Die Nolte-Furet-Korrespondenz

von Wolfgang Strauss (Staatsbriefe 9, 1998)

In einem Brief an den französischen Historiker François Furet bemerkt der deutsche Historiker Ernst Nolte: "Schon wird in Deutschland die Forderung laut, den 'Volksverhetzungs'-Paragraphen des Strafgesetzbuches auf diejenigen Wissenschaftler anzuwenden, die Stalin einen bedeutenden Teil der Kriegsschuld zuschreiben und die statt des 'deutschen Überfalls auf die Sowjetunion' von einem 'Präventivkrieg' sprechen. Es könnte dann nicht mehr lange dauern, bis diejenigen Historiker, die dem Kommunismus einen wesentlichen Anteil an der Entstehung des Faschismus zuweisen, sich als Angeklagte vor Gericht verantworten müssen, ja sogar diejenigen könnten betroffen sein, die durch eine Parallelisierung von Kommunismus und Nationalsozialismus den letzteren verharmlosen.'" Geschrieben im September 1996.

Noltes apokalyptische Prophezeiung ist inzwischen nahezu Wirklichkeit geworden. Betroffen davon sind nicht nur die Staatsbriefe und Nolte selbst, sondern auch die Frankfurter Allgemeine, der jüdische Publizist Ernst Cramer und der russische Historiker Valerij Danilow. Als "volksverhetzend" gelten für Dogmenschützer hierzulande Beschreibung, Topographie und Singularität des bolschewistischen Terrors.

In einem FAZ-Kommentar vom 28. Februar wird der Straftatbestand der Volksverhetzung als "problematisch" bezeichnet, da er schwer abzugrenzen sei und schon im Gewande des Vorwurfs "erheblich ehrenrührige Konsequenzen" habe. Aus moralischen wie historischen Gründen sei ein Berliner "Sondermahnmal für Juden" grundsätzlich abzulehnen, weil es die Selektierungspolltik Hitlers heute wieder aufgreift. Die nichtjüdischen Opfer, zum Beispiel die slawischen Kriegsgefangenen - Russen, Ukrainer, Weißrussen -, sollen sie leer ausgehen? fragt Ernst Cramer in der WELT vom 16. Februar. Schließlich der Russe Valerij Danilow mit seiner These, daß Stalin Deutschland im Sommer 1941 angreifen wollte, wobei ihm Hitler nur um wenige Wochen zuvorgekommen ist (Unabhängige Militär-Rundschau, Moskau 2/1998). Die Stalinsche Außenpolitik 1939-41 war laut Danilow nicht bloß eine Episode, ein Intermezzo imperialistischer Aggressionsstrategie, ein Schrecken vor dem Schrecken - sie war eine neue Dimension des geplanten Vernichtungskrieges, geboren im GULag-Denken. Sie alle also "Volksverhetzer"?

In dem Septemberbrief von 1996 hatte Nolte festgestellt, "einflußreiche Kräfte" seien im wiedervereinigten Deutschland dabei, "nicht nur zentrale Teile des Geschichtsbilds der untergegangenen DDR mit einigen Modifikationen zu übernehmen, sondern ansatzweise auch die Methoden anzuwenden, die zu dessen Durchsetzung gebraucht wurden". All das sei geeignet, schwere Sorgen hervorzurufen.

Die stalinistischen Methoden der von den Mitteldeutschen hinweggefegten Diktatur sind hinlänglich bekannt. Zu diesen gehörten neben politischen Prozessen und Existenzvernichtung auch Denkverbote, Berufsverbote, Rufmord, regimehygienische Herrschaftsprinzipien einer "Volks"demokratie. Bekannt sind die von Nolte zitierten "einflußreichen Kräfte", die das kommunistisch-antifaschistische Geschichtsbild der Verlierer von 1989 übernommen haben. Weniger bekannt hingegen die deutsch-feindlichen Kräfte im westlichen Ausland. Ein aktuelles Beispiel:

Deutsche Soldaten haben in Rußland und der Ukraine Frauen vergewaltigt, gefangene Rotarmisten gefoltert, Kinder und Mütter erschossen, Komsomolmitglieder auf der Stelle liquidiert, Kolchosbauern massakriert, Dörfer niedergebrannt, Millionen von Zivilisten ermordet, nicht nur auf Befehl ihrer Vorgesetzten, sondern auch auf eigene Initiative. Diese Aussage stammt nicht von Heer, Reemtsma, Goldhagen, obgleich die Tendenz der sogenannten Wehrmachtsausstellung eine ähnliche ist. Prof. Dr. Omer Bartov hat sie postuliert, nachzulesen in der Sächsischen Zeitung vom 17./18. Januar 1998 ("Die saubere Wehrmacht ist eine Legende", Schlagzeile auf S. 3).

Im Krieg von 1973 war Bartov Soldat in der israelischen Armee. Er studierte in Tel Aviv und Oxford, ist derzeit Professor an der State University New Jersey. Die Sächsische Zeitung: "In der Erforschung der Rolle der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg zählt er mit seinen Werken zur Ostfront und zur Brutalisierung der Wehrmacht weltweit als anerkannter Experte."

Experte? Ein Meister ist Bartov zweifelsohne auf dem Sektor der Megalomanie. Sowohl aus der Perspektive des deutschen Generalstabes als auch aus der einfacher Soldaten an der Front sei der Krieg als "Genozid" geführt worden. Soldaten hätten beim Holocaust mit der SS zusammengearbeitet. Ein Vergleich mit "Verbrechen im Krieg, die es bei den Alliierten gab", sei nicht statthaft, seien doch die Soldaten der Wehrmacht von einer "entmenschlichenden Ideologie" erfüllt gewesen. So Bartov in seinem Interview mit der Sächsischen Zeitung. An Verurteilungsrituale des amerikanischen Antigermanismus hat man sich inzwischen gewöhnt, doch Omer Bartov, der in jedem Ostfrontsoldaten einen Genozidvollstrecker entdeckt, übertrifft alles.

Anfang Januar sprach er auf Einladung der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung im Saal des Dresdner Kulturrathauses zum Thema "Die Wehrmacht und der Holocaust". Am 22. Januar wurde die Sogenannte in Dresden eröffnet. Im Vorfeld kam es zu einem Schlagabtausch zwischen Befürwortern und Kritikern. Landtagsabgeordneter Volker Schimpff sprach von "kommunistischen Geschichtslügen", die Propagandaschau fälle ein undifferenziertes Urteil über die Generationen der Wehrmachtsangehörigen, sie arbeite nachweislich mit falschen Bildern. Ähnlich äußerte sich der Vizepräsident des sächsischen Landtages und frühere evangelische Pfarrer Heiner Sandig; die Wehrmacht sei nicht ein Haufen von Verbrechern gewesen. Sandig erinnerte an die Lügenpropaganda der SED: "Es gab nur den siegreichen Kampf der Sowjetarmee, die Wehrmacht waren die Faschisten, die niedergemacht werden müßten… Man muß sich vorstellen, wie das ist, wenn man nicht darüber reden kann, wo der Vater seine Hand verloren hatte." Mit Blick auf das alliierte Verbrechen der Bartholomäusnächte vom Februar 1945 sagte der Vizepräsident: "Im Grunde müßte auch die Frage formuliert werden, wo der prinzipielle moralische Unterschied zwischen Geiselerschießungen und der Bombardierung von Wohnvierteln liege." Im Dresdner Stadtrat erklärte Andreas Grapatin, die Ossis bräuchten keine Wessi-Kommunisten, "die uns dasselbe von der Wehrmacht erzählen, was uns die Kommunisten hier schon 40 Jahre lang vorgekaut haben."

Einen solchen Widerstand hat es in westdeutschen Landes- und Stadtparlamenten bis jetzt nicht gegeben.

Angesprochen auf diese Kritik, meinte Bartov in dem erwähnten Interview, diese Urteile würden Ignoranz widerspiegeln. "Die Ausstellung repräsentiert den Stand der internationalen Forschung. Sie faßt in Fotos und Dokumenten zusammen, was die internationale Wissenschaft erforscht hat."

Eine Unwahrheit, denn die "internationale Forschung" setzt sich nicht nur aus amerikanischen Deutschenhassern und westdeutschen Spätstalinisten zusammen. Verständlich, daß Omer Bartov seine Haßkampagne auf deutsche, amerikanische, russische, französische, ukrainische Geschichtsrevisionisten ausdehnt, Stichwort "Historikerstreit". Die Revisionisten, so Bartov, wollten den Krieg der deutschen Armee im Osten als einen verzweifelten Kampf gegen den Bolschewismus einordnen, als Reaktion auf einen bereits erkennbaren Vernichtungskrieg des Bolschewismus. "Obwohl sich die Revisionisten weitgehend selbst diskreditiert haben, sind die von ihnen beschworenen Interpretationen nicht in der Versenkung verschwunden. Vielmehr haben sie nach 1989 auf eine Reihe neuer Arbeiten abgefärbt."

Abgesehen davon, daß von einer Selbstdiskreditierung der Revisionisten überhaupt nicht die Rede sein kann (Bartov bestätigt ja indirekt deren Erfolg!), auch abgesehen von den notorischen Rohheiten und Gemütsverheerungen eines professionellen Deutschenhassers, unterschlägt dieser Historiker die Namen jener Historiker, denen es gelungen ist, die Legenden über eine "verbrecherische Wehrmacht" zu entlarven - Topitsch, Post, Hoffmann, Seidler, Nolte, Maser, um nur einige zu nennen.

In seinem Septemberbrief an François Furet, der da behauptet hatte, im Namen der Verabsolutierung der nationalen Idee sei das deutsche Heer zu dem "Massaker an den europäischen Juden" gelangt, konstatierte Ernst Nolte: "Wenn 'das deutsche Heer' von Mordlust gegenüber den Juden erfüllt gewesen wäre, hätte es keine 'Einsatzgruppen' der SS und der Polizei zu geben brauchen und der Kommandant von Auschwitz wäre nicht ein hoher SS-Führer gewesen. Nicht als Deutscher, sondern als Historiker und als Mensch kann ich mich eines Gefühles der Erbitterung nicht erwehren, wenn in Deutschland eine Ausstellung über die 'Verbrechen der Wehrmacht' organisiert wird und wenn unablässig über die angeblich 30 00 Todesurteile der Wehrmachtsjustiz geklagt wird - nicht deshalb, weil ich die Realität schlimmer Verbrechen auch innerhalb der Wehrmacht in Abrede stellen möchte oder ein Todesurteil wegen eines abschätzigen Urteils über den 'Führer' sachlich richtig fände, sondern weil die Gegenseite, - d. h. die Verbrechen der GPU und die vielen Zehntausende von Erschießungen bzw. Verurteilungen wegen 'Feigheit' oder sogar wegen 'Mitleid mit dem Feind' auf sowjetischer Seite - völlig ausgespart und geradezu als inexistent hingestellt wird."

Wir haben in den letzten Monaten schön öfter auf die Korrespondenz zwischen Nolte und Furet hingewiesen, die zuerst in Italien und dann in Frankreich erschien. Jetzt ist sie auch deutsch erschienen: François Furet - Ernst Nolte: "Feindliche Nähe" Kommunismus und Faschismus im 20. Jahrhundert. Ein Briefwechsel. Herbig Verlag, München 1998, 123 S., DM 29,90.

Es hat nicht an Versuchen gefehlt, den Geschichtsrevisionismus in die Sphäre des Dämonischen, Satanischen zu tauchen. Nach Ausbruch des russischen und deutschen Historikerstreits, verbunden mit den Namen Solschenizyn und Nolte, mehrten sich die Attentate der Dogmatiker, das Phänomen als geistige Greueltat abzustempeln. Der Revisionismus, das Böse an sich.

Der Hexensabbat dauert an. Das Epizentrum liegt in Deutschland. Helmut Kohl übernimmt einen stalinistischen Standpunkt, wenn er, wie jüngst in Moskau, behauptet, daß 150 00 junge Letten, die 1944/45 in deutscher Uniform und mit russischen Beutewaffen ihre Heimat gegen die Rote Armee verteidigten, "Nazis" gewesen waren, also Verbrecher. Dieser Mann will Geschichte studiert haben. Dr. Herwig Pickert, Oberst im Generalstab und Dozent an der Bundeswehr-Führungsakademie Hamburg, darf ungestraft die These verbreiten, "die" Wehrmacht, also auch die Armee eines Tresckow, Stauffenberg, Gehlen, Guderian, sei Vollstreckungsorgan des Hitlerschen Vernichtungskrieges im Osten gewesen. Nach Ansicht des 68ers Ulrich Herbert ("Geschichtsforscher" laut WELT vom 16. März) fand das ungeheuerste Verbrechen der Weltgeschichte nicht im GULag-Imperium statt - wo bekanntlich die ersten industriell betriebenen Mordfabriken gearbeitet haben -, sondern in Deutschland.

Die revisionistischen Werke der Solschenizyn, Wolkogonow, Danilow, Hoffmann, Maser, Post, Topitsch, Seidler, Nolte, Courtois werden nicht zur Kenntnis genommen. Das französische "Scbwarzbuch" fand bei seinem Erscheinen in Italien, heuer im Februar, Hunderttausende von Käufern, der ersten Auflage folgte sofort die zweite. Der "Big Bang" von Paris wurde in der BRDDR bisher nur in Feuilletons abgehandelt, und die Thesen des ehemaligen Komsomolerziehers Jurij Afanasiew, seit 1991 Rektor der Russischen Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau, scheinen im Adenauer-Haus wie bei der Ebert-Stiftung terra incognita zu sein. Afanasiew lehrt heute: Die Wurzeln historisch einmaliger Verbrechen sind bei Lenin und in der bolschewistischen Ideologie zu suchen, schuld am Zweiten Weltkrieg ist auch der Vernichtungsstratege Stalin.

Die vorliegende Korrespondenz sollte die Dogmatikermauer sprengen. Nolte sei im Historikerstreit "viel Unrecht widerfahren", gesteht Frank Schirrmacher (wohl nicht ganz ohne Reuegefühle). Dem Franzosen Furet, als Ex-Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs selber ein ideeller Mittäter an der "Jahrhundertkatastrophe", sei es im Briefwechsel gelungen, die Wälle der intellektuellen Abschottung Noltes zu durchbrechen (FAZ vom 24. März 1998).

François Furet, führender Geschichtsschreiber der Französischen Revolution, Autor des Epochenwerkes über den Kommunismus im 20.Jahrhundert ("Le passé d'une illusion", 1995, deutsch Das Ende der Illusion" Piper 1996), Mitglied der Academie française und Träger des Hannah-Arendt-Preises, starb siebzigjährig am 12. Juli 1997. Auf Wunsch der Turiner Zeitung Stampa schrieb Nolte einen Nachruf für "cher ami" - Der Briefwechsel Furet - Nolte 1996/97, Auslöser einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung in renommierten

französischen und italienischen Historikerjournalen (Liberal, Le Débat, Commentaire), erschien auch in Italien.

Im Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt Ernst Nolte: "Jedem Leser wird sich der Eindruck aufdrängen, daß in diesem Briefwechsel, zumal auf der Seite Furets, Übereinstimmung und Dissens dicht beieinander liegen. Jeder wird sich selbst zu entscheiden haben, wo nach seiner Auffassung der stärkere Akzent wahrzunehmen ist. Von niemandem aber dürfte bestritten werden, daß dieser Briefwechsel zwischen zwei, ihren Präzedentien nach sehr verschiedenen Historikern, auf argumentarische Weise und in einem Geist wechselseitigen Respekts geführt wurde, zu denen es in Deutschland leider während des sogenannten Historikerstreits keine Analogie gab." (S. 9)

Übereinstimmung und Dissens kristallisieren sich vor allem in Furets letztem Brief, datiert vom April 1997. Er stimmt Noltes These zu, daß die faschistischen Bewegungen ihren Ursprung der bolschewistischen Bedrohung verdanken, mit einer Einschränkung - die faschistische Ideologie hatte sich in ihren Hauptelementen schon vor dem Krieg von 1914 gebildet, ohne jede Verbindung zur Leninschen Partei, die im zaristischen Rußland nur eine winzige Splittergruppe war.

Furet sieht das historisch Neue am Faschismus darin, daß er die europäische Rechte aus einer Sackgasse befreit hat, die mit dem gegenrevolutionären Gedanken verknüpft war. Die konservative Rechte hatte kein anderes Ziel als die Restauration der Vergangenheit - zurück zur Ordnung vor 1789. Ganz anders der Faschismus, der sich als Revolution begriff und auch eine Revolution beinhaltete, woraus die gewaltige Anziehung resultierte, die er auf die Massen des 20. Jahrhunderts ausgeübt hat, während die Idee der konservativen Gegenrevolution im 19. Jahrhundert keinen derartigen Einfluß besaß.

Furet hebt die Bedeutung Heideggers, die Eigenart des Pariser Mai 1968, die geistige Epochenwende durch Solschenizyns Werk hervor. Die philosophische Landschaft in Nachkriegsfrankreich wurde vom Existentialismus Sartres geprägt, der Heidegger mehr als Marx verdankte. Im Unterschied zu den westdeutschen 68ern bestanden die französischen 68er nur zu einem kleinen Teil aus Marxisten oder orthodoxen Kommunisten. Neben Radikalliberalen, die einen individualistischen Hedonismus propagierten, gab es vor allem Maoisten, die weit davon entfernt waren, neostalinistisch zu sein. Diese Strömung enthielt libertäre und sogar anarchische Komponenten. Bezeichnend ist es, daß das Werk Solschenizyns in Frankreich von vielen alten Maoisten begeistert aufgenommen wurde. Der Pariser Mai '68 hat dem Antikommunismus mächtigen Auftrieb gegeben, im Gegensatz zum Berliner August '68, als deutsche Studenten die stalinistische DDR rehabilitierten und der Kommunismus insgesamt eine verspätete Art von Immunität gegen öffentliche Kritik gewann.

Wohlgemerkt, das ist die Meinung François Furets. Er unterstützt Noltes Urteil über den Aschegeruch des Absurden nach dem Untergang des Sowjetkommunismus. Paradoxerweise war der Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Ideologie von einer Schwenkung der veröffentlichen Meinung Europas nach links begleitet. Er beklagt die Atmosphäre der Intoleranz in der BRDDR, er verurteilt die Dämonisierungskampagne der deutschen Linken gegen Nolte. Wenn jeder Versuch, den Faschismus bzw. Nationalsozialismus zu historisieren und ihn mit anderen Phänomenen zu vergleichen, als ein schuldhafter Versuch des "Verstehens" betrachtet wird, dann bleibt den Historikern nichts anderes übrig, als zu schweigen, da sie befürchten müssen, einer posthumen Komplizenschaft bezichtigt zu werden.

Furet teilt die Kapitalismuskritik Noltes. Er beobachtet eine immer größere Uniformierung der Welt im Zeichen des Neoliberalismus und sieht die Gefahr einer größeren Versklavung des Individuums durch eine schrankenlose globale Profitwirtschaft.

Gibt es einen jüdischen Universalismus, jüdischen Messianismus, und wenn ja, welche Rolle spielte er bei der Herausbildung des Frühbolschewismus und im "Antijudaismus" der Nationalsozialisten? Dieser von beiden Briefpartnern angeschnittenen Frage geht Furet in seinem Dezemberbrief von 1996 nach, verbunden mit Problemkreisen wie: Rolle der Persönlichkeit; Bedeutung des Faschismus als fundamental Neues; Verlogenheit der Antifa; Revisionismus als A und O wissenschaftlicher Forschungstätigkeit; das Verdammenswerte von Sondergesetzen gegen Geschichtsrevisionisten; das Reaktionäre eines Verfassungsschutzes, der sich der Bekämpfung neuer Geschichtserkenntnisse widmet.

Eine Unterdrückung revisionistischer Thesen steht dem wissenschaftlichen Fortschritt im Wege, weil das historische Wissen in einem Prozeß ständiger Revision früheren Theorien voran schreite. Dazu Furet: "Nichts ist schlimmer, als den Fortschritt des Wissens aufhalten zu wollen, unter welchem Vorwand auch immer. Deshalb teile ich Ihre Abneigung gegen eine 'Sprachregelung' im Bereich historischer Fragen durch Gesetzgebung oder Verwaltung. Der Holocaust ist nun leider einmal Bestandteil der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er darf um so weniger zum Gegenstand eines präventiven Forschungsverbots werden, als noch eine ganze Anzahl von Aspekten ungeklärt ist und die Geschichtsschreibung über das Thema noch in den Anfängen steckt." (S. 96)

Eine weitere Zentralthese Furets: Der Antifaschismus hatte und hat die Funktion, die bolschewistischen Verbrechen zu kaschieren, und die Menschen glauben zu machen, der Kommunismus sei nur eine höhere Form der Demokratie. Der Faschismus war nach Furet nicht eine Gegenrevolution, wie die Kommunisten behaupten, sondern im Gegenteil eine revolutionäre Kraft. "Bis zum Aufkommen des Faschismus steckt die 'antimoderne' Politik in der Sackgasse der Gegenrevolution. Mit Mussolini aber gewinnt sie ihren Reiz, ihren Zauber bei den Massen zurück. Es scheint mir, daß im Faschismus eine Idee von der Zukunft steckt, die der gegenrevolutionären Ideologie und Politik des 19. Jahrhunderts vollständig abgeht." (S. 90)

Furet betont die Rolle der Persönlichkeit Hitlers in der europäischen Tragödie. In diesem Punkt teile er die Ansicht Noltes, schreibt Furet. "Ohne sein politisches, dem Bösen zugewandtes Genie wäre alles anders verlaufen. Die Historiker unserer Epoche, die vom Determinismus und dem soziologischen Verständnis der Geschichte besessen sind, übersehen gerne die akzidentiellen Merkmale der europäischen Tragödie im 20. Jahrhundert und die Rolle, die bestimmte Persönlichkeiten darin gespielt haben." (S. 91)

Über den "demokratischen Universalismus" der Juden, über die "Weigerung der Juden, die Göttlichkeit Christi anzuerkennen", über den besonderen Charakter des "modernen Antisemitismus" im Vergleich zum mittelalterlichen Antisemitismus schreibt Furet, der in diesem Zusammenhang den Begriff "Judentum" benutzt: "Sie (die moderne Form des Antisemitismus) beschuldigt die Juden… mittels eines abstrakten Universalismus der Welt des Geldes und der Menschenrechte die Weltherrschaft anzustreben, was im einzelnen durch eine Verschwörung gegen jede Nation beginnt. In beiden Fällen wendet sich die Vorstellung der Juden, von Gott auserwählt zu sein, als Fluch gegen sie zurück." (S. 86)

Diese Sätze stehen in Furets Dezemberbrief von 1996. Die Idee, die Oktoberrevolution sei Ergebnis einer "Verschwörung des internationalen Judentums" gewesen, gehört laut Furet zum Typus der Verschwörungstheorien. Dazu bemerkt er: "Ich bestreite keinen Augenblick, daß es in der frühesten bolschewistischen Führung zahlreiche militante Juden gab, übrigens ebenso in der sozialistischen Bewegung, insbesondere der osteuropäischen Länder. Aber das ist eine Beobachtung, aus der man keinesfalls schon per definitionem die Existenz einer speziellen jüdischen Verschwörung ableiten kann." (S. 88)

Seine Entgegnung schreibt Nolte noch im Dezember. Im Mittelpunkt stehen der Historikerstreit und die Schande von politisch initiierten "Sondergesetzen" gegen Historiker und Geschichtsschreibung, oder anders ausgedrückt, die "Einbeziehung von Aussagen, Argumenten und Wertungen in das Gebiet des Strafrechts". Er erinnert an die "antifaschistische" Kampagne noch vor der Wende, als es chic wurde, und nicht nur unter Professoren und Publizisten, die öffentliche Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf die "Verbrechen des Nationalsozialismus" zu richten.

Der "Historikerstreit" schließlich habe zu einer nahezu einhelligen Empörung geführt, schreibt Nolte (gemeint ist die Reaktion auf seinen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen vom 6. Juni 1986). "Aber als der damalige Bundespräsident (v. Weizsäcker, W. S.) den Streit durch eine autorative Stellungnahme endgültig zugunsten meiner Gegner entschieden zu haben schien, da dauerte es nicht viel länger als ein Jahr, bis der innere Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa erfolgte."

Unerhörte Kritik übt Nolte in seinem Dezemberbrief 1996 an Art und Weise der Wiedervereinigung, wie sie vom BRD-System vollstreckt wurde - bürokratisch-administrativ, über die Köpfe der Menschen hinweg, ohne Nationalgefühl und nationale Solidarität. Anfang 1989 sei hier und da der Gedanke aufgekommen, eine "deutsche Nationalstiftung" zu begründen, "aus der die Kosten der Wiedervereinigung bezahlt werden sollten, da zu hoffen war, daß weite Kreise der deutschen Nation bereit sein würden, fühlbare Vermögensopfer zu bringen". Aber die maßgebenden Politiker hätten diesen Gedanken nicht aufgenommen.

"Und sie hatten insofern recht, als Beträge von vielen Hunderten von Milliarden, die - wie sich allmählich zeigte - erforderlich waren, durch freiwillige Opfer nicht hätten aufgebracht werden können. Und doch war es ein unglücklicher Entschluß der Politik, 1990 den Eindruck zu erwecken, die Wiedervereinigung könne gleichsam mit der linken Hand und aus dem Taschengeld bezahlt werden. So wurde den Westdeutschen die Möglichkeit genommen, in die Spuren ihrer Vorfahren aus der Zeit der Freiheitskriege zu treten, die 'Gold für Eisen' gaben, um durch ein augenfälliges Opfer den befreiten Landsleuten der hinschwindenden DDR zu zeigen, daß die Rede von der egoistischen 'Ellbogengesellschaft', mit der sie mehr als vier Jahrzehnte hindurch indoktriniert worden waren, unrichtig war. Nun aber bestätigte sich jener Eindruck in den Augen vieler Bewohner der ehemaligen DDR, da nur Akte des Staates und keine weithin sichtbaren Akte der Bevölkerung erfolgten." (S. 104 f.)

Noltes zutreffende Anklage und die Analyse und Kommentare der Staatsbriefe seit 1990, hier decken sie sich: "Die Art und Weise, wie diese Industrie den Investoren der ganzen Welt zum Kauf angeboten wurde, ließ die Empfindung gut begründet erscheinen, die Bevölkerung sei bloß das Objekt einer allzu stürmischen und allzu fremdartigen Entwicklung. Das extrem autoritäre und planwirtschaftliche System von gestern wurde sozusagen ohne Übergang und Erklärung durch das System der konkurrierenden Firmen und Parteien abgelöst…" (S. 105)

Deutschland nach der Wiedervereinigung, fremdbestimmt und überfremdet, ein Spielball ausländischer Mächte, usurpiert und regiert von einer Klasse nationaler Selbststigmatisierer, zu dieser Staatsbriefe-These gelangt auch Ernst Nolte in seiner Situationsbeschreibung von 1996: "Der Eindruck verstärke sich - und gewiß nicht nur in Deutschland -, daß die eigentlichen Entscheidungen - etwa über die geplante Währungsunion und über das Problem der Einwanderung - unter dem Druck anonymer Entwicklungen in Brüssel und in Washington getroffen würden, ohne daß den einfachen Menschen eine Mitwirkung zugestanden werde." (S. 106)

Von hier zu einer grundsätzlichen Verurteilung des kapitalistischen Liberalismus ist es nicht weit. Nolte spricht von der "Einen Welt der Marktwirtschaft und Konkurrenz", er warnt vor einem Gespenst - One World eines Kapitalismus, der die Industrie der DDR aufgekauft und aus Konkurrenzgründen zerstört hat. Nolte erkennt eine konkrete Gefahr, ruft zum Widerstand auf. Die Gefahr nämlich, "daß der völlig entfesselte und die ganze Welt durchherrschende Kapitalismus das geistige Vakuum, das er nach sich zieht, von einem 'Antifaschismus' ausfüllen läßt, der die Geschichte ebenso amputiert und simplifiziert, wie das ökonomische System die Welt uniformiert". Aber solange eine solche Zukunft noch als Gefahr empfunden werden könne, sei es geboten, ihr entgegenzuarbeiten.

In einem wesentlichen Punkt korrigiert Nolte den französischen Kollegen. Dieser hatte behauptet, die "Auslöschung der Juden" wäre allein aufgrund der Tatsache erfolgt, "daß sie als Juden geboren waren". Nun trifft auch Nolte eine Unterscheidung zwischen "sozialer Vernichtung" und "biologischer Vernichtung", betont jedoch, "daß die Trennungslinien in der Realität nicht so scharf sind, wie in der Welt der Begriffe", womit er, zwei Jahre vor dem Erscheinen des französischen Schwarzbuches, eine Zentralthese des Historikers Courtois bestätigt. Courtois wertet den Hungermord in der Ukraine, die Kulakenausrottung, den Feldzug gegen Kosaken und nichtrussische Ethnien nicht nur als einen sozialen Genozid im Zuge des bolschewistischen Klassenkrieges; vernichtet wurden die "Feinde" deshalb, weil sie Ukrainer, Kosaken, Krimtataren, Wolgadeutsche, Tschetschenen waren. Im Kern war der soziale Genozid auch ein Ethnozid. Nolte konstatiert "gigantische Opferzahlen".

Ein gigantisches Blutvergießen, dem die Völker der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg zum Opfer fielen, beklagt der russische Schriftsteller Georgij Wladimow in seinem jüngsten Roman "Der General und seine Armee". Der Henker, der Vernichtungsstratege, der Befehlshaber eines sinnlosen Verheizens, er hieß Stalin. Der Rückeroberung Kiews bis zum Leninschen Feiertag am 7. November 1943 opferte er ganze Divisionen und Armeen. Ins deutsche Feuer getrieben Hunderttausende von Soldaten. Ethnozid? Soziozid? Auf jeden Fall Genozid. Wladimow weigert sich, die von Leo Tolstoi in "Krieg und Frieden" postulierte moralische Überlegenheit der Russen in Stalins Generälen anzuerkennen, "die so freigiebig ihre besten Kräfte zum Abschlachten trieben".

Einen Roman nach Tatsachen schrieb Wladimow. Bestätigt wird darin der von Ernst Nolte und François Furet beschriebene verbrecherische Charakter des Bolschewismus von Anfang an. Ein Gewaltregime, von dem sich die "bürgerliche" Welt von 1917 tödlichst bedroht fühlte, ein Vernichtungssystem, das den Faschismus als Gegenreaktion gebar, den Antipoden in einem unvermeidbaren Entscheidungskampf" (Nolte).


zurück zu Aleksandr Solzhenitsyn

heim zu Es steht geschrieben