? Manches läßt sich nur von einem Anwesenden zeigen. Der Arzt kann nicht durch einen Brief die Zeit des Essens oder Badens bestimmen; er muß den Puls befühlen. Es ist ein altes Sprichwort, daß der Gladiator seinen Entschluß auf dem Kampfplatz fasse. Bei scharfem Hinblicken geben ihm die Miene des Gegners, die Bewegungen seiner Arme, selbst die Biegungen seines Körpers Winke. Was man zu tun pflege und was man tun solle, das läßt sich im Allgemeinen bestimmen und schriftlich mitteilen: ein solcher Rat wird nicht nur Abwesenden, sondern selbst den später Lebenden erteilt. (2) Allein den anderen Rat, wann etwas geschehen müsse oder wie, den wird niemand aus der Ferne erteilen. Die enteilende Gelegenheit wahrzunehmen, ist nicht nur eine Sache der Anwesenheit, sondern auch der Wachsamkeit. Daher schaue Dich nach ihr um, und wenn Du sie erblickst, ergreife sie. Mit allem Eifer und aus vollen Kräften betreibe es, Dich jenen Obliegenheiten zu entziehen; und merke auf, wie ich mein Gutachten abgebe. Ich meine, Du mußt entweder jenes Leben oder das Leben [überhaupt] aufgeben. Ebenso aber glaube ich auch, Du habest langsamen Schrittes zu gehen, um, was schlimm verwickelt ist, lieber langsam aufzulösen als zu zerreißen. Nur dann, wenn keine andere Möglichkeit sein sollte, es aufzulösen, magst Du es zerreißen. (3) Niemand ist so zaghaft, daß er lieber immer hängen als einmal fallen wollte. Inzwischen, was das Wichtigste ist, verwickele Dich nicht [noch tiefer], begnüge Dich mit den Geschäften, in welche Du Dich eingelassen hast, oder, wenn Du es lieber so angesehen wissen willst, in welche Du hineingeraten bist. Du darfst aber nicht noch weiter streben, oder Du wirst jene Entschuldigung verlieren, und es wird an den Tag kommen, daß Du nicht bloß hineingeschlittert bist. Falsch ist, was man gewöhnlich sagt: "Ich konnte nicht anders. Was, wenn ich nicht willig gewesen wäre? Es war unumgänglich nötig". Für niemanden ist es "unumgänglich nötig" dem "Glück" nachzulaufen; es heißt uns etwas, wenn das [sogenannte] "Glück" uns fortreißen will, still zu stehen und ihm nicht auf dem Fuße zu folgen, wenn auch nicht ihm Widerstand zu leisten. Wirst Du Anstoß nehmen, wenn ich nicht allein komme, Dir zu raten, sondern auch andere herbeirufe, und zwar klügere Männer als ich selbst bin, und denen ich es mitzuteilen pflege, wenn ich etwas erwäge? Lies den auf diese Sache bezüglichen Brief des Epikur, den er an Idomeneus schrieb und worin er ihn bittet: Er möge, so viel er könne, sich beeilen und fliehen, ehe irgendeine größere Macht dazwischen trete und ihm die Freiheit des Rückzugs raube. (5) Doch setzt er auch hinzu: Nicht sei es zu versuchen, wenn man es nicht auf passende Art und zu rechter Zeit versuchen könne; wenn aber jene längst erwartete Zeit gekommen sei, dann müsse man rasch enteilen. Er verbietet also dem auf Flucht Sinnenden zu schlafen, und hofft auf ein glückliches Entrinnen, auch aus den schwierigsten Lagen, wenn wir weder vor der Zeit eilen noch zu rechter Zeit zaudern. Jetzt, glaube ich, fragst Du nach einem Ausspruch der Stoiker. Niemand soll sie bei Dir in den schlimmen Ruf der Unbesonnenheit bringen; wir sind mehr vorsichtig als tapfer. (6) Du erwartest vielleicht, sie könnten Dir sagen: Schimpflich ist es, einer Last auszuweichen; ringe mit der Dienstpflicht, die Du einmal übernommen hast. Der ist kein wackerer und tüchtiger Mann, der Anstrengung flieht, ohne daß ihm gerade durch die Schwierigkeit der Sache der Mut wächst. Man wird zu Dir sagen: [Ja], wenn es sich der Mühe verlohnt auszudauern, wenn es nichts zu tun oder zu erleiden gibt, was eines braven Mannes unwürdig wäre". Ansonsten wird der Stoiker sich nicht durch schmutzige und schmachvolle Arbeit aufreiben und in Geschäften leben, nur um Geschäfte zu haben. Auch nicht einmal das wird er tun, wovon Du glaubst, daß er es tun werde, nämlich, in ehrgeizige Pläne verwickelt sich zum Spielball ihrer Wogen zu machen; (7) sondern, wenn er die schwierigen, unsicheren und gefahrvollen Stellen sieht, zwischen denen er herumgetrieben würde, wird er sich zurückziehen. Nicht ihnen den Rücken kehren, wohl aber langsam auf einen sicheren Punkt zurückweichen. Leicht nämlich ist es, mein Lucilius, den Geschäften zu entgehen, wenn man ihren Lohn verachtet. Dieser ist es, der uns auf- und zurückhält. "Wie denn nun? So große Hoffnungen soll ich aufgeben? Von der Ernte selbst soll ich weggehen? Meine Seite soll verlassen sein, meine Sänfte ohne Begleitung, mein Vorzimmer leer?" Das ist es, wovon die Menschen sich so ungern trennen: Sie lieben den Lohn ihrer Mühen; die Mühen jedoch verwünschen sie. Sie klagen über den Ehrgeiz wie über eine Geliebte. Das heißt, wenn man ihre wahre Stimmung betrachtet, so hassen sie ihn nicht, aber sie zanken mit ihm. Prüfe diejenigen, die über das wehklagen, was sie [doch] gewünscht haben. Die vom Aufgeben solcher Dinge sprechen, die sie [doch] nicht entbehren können: Du wirst sehen, daß ihr Verweilen in Verhältnissen, die ihren Reden nach lästig und traurig sind, ein freiwilliges ist. (9) So ist es, mein Lucilius: Wenige hält die Knechtschaft fest, sehr viele halten sie fest. Doch wenn Du den Vorsatz hast, sie aufzugeben, wenn Du aufrichtiges Gefallen an der Freiheit hast, und nur aus dem einen Grund um Bedenkzeit bittest, damit es Dir vergönnt sei, es ohne fortwährende [spätere] Reue zu tun, warum sollte nicht die ganze Schar der Stoiker Dir Beifall zollen? Alle Anhänger Zenons und des Chrysippos' werden Dir zum Maßhalten, zum Anständigen [und zu dem, was wahrhaft Dein Eigen ist] raten. Wenn Du aber deshalb zögerst, um Dich umzuschauen, wieviel Du mitnehmen und mit wieviel Geld Du Dich in Deiner Muße einrichten könntest, so wirst Du nie den Ausgang finden. Niemand entrinnt schwimmend mit Gepäck. (10) Arbeite Dich mit Gunst der Götter zu einem besseren Leben empor; jedoch nicht so, wie sie diejenigen begünstigen, denen sie mit freundlicher und gütiger Miene glänzende Übel gewähren, nur durch das eine entschuldigt, daß sie das, was brennt und peinigt, Bittenden verliehen haben. - Schon drückte ich das Siegel auf den Brief; ich muß ihn wieder öffnen, damit er mit dem beiliegenden kleinen Geschenk an Dich gelange und Dir noch einen erbaulichen Ausspruch mitbringe. Da begegnet mir folgender, ich weiß nicht, ob er wahrer oder nur schöner gesagt ist. - Du fragst, von wem? Von Epikur [denn noch immer fülle ich meinen Rucksack mit fremdem Gut]. (11) "Jeder geht so aus dem Leben, als wäre er eben erst eingetreten." Nimm den erstbesten Jüngling, Greis oder Mann, und Du wirst ihn in gleicher Furcht vor dem Tode, in gleicher Unkenntnis des Lebens finden. Keiner hat etwas fertig; denn immer verschieben wir unsere Geschäfte auf die Zukunft. Nichts ergötzt mich an jenem Ausspruch mehr, als daß den Greisen Kindheit vorgeworfen wird. "Niemand", sagte er, "geht anders aus dem Leben, als wie er geboren wurde." (12) Dies ist falsch: Wir sterben schlechter als wie wir geboren werden; aber dies ist unser eigener Fehler, nicht der der Natur. Die muß sich über uns beklagen und sagen: "Was soll das? Ich habe Euch ohne Begierden, ohne Furcht, ohne Aberglauben, ohne Treulosigkeit und ohne alle sonstigen Gebrechen geschaffen; so geht doch hinaus, wie ihr hereingekommen seid." - Der hat die Weisheit erfaßt, der ebenso sorglos stirbt wie er geboren wurde. So aber zittern wir, wenn eine Gefahr sich naht; der Mut, die Farbe entweicht, unnütze Tränen fließen. (13) Was ist schimpflicher, als genau auf der Schwelle der Sorglosigkeit ängstlich zu sein? Die Ursache aber ist die, daß wir leer an allem Guten nur auf das Leben ängstlich bedacht sind. Denn nichts davon bleibt bei uns zurück; es ist vorrübergegangen und zerronnen. Niemand sorgt dafür, daß er weise lebt, sondern nur, daß er lange lebt. Obwohl doch allen gelingen kann, weise zu leben; keinem jedoch lange zu leben. Lebe wohl.

Diese Abhandlungen und Lehren Senecas (wie auch weiter unten die Briefe Senecas an Lucilius verdeutlichen) waren sozusagen die philosophische Legitimation für Kaiser Nero, seinem Prinzipat und dem verkommenen römischen Staatswesen den Rücken zu kehren, um als ein freier Mensch und Künstler leben zu können. Die freie Selbstbestimmung über das eigene Leben ist eine tragende Säule in der stoischen und epikureischen Ethik. Der gordische Knoten war unauflösbar. Nur durch eine "Kriegslist" konnte Nero Caesar vom Prinzipat freikommen, zur persönlichen Freiheit gelangen, das höchste Ziel jeder humanistischen Existenz.

Die folgenden zwei Briefe erscheinen mir wie Briefe Senecas an den fliehenden Kaiser Nero, dessen genaue Adresse zwar unbekannt ist, aber irgendwelche geheimen Verbindungsmänner würden ihm gewiß die Briefe und Werke seines alten Lehrers und Philosophen zutragen. Nachdem der erste Schock über das Verschwinden des Kaisers überwunden war, konnte sich Seneca sogar an dem Gedanken berauschen, daß sein "Schüler" Nero die Herrschaft über ein Weltreich freiwillig aufgab, um fortan nur noch sich selber zu leben. Unzweifelhaft hatte Lucius Domitius Ahenobarbus, der frühere Kaiser Nero, in Senecas Augen damit das Bessere gewählt.

Noch eine Möglichkeit wäre denkbar, bzw. einzubeziehen: Lucilius, der Prokurator von Sizilien, könnte ein Getreuer und geheimer Verbindungsmann des früheren Kaiser Nero gewesen sein. Die >Briefe an Lucilius< könnten daher gleichzeitig auch an Nero geschrieben sein. Dies läßt vor allem der 31. Brief stark vermuten.

 

31. Brief: Verachte die Meinungen des großen Haufens und strebe

nur nach Erkenntnis der Wahrheit.

[Jetzt] erkenne ich meinen Lucilius (alias Lucius Domitius Ahenobarbus, der frühere Kaiser Nero?): Er fängt an sich zu zeigen, wie er es versprochen hat. Folge jenem Drange Deines Geistes, womit Du, die Güter des großen Haufens mit Füßen tretend, allem Edlen entgegenwandelst. Ich verlange nicht, daß Du größer und besser werdest, als Du Dir vornahmst. Der Grund, den Du gelegt hast, hat [bereits] einen weiten Raum eingenommen: Führe nur das alles aus, was Du begonnen hast, und betreibe, was Du in Deiner Seele trugst. Kurz und gut: Du wirst ein Weiser werden, wenn Du Deine Ohren verschließest: Nur mit Wachs sie zu verstopfen genügt nicht; es ist eine dichtere Verstopfung nötig, als sich Odysseus bei seinen Gefährten bedient haben soll. (2) Jene Stimme, die [dort] gefürchtet wurde, war eine süßlockende, jedoch keine allgemeine. Die aber, die Du zu fürchten hast, [tönt] nicht von einer Klippe, sondern umtönt Dich von allen Enden der Erde her. Schiffe daher nicht bloß an einem durch tückische Lust verdächtigen Orte, sondern an allen Städten vorüber; zeige Dich taub gegen die, welche Dich am meisten zu lieben vorgeben: In guter Meinung wünschen sie Dir Schlimmes. Wenn Du glücklich sein willst, so bitte die Götter, daß Dir nichts von dem, was sie Dir wünschen, zuteil werde. (3) Was sie auf Dich gehäuft wünschen, sind keine Güter; [nur] ein Gut gibt es, welches die Ursache und Stütze eines glücklichen Lebens ist: Selbstvertrauen. Dies aber kann uns nicht zuteil werden, wenn wir nicht Mühsal verachten und sie unter die Dinge rechnen, die weder gut noch schlimm sind. Denn es ist unmöglich, daß eine und dieselbe Sache bald schlimm, bald gut, bald leicht und erträglich, bald furchtbar sei. Mühsal ist kein Gut: Was also ist ein Gut? Der Mühsal Verachtung. (4) Daher möchte ich diejenigen tadeln, die um Eitles sich abmühen. Dagegen werde ich die, welche nach dem Edlen streben, je mehr sie sich anstrengen und je weniger sie sich übermannen und zum Ausruhen verleiten lassen, bewundern und ausrufen: "Erhebe dich um so kräftiger, blähe die Brust auf und ersteige jene Höhe, womöglich in einem Atemzug. Edler Seelen Nahrung ist die Mühsal. Du darfst also nicht nach jenem alten Wunsche Deiner Eltern auswählen, was Du Dir zugeteilt sehen, was Du Dir wünschen möchtest. Und überhaupt ist es für einen Mann, der schon das Höchste durchmessen hat, schimpflich, immer noch die Götter mit Bitten zu ermüden. (5) Wozu Gelübde? Mache Dich selbst glücklich; Du wirst es, wenn Du erkannt hast, daß nur dasjenige gut ist, dem Tugend beigesellt ist; schädlich aber das, womit Laster verbunden ist. Wie ohne Hinzutreten von Licht nichts glänzend ist, nichts schwarz, außer was in Finsternis ist oder etwas Dunkles in sich aufgenommen hat. Wie es ohne Beihilfe des Feuers nichts Warmes gibt und ohne Luft nichts Kaltes: So bewirkt die Gesellschaft der Tugend Edles, die des Lasters Schändliches. (6) Was also ist das Gute? Erkenntnis der Dinge. Was ist das Übel? Unkenntnis der Dinge. Der Verständige und Kundige wird alles nach den Zeitumständen entweder verwerfen oder wählen. Aber er fürchtet weder was er verwirft, noch bewundert er, was er wählt, wenn er anders einen großen und unbesieglichen Geist besitzt. Ich verbiete Dir, Dich unterwerfen und niederdrücken zu lassen! Zu wenig ist es, der Anstrengung nicht auszuweichen: Fordere sie heraus! "Was ist aber", fragst Du, "eine eitle und überflüssige Anstrengung?" Die, zu welcher niedrige Beweggründe aufriefen. Doch ist auch sie kein Übel, ebensowenig als die, welche auf schöne Dinge verwendet wird; (7) weil es die Ausdauer des Geist-Gemütes selbst ist, die dich zum Harten und Beschwerlichen aufmuntert und zu Dir spricht: "Was zauderst du? Es ist nicht männlich, den Schweiß zu fürchten. Hierzu muß, damit die Tugend vollkommen sei, auch noch Gleichmäßigkeit und eine in allen Lagen mit sich harmonierende Haltung des Lebens kommen, was nicht sein kann, wenn nicht Erkenntnis der Dinge und jene Wissenschaft hinzutritt, durch welche wir das Menschliche erkennen. Dies ist das höchste Gut, und hast Du Dich in seinen Besitz gesetzt, so beginnst Du ein Genosse der Götter zu sein, nicht ein zu ihnen Flehender. (8) "Wie", fragst Du, "gelangt man dahin?" Nicht über Penninische oder Grajische Gebirge , noch durch die Wüsten Candaviens , auch brauchst Du nicht die Syrten noch die Scylla und Charybdis zu befahren, die Du doch alle, um den Preis einer kleinen Statthalterschaft, durchwandert hast. Sicher und angenehm ist [die] Reise, zu welcher die Natur Dich ausrüstete. Sie verlieh Dir jene [Güter], die Dich, wenn Du sie nicht vernachlässigst, zur Gleichheit mit Gott erheben werden. (9) Das Geld aber wird Dich einem Gotte nicht gleich machen: Denn Gott besitzt nichts. Auch der [mit Purpur] verbrämte Mantel wird es nicht: Gott ist unbekleidet. Auch Dein Ruf, das Zurschautragen Deiner selbst, und die unter den Völkern verbreitete Kunde Deines Namens [nur Kaiser Neros Name war eine unter den Völkern verbreitete Kunde] wird es nicht: Niemand kennt Gott, viele denken [sogar] schlecht von ihm, und das ungestraft. Auch nicht der Schwarm von Sklaven [wird es], die Deine Sänfte durch die Straßen der Stadt und fremden Lands tragen: Jener größte und mächtigste der Götter trägt alles selbst. Sogar schöne Gestalt und Stärke können Dich nicht glücklich machen: Nichts von diesen Dingen bleibt verschont vom Alter. Man muß etwas suchen, das nicht von Tag zu Tag schlechter wird, dem nichts sich entgegenstellen kann. Was ist das? Der Geist. Jedoch ein edler, guter, großer Geist. Wie wirst Du ihn anders nennen, als einen Gott, der in einem Menschenkörper seine Herberge genommen hat? (10) Dieser Geist aber kann sich ebensogut bei einem Freigelassenen und Sklaven als bei einem römischen Ritter finden. Was ist ein römischer Ritter? Oder ein Freigelassener? Oder ein Sklave? Es sind Namen, aus Ehrgeiz oder aus Ungerechtigkeit entsprungen. [Auch] aus einem Winkel kann man sich in den Himmel schwingen; erhebe Dich nur

- - und würdig der Gottheit

Bilde auch Dich.

Nicht aber durch Gold und Silber wirst Du Dich bilden: Aus diesen Stoffen läßt sich kein einem Gotte ähnliches Bild herstellen. Bedenke, daß jene, als sie uns [noch] gnädig waren, aus Ton geformt wurden. Lebe wohl.

 

32. Brief: Ziehe Dich in Dich selbst zurück.

Ich forsche nach Dir [nach Lucius Domitius Ahenobarbus, dem früheren Nero Caesar?] und erkundige mich bei Allen, die aus jener Gegend kommen, was Du machst, wo und mit wem Du lebst. Du kannst mich nicht hintergehen; ich bin bei Dir. Lebe so, als ob ich hörte, was Du tust, ja als ob ich es sähe. Du fragst, was mir unter allem, was ich von Dir höre, die meiste Freude macht? Daß ich nichts [von Dir] höre, daß die meisten von denen, die ich befragte, nicht wissen, was Du treibst. Es ist heilsam, mit Unähnlichen und ganz etwas anderes Wünschenden nicht zu verkehren. Ich habe zwar die Zuversicht, Du könntest nicht abgelenkt werden und werdest bei Deinem Vorsatz bleiben, auch wenn ein Schwarm von Verführern Dich umringt. (2) Was also ist es? Ich fürchte nicht, daß sie Dich umwandeln; ich fürchte, daß sie Dich hindern. Viel schadet auch, wer aufhält. Zumal bei der Kürze des Lebens, das wir durch unsere Unbeständigkeit noch mehr verkürzen, indem wir immer bald dieses, bald jenes gleichsam von vorne anfangen. Wir zerreißen es in kleine Teilchen und zerstückeln es. Eile also, mein teuerster Lucilius, und bedenke, wie sehr Du Deine Schritte beschleunigen würdest, wenn ein Feind vom Rücken her bedrängte, wenn Du besorgtest, die Reiterei sprenge heran und setze dem Fliehenden auf dem Fuße nach. (3) Und dies geschieht [wirklich]; man setzt Dir nach [Kaiser Nero, bzw. seinen angeblichen Doppelgängern wurde tatsächlich mit der römischen Heeresmacht nachgesetzt]; beeile Dich und entwische; bringe Dich in Sicherheit und betrachte öfters, welch eine schöne Sache es sei, sein Leben vor dem Tode zu vollenden und dann den Rest seiner Zeit ruhig zu erwarten und im Besitz eines glücklichen Lebens nichts Gegenteiliges [fürchten zu müssen], das, wenn es länger so doch nicht glücklicher wird. O wann wirst Du jene Zeit schauen, wo Du einsehen wirst, daß die Zeit Dich nichts angeht. Wo Du in vollkommener Selbstgenügsamkeit ruhig, heiter und unbekümmert um den morgenden Tag sein wirst. Du wünschest zu wissen, was die Menschen so begierig nach dem Künftigen macht? Niemand gehört sich selbst an [im Sinne von: Niemand begnügt sich mit seinem eigenen Selbst]. (4) Deine Eltern freilich wünschten Dir etwas ganz anderes; ich dagegen wünsche Dir Verachtung aller Dinge, deren Fülle jene [Dir erflehten]. Ihre Wünsche berauben viele andere, um Dich zu bereichern. Alles, was sie Dir zuwenden, muß einem anderen entzogen werden. Ich [aber] wünsche Dir den Besitz Deiner selbst, damit Dein von unsteten Gedanken umhergetriebener Geist endlich einmal festen Fuß fasse und sicher stehe; damit er an sich selbst Gefallen finde und nach Erkenntnis der wahren Güter, die man erst besitzt, sobald man sie erkannt hat, eines Zuwachses an Jahren nicht bedürfig. Erst der ist über alle Notwendigkeit hinaus, hat ausgedient und ist frei, der nach dem [sogenannten] "Leben" lebt. Seneca meint damit keineswegs ein Leben nach dem Tode (das "ewige" Leben), sondern das Leben des Weisen, des Stoikers, ist ein ernsthafteres, rationelleres, ruhigeres, harmonischeres, beglückenderes Leben als das, das der ungebildete, verblendete und verführte Massenmensch als angebliches "Leben" ansieht]. Lebe wohl.

 

XII. These

Es ist keineswegs ausgeschlossen, daß wir eines Tages noch den absoluten schriftlichen und/oder archäologischen Beweis für meine beiden Hauptthesen finden:

 

Erstens, daß Kaiser Nero kein abscheulicher Mensch und Herrscher war.

 

Und zweitens, daß er freiwillig dem Caesarenthron entsagte.

 

 

 

XXIII. Kapitel

Die Senatsopposition der Stoiker

 

In der Philologie der klassischen Altertumswissenschaft hat sich der Begriff der "stoischen Senatsopposition bei Tacitus" herausgebildet. Darunter werden die merkwürdigen Vorgänge im römischen Senat unter den Kaisern Nero, Vitellius und Vespasian verstanden. [Quelle: Schmich, Rudolf: >Die Darstellung der sogenannten stoischen Senatsopposition bei Tacitus<, Inaugural-Dissertation, Heidelberg 1960.]

Der Kopf der oppositionellen Stoiker unter Kaiser Nero hieß Paetus Thrasea. Unter den Kaisern Vitellius und Vespasian war es Thraseas Schwiegersohn Helvidius Priscus.

Uns interessiert im Zusammenhang der Nero - Rehabilitation nur die Person des Paetus Thrasea. Zuerst möchte ich auf dessen Charakterisierung durch Tacitus eingehen. Sie ist ein deutlicher Beweis dafür, daß der Verfasser (Tacitus) und/oder der Interpolator der >Annalen< und der >Historien< kein Stoiker war.

Tacitus lieferte uns über Paetus Thrasea folgende Charakteristica:

- als über die Ereignisse, die zum Tode der Kaiserin Agrippina führten, verhandelt wurde, ging Paetus Thrasea (unter Protest?) aus dem Senat.

- beim Festspiel der Juvenalien bewies er eine nicht erwünschte Teilnahme.

- angeblich war dies eine Beleidigung (gegenüber dem Kaiser), die um so tiefer verletzte, weil Paetus Thrasea in Patavium (Padua), woher er stammte, bei dem vom Trojaner Antenor gestifteten Caestusspiel aufgetreten war.

- bei der Abstimmung im Senat, als über die Majestätsbeleidigung des Prätors Antistius verhandelt wurde, stimmte Thrasea für ein mildes Urteil.

- als der verstorbenen Kaiserin Poppaea "Götterehre" zuerkannt wurde, war Thrasea absichtlich nicht zugegen.

- auch am Leichenbegängnis der verstorbenen Kaiserin Poppaea nahm Thrasea nicht teil.

- er glaubte nicht an die Göttlichkeit der verstorbenen Kaiserin Poppaea.

- bei Beginn des Jahres vermied Thrasea (in den letzten Jahren) die feierliche Eidesleistung auf die römischen Götter.

- er fehlte beim Ablegen der Gelübde, obwohl er mit der Priesterwürde der Quindezimvirn bekleidet war.

- Thrasea opferte nie für das Wohl des Kaisers oder für dessen himmlische Stimme.

- Thrasea betrat in den letzten drei Jahren nicht mehr die Curie, das Senatsgebäude.

- Thrasea schwur nicht auf die Verordnungen der vergöttlichten (Diktatoren) Julius Caesar und Augustus.

- Thrasea verachtete (angeblich) "heiligen Brauch" und schaffe (angeblich) ab, "was Gesetz ist".

- Thrasea sei ein "Neuerungssüchtiger".

- Thrasea trauere über das (angebliche) "Glück des Staates".

- Thrasea halte öffentliche Plätze (Tempel und Theater) für Einöden.

 

Über die Stoiker im allgemeinen berichtet Tacitus:

- sie, die Stoiker, hätten die Tuberonen und Favonier hervorgebracht.

- die Stoiker trügen die Freiheit zur Schau, um die Oberherrschaft, das Prinzipat, zu stürzen.

- die Stoiker seien "Neuerungssüchtige".

Aus den obigen Textauszügen geht klar und deutlich hervor, daß der Stoiker Thrasea ein ultraliberaler und progressiver Demokrat war. Die Ansicht von Michael Grant [Quelle: Roms Cäsaren - Von Julius Caesar bis Domitian<, München 1978], daß die "stoische Senatsopposition" unter ihrem Anführer Paetus Thrasea "eine Gruppe extrem konservativer Senatoren mit Neigung zu philosophischen, stoischen Gedankengängen" gewesen sei, ist geradezu ein grotesker Irrtum. Das genaue Gegenteil ist richtig: Es war eine Gruppe von Stoikern mit extrem >linken< Vorstellungen von Demokratie, Recht und Freiheit.

Die Konservativen, sozusagen die fundamentalistisch-theistische Partei im römischen Senat, machten mittels ihrer Mehrheit dem ultraliberalen Freidenker Thrasea "den Prozeß", um einen gefährlichen und unbequemen Widersacher und Querdenker loszuwerden.

Dies setzten sie folgendermaßen in Szene: Capito Cossutianus übernahm die Rolle des Anklägers im Senat. Er war ein persönlicher Feind des Paetus Thrasea. Thrasea hatte einst die Gesandten der Cilicier unterstützt, als sie den Capito Cossutianus wegen Erpressung anklagten und diesen wegen seiner Vergehen "zu Fall brachten".

Die Anklage des Capito Cossutianus war eine geschickte Mischung aus Polemik gegen den Freidenker Thrasea und aus Schmeichelei gegenüber dem Kaiser. "Wie einst von Julius Caesar und Marcus Cato", sprach Capito Cossutianus, "so spricht heute die [angeblich] nach Zwietracht verlangende Bürgerschaft jetzt von dir, Kaiser Nero, und Thrasea. Er hat auch seine Anhänger oder vielmehr Trabanten, die sich zwar noch nicht seinen Trotz beim Abstimmen, aber seine Haltung und Miene zum Vorbild nehmen, starr und finster blicken, um dir damit Leichtsinn vorzuwerfen. Allein von ihm werden deine Wohlfahrt und deine Kunstleistungen nicht geehrt. Das Glück des Kaisers verachtet er; befriedigt ihn nun seine Trauer und sein Schmerz [um Poppaea] nicht? Dieselbe Gesinnung verrät es, an Poppaeas Göttlichkeit nicht zu glauben und auf die Verordnungen des göttlichen Augustus und Julius Caesar nicht zu schwören. Er verachtet heiligen Brauch und schafft ab, was Gesetz ist. Die >Tageblätter des römischen Volkes< [gab es zur Regierungszeit Kaiser Neros bereits eine politische Zeitung?] werden in den Provinzen, in den Heeren aufmerksam gelesen, um zu erfahren, was Thrasea nicht getan hat. Wenn Thraseas Einrichtungen besser sind, so laßt uns zu ihnen übertreten; oder aber man nehme den Neuerungssüchtigen den Rädelsführer und Ratgeber weg. Jene Schule [gemeint ist: die Schule der Stoiker] hat die Tuberonen und Favonier erzeugt, auch in der alten Republik nicht beliebte Namen. Um die Oberherrschaft [das Prinzipat] zu stürzen, tragen sie die Freiheit zur Schau. Haben sie sie erst umgestürzt, dann werden sie die Freiheit selbst angreifen. Vergebens hast du den Cassius entfernt. Willst du es dulden, daß die Nacheiferer der Brutusse um sich greifen und Gedeihen finden? Schließlich brauchst du [Kaiser Nero] ja selbst über Thrasea nichts zu beantragen, laß den Senat richten."

So war es! Nicht Kaiser Nero ließ Paetus Thrasea anklagen, sondern es war der konservativ-theistische Block im römischen Senat, dem der Freigeist und Stoiker Thrasea ein Dorn im Auge war.

Thrasea beratschlagte sich mit seinen engsten Freunden, ob er sich im Senat rechtfertigen oder ob er jede Verteidigung verschmähen solle. Die, die dafür waren, sagten, "sie seinen wegen seiner Standhaftigkeit unbesorgt. Er werde nichts sagen, als etwas, wodurch er ausschließlich seinen Ruhm erhöhen würde. Nur Feige und Verzagte umgäben ihr Ende mit Einsamkeit. Schauen möge das Volk den dem Tode entgegentretenden Mann, hören solle der Senat gleichsam übermenschliche Worte eines Stoikers".

Bei den Beratungen der Anhänger und Freunde Thraseas befand sich auch ein junger Mann namens Rusticus Arulenus, der sich (angeblich aus Ruhmbegier) anbot, gegen den Senatsbeschluß (Anklage gegen Thrasea) Einspruch zu erheben, denn er war Volkstribun. Thrasea dämpfte seinen Eifer. Dieses Vorhaben würde doch nichts nützen, dem jungen Mann jedoch sehr schaden.

Am Morgen der festgesetzten Senatssitzung besetzten zwei bewaffnete Kohorten der Prätorianer den Tempel der Venus Genetrix. Den Eingang zum Senat hatte ein Trupp mit der Toga bekleideter Männer, die ihre Schwerter offen zeigten, in Besitz genommen. Auf den öffentlichen Plätzen, wie an den Tempeln waren Kriegerscharen aufgestellt. Unter ihren Blicken und Drohungen begaben sich die Senatoren in die Kurie. Ungewiß ist, wer mit "ihren" gemeint ist, wahrscheinlich waren es die mit der Toga bekleideten Männer, die ihre Schwerter offen zeigten. Waren es die Anhänger und Freunde der Stoiker und der oppositionellen Senatoren?

Im Senat hörte man zuerst die Rede des Kaisers, von einem Quästor vorgetragen. Ohne jemand direkt beim Namen zu nennen, beschuldigte er die Senatoren, daß sie die öffentlichen Geschäfte vernachlässigten und durch ihr Beispiel viele zur Nachlässigkeit verleiteten. Viele würden erst gar nicht mehr aus ihren Provinzen zu den Senatssitzungen kommen, da sie sich, hätten sie erst das Konsulat und Priesterwürden erlangt, lieber der Annehmlichkeiten ihrer Gärten und Besitzungen hingäben.

Nach der Rede des Quästors hieben die konservativen Senatoren Cossutianus und Marcellus mit aller rhetorischen Polemik auf Thrasea ein. Der gesamte Staat sei wegen Thrasea (wegen eines Mannes!) in Gefahr. Durch die "Halsstarrigkeit der Untergebenen" werde die Milde des Kaisers herabgesetzt. Zu milde seien sie, die Senatoren, bis auf diesen Tag gewesen, da sie den "Empörer" Thrasea, da sie dessen ebenso "verrückten" Schwiegersohn Helvidius Priscus, sowie Paconius Agrippinus, den Erben des väterlichen Hauses gegen den Fürsten, und den abscheuliche Gedichte verfertigenden Curtius Montanus ungestraft entschlüpfen ließen. Er, Marcellus, vermisse im Senat den Konsularen, bei Gelübden den Priester, beim Eide den Bürger Thrasea. Doch dieser habe sich ja gegen die Einrichtungen und heiligen Bräuche der Vorfahren öffentlich zum Feinde aufgeworfen. Möge er, der den Senator zu spielen und des Kaisers Widersacher zu beschützen gewohnt sei, doch endlich einmal kommen und seine Meinung sagen, was er verbessert oder verändert wissen wolle. Leichter würde man den einzelnes Tadelnden ertragen, als jetzt das Schweigen des alles Verdammenden. Mißfalle ihm der Friede im Römischen Reiche? Oder die Siege ohne Verluste? Man solle doch einen Menschen, der über das Glück des Staates trauere, der öffentliche Plätze, Theater und Tempel für Einöden halte, der mit Selbstverweisung drohe, in seinem verkehrten Ehrgeize nicht gewähren lassen. Er würde ja keine Senatsbeschlüsse anerkennen, keine echten Staatsbeamten sehen, nicht einmal eine römische Stadt. So möge er doch sein Leben von einem Staate losreißen, dem er schon längst seine Liebe, jetzt auch noch seine Beachtung entzogen hätte.

Unter diesen und ähnlichen Worten des Marcellus, wobei er finster und drohend um sich blickte, in Ton, Miene und Blick Feuer versprühend, da zeigte sich nicht mehr jene gewohnte Gelassenheit des Senates, sondern bei dem Gedanken der bewaffneten Menge draußen vor der Kurie und den Soldaten in der Stadt waren alle Senatoren von einer tiefen Beängstigung erfaßt.

Die Senatssitzung, über die Tacitus nichts weiter mehr berichtet (den Prozeßverlauf gegen Soranus klammern wir aus), endete mit dem Todesurteil Thraseas. Es wurde ihm die freie Wahl des Todes gestattet, Helvidius, sein Schwiegersohn, und Paconius wurden aus Italien in die Verbannung geschickt.

Interessant ist auch der Bericht des Tacitus über die Belohnungen der Ankläger. Eprius und Cossutianus, die Ankläger des Thrasea, erhielten jeder 5.000.000 Sesterzen; Ostorius, dem Ankläger des Soranus, wurden jedoch nur 1.200.000 Sesterzen zugebilligt.

Das Todesurteil des Thrasea wurde gefällt, als der Tag sich dem Abend neigte. Thrasea befand sich zu dieser Zeit nicht mehr im Senat. Ein zahlreicher Kreis von angesehenen und natürlich auch gleichgesinnten Männern und Frauen hatte sich in seinem Garten versammelt. Darunter befand sich auch der stoische Philosoph Musonius Rufus, wie wir weiter unten noch erfahren werden. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich hauptsächlich auf Demetrius, einen Lehrer der cynischen Schule, mit welchem Thrasea, wie aus der Spannung seiner Mienen und aus dem, was man vernahm, über die Beschaffenheit der Seele und über die Trennung des Geistes vom Körper Spekulationen anstellte.

Da kam Domitius Caecilianus, einer von Thraseas vertrautesten Freunden, und berichtete, was der Senat beschlossen habe. Kurz darauf wurde Thrasea der Quästor des Konsuls gemeldet, der ihm das Urteil des Senats schriftlich überbrachte. Äußerlich gefaßt las Thrasea sein Todesurteil; er freute sich sichtlich darüber, daß sein Schwiegersohn Helvidius Priscus mit dem Leben davonkam.

Nun kommen wir zu einer Tatsache, die kein Philologe bisher bedacht hatte oder in Erwägung zog: Auch Seneca wurde einst vom Senat zum Tode verurteilt. Kaiser Claudius legte jedoch Fürbitte beim römischen Senat ein und bewirkte damit, daß das Todesurteil aufgehoben und Seneca nur auf die Insel Korsika verbannt wurde. Hätte nicht auch Kaiser Nero ein solches Vetorecht besessen und hätte er nicht auch für Thrasea eine Aufhebung des Todesurteils bewirken können? Thrasea ließ jedoch Kaiser Nero gar keine Zeit mehr, um für die Aufhebung des Todesurteils im römischen Senat zu sprechen, denn er ließ sich noch am selben Abend, an welchem des Todesurteil erging, die Adern öffnen.

Epiktet berichtet, was Thrasea über die Verbannung dachte [Quelle: >Epiktet - Was von ihm erhalten ist<, Neubearbeitung der Übersetzung von J. G. Schulteis von R. Mücke, Göttingen 1924, 1. Buch, Seite 13]: Thrasea sagte oft [am Tage, an dem das Todesurteil erging?]: "Ich will lieber heute hingerichtet, als morgen des Landes verwiesen werden". Was entgegnete ihm [Musonius] Rufus hierüber? "Wenn du dieses als das Schwerere vorziehst, so ist deine Wahl töricht. Ziehst du es aber als das Leichtere vor, so sage mir, wer hat dir die Wahl gegeben? Willst du denn nicht lernen, mit dem, was dir [vom Schicksal] beschert wird, immer zufrieden zu sein?"

Musonius Rufus tadelte offensichtlich Thrasea, weil er erst gar nicht eine mögliche, ja sehr wahrscheinliche Begnadigung durch Kaiser Nero abwarteten wollte, sondern noch am selben Abend Selbstmord beging.

Möglicherweise war Thrasea zu stolz, um von Kaiser Nero das Leben sozusagen "geschenkt" zu erhalten? Vielleicht wollte er auch durch seinen Tod die Intellektuellen und die demokratisch Gesinnten in Rom "wachrütteln"?

 

Über die Begegnungen und Gespräche Thraseas mit Kaiser Nero berichtet Tacitus uns nur ein einziges Ereignis: Anläßlich der Geburt von Kaiser Neros und Poppaeas Tochter Claudia begab sich der Senat von Rom nach Antium, um dem kaiserlichen Ehepaar zu gratulieren. Thrasea wurde als einziger Senator "zurückgewiesen", d. h. der Kaiser nahm seine Glückwünsche nicht an. Der Grund dafür könnte gewesen sein, weil Thrasea an den religiösen Feierlichkeiten nicht teilnahm.

Später äußerte sich dann Nero gegenüber Seneca, daß er mit Thrasea wieder ausgesöhnt sei. Seneca habe Kaiser Nero deswegen beglückwünscht. Für den Stoiker Seneca war es gewiß eine großartige Geste von Kaiser Nero, daß er mit dem Stoiker Thrasea auf freundschaftlichem Fuße zu stehen versuchte.

 

 

Quellennachweis

Antike Autoren

Cassius Dio: >Römische Geschichte<, Bd V, Epitome der Bücher 61-80

(übersetzt von Otto Veh) Zürich und München 1987;

Flavius Josephus: >Geschichte des Jüdischen Krieges< (übersetzt von Dr. Heinrich Clementz) Wiesbaden 1987;

Flavius Josephus: >Jüdische Altertümer< (übersetzt von Dr. Heinrich Clementz) Wiesbaden 1983;

Philostratos: >Leben des Apollonius von Tyanes<, Rudolstadt 1883;

Plutarch: >Lebensbeschreibungen<, (übersetzt von Kaltwasser) München 1913;

Seneca, Lucius Annaeus: >Ausgewählte Schriften< übers. von Albert Forbiger, Stuttgart 1866;

>Naturwissenschaftliche Untersuchungen< übersetzt von Otto u. Eva Schönberger, Würzburg 1990;

Sueton: >Leben der zwölf Caesaren< (übersetzt von Adolf Stahr);

Sophokles: >König Ödipus< (übersetzt von Ernst Buschor) München 1964;

Tacitus, Cornelius: >Annalen< und >Historien< übersetzt von Wilhelm Bötticher;

Quintilianus, Marcus Fabius: >Ausbildung des Redners< übersetzt von Helmut Rahn,

Wissenschaftl. Buchgesellschaft, Darmstadt 1975;

 

 

Neuzeitliche Autoren und Quellen

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Bauer, Anton: >Apocolocyntosis< von Seneca, Reclam Verlag 1981

Bauer, Bruno: >Christus und die Caesaren - Der Ursprung des Christentums aus dem römischen Griechentum<

Berlin 1877, Neuauflage: Hildesheim 1968

Baus, Lothar: >Der Illuminat und Stoiker Goethe<, Homburg/Saar 1995;

Baus, Lothar >Die "Bibel" der Freidenker - Die Umwertung aller Werte<, Homburg/Saar 1996;

Corpus inscriptionum latinarum: Inschriften zur römischen Antike

Deißner, Kurt: >Paulus und Seneca< in: Beiträge zur Förderung christlicher Theologie", 21. Band, 2. Heft, Gütersloh 1917;

Freis, Helmut: >Historische Inschriften zur römischen Kaiserzeit< Wissenschaftl. Buchgesellschaft Darmstadt 1984

Friedlaender, Ludwig: >Sittengeschichte Roms<

Henzen, Guil.: >Acta Fratrum Arvalium<, Berlin 1874

Kammeier, Wilhelm: >Die Fälschung der deutschen Geschichte< 4. Heft: >Die Verfälschung der >Germania< des Tacitus<, Lpz.1935

Kornemann, Ernst: >Tiberius<, 1960

Korzeniewski, Dietmar: >Hirtengedichte aus neronischer Zeit< Wissenschaftl. Buchgesellschaft, Darmstadt 1987

Köster-Lösche, Kari: >Die sieben Todesseuchen<, Husum 1989

Kreyher, Johannes: >L. Annaeus Seneca und seine Beziehungen zum Urchristentum<, Berlin 1887

Robichon, Jacques: >Nero - la comédie de la pouvoir<, Paris 1985 (deutsche Übersetzung v. Elmar Braunbeck,

Kasimir Katz Verlag, Gernsbach 1986)

Roux, Georges: >Nero< Paris

Schiller, Hermann: >Geschichte des römischen Kaiserreiches unter der Regierung des Nero<, Berlin 1872

Schmich, Rudolf: >Die Darstellung der sogenannten stoischen Senatsopposition bei Tacitus<, Inaugural-Dissertation, Heidelberg 1960.

Smallwood, E. Mary: >Documents illustrating the principat of Gaius, Claudius and Nero< Cambridge 1967

Viereck, H. D. L.: >Die römische Flotte<, Herford 1975;

Walter, Gérard: >Nero< Paris, deutsch v. Werner Krauß

Atlantis Verlag Zürich 1956


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