ERNST v. HESSE-WARTEGG
(1851 - 1918)

[Hesse-Wartegg]

EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
ALS ES NOCH KEIN INTERNET GAB
Reiseschriftsteller des 20. Jahrhunderts

Dikigoros hat lange geschwankt, ob er diesen ersten "modernen" Weltreisendenen hier vorstellen soll, der sich mehr für die Menschen und ihre Zivilisation ("staunenswerte Menschenwerke") als für die "Naturschöpfungen" interessierte. Dagegen spricht zum einen, daß Hesse-Wartegg die meisten seiner Reisen noch im 19. Jahrhundert unternahm, als das staunenswerteste Menschenwerk für den Reisenden bisweilen der Sattel seines Reittiers war, zum anderen, daß seine Bücher heute kaum noch zu erschwinglichen Preisen aufzutreiben sind - nicht einmal die in kleiner Auflage erschienenen Facsimile-Nachdrucke und Auszüge in Sammelwerken -, so daß den meisten Lesern der Genuß ihrer Lektüre wohl verwehrt bleiben wird. Dafür spricht zum einen, daß Hesse-Wartegg seine Reisen bis ins 20. Jahrhundert hinein sorgfältig nachbereitet hat, und daß die knapp tausendseitige Zusammenfassung seiner Erlebnisse unter dem Titel "Die Wunder der Welt" noch bis in die 1920er Jahre (nach seinem Tode fortgeführt von verschiedenen Bearbeitern) neu aufgelegt wurde, zum anderen... aber darauf kommen wir später.

Als Österreicher begann Hesse-Wartegg seine Reisen, 20 Jahre jung, nahe liegender Weise erst einmal die Donau hinunter, auf den Balkan bis ins Osmanische Reich (wozu damals nicht nur die heutige Türkei gehörte, sondern z.B. auch Syrien, das er ebenso besuchte wie später Nordafrika von Ägypten über Tunesien bis Algerien und - von Spanien aus - Marokko). Bei seiner Einstellung kann es jedoch nicht verwundern, wenn er sich von solch primitiven, schlecht zu bereisenden Gegenden bald abwandte und als sein bevorzugtes Reiseziel Nordamerika entdeckte. Nicht nur die Vereinigten Staaten (die schon damals als die Wiege der "modernen Zivilisation" galten, wie wir sie heute kennen), sondern auch Kanada und Neufundland, das damals noch eine separate britische Kolonie bildete. Seine ersten erfolgreichen Reiseberichte schrieb Hesse-Wartegg über die Felsengebirge und Prärien des Mittleren Westens, über Kalifornien und über den Mississippi - ähnlich wie Mark Twain (der Hesse-Warteggs Bücher übrigens gelesen hatte, bevor er selber zu schreiben begann, und fleißig aus ihnen zitierte). Der angelsächsische Kulturkreis nahm ihn dermaßen gefangen, daß er die nächsten Jahrzehnte seines Lebens meist in London verbrachte - wenn er nicht gerade auf Reisen war. Von Nordamerika reiste er weiter durch Mittelamerika - "Auf neuen Wegen durch das Aztekenland" - und in den Jahren 1903-13 (also schon im 20. Jahrhundert) dreimal nach Südamerika, auf Humboldts Spuren, wie er meinte. Freilich war der Titel seines Buches "Zwischen Anden und Amazonas" irreführend, denn anders als man vermuten sollte, lag der Schwerpunkt dieser seiner Reisen nicht etwa zwischen den Indio- und Anden-Staaten Perú, Ekuador und Bolivien und dem Amazonas-Gebiet, sondern zwischen den "zivilisierteren", überwiegend von Weißen bewohnten Ländern am Atlantik: Brasilien, Uruguay und Argentinien (mit einem Abstecher nach Paraguay).

Auch die scharfe Trennungslinie, die Hesse-Wartegg zwischen Alt- und Neu-Mexiko gefunden haben will, verblüfft den Reisenden, der sie aus eigener Anschauung kennt: War es wirklich so, daß bereits in den 1880er Jahren ein derart großes Gefälle diesseits und jenseits des Rio Grande herrschte, daß das Land im Süden noch "unverfälscht" war, während die Gebiete im Norden, die erst 1836-1848 an die USA gefallen waren (Texas, Arizona, Neu-Mexiko, Kalifornien), schon völlig von diesen assimiliert, "vom glänzenden Yankee-Firnis überzogen" waren? (In keinem seiner Spätwerke fehlt ein Seitenhieb auf "die Yankees".) Dikigoros hat es noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anders kennen gelernt - aber vielleicht hatte da schon die Gegenbewegung eingesetzt... Wie dem auch sei, bei aufmerksamer Betrachtung dürften sich die Staaten und Territorien im Südwesten der USA damals noch ganz erheblich etwa von den Neuengland-Staaten im Nordosten unterschieden haben; und auch das "alte" Mexiko war längst nicht mehr so rückständig und "urwüchsig", wie Hesse-Wartegg es uns weis machen will. Nicht umsonst war gerade eine Eisenbahn-Linie bis nach Yucatán gebaut worden - ohne die er diese Reise wohl gar nicht unternommen hätte, auch wenn er kurz zuvor noch beklagt hatte, daß es nach der "Eisenbahn-Invasion" mit der Romantik in Mexiko vorbei sein würde.

Nun kann man über den Wert und/oder Unwert moderner Massenverkehrsmitteln auf Reisen geteilter Meinung sein. Dikigoros hält nichts von Autoreisen, da sie den Menschen für gewöhnlich isolieren, während er unterwegs ist; ebenso wenig von Touristenbussen, in denen Grüppchen von Ausländern von einer toten "Sehenswürdigkeit" zur anderen gekarrt werden, von einem Cicerone, der ihnen in ihrer eigenen Muttersprache irgendwelche Namen und Daten an den Kopf wirft, die sie ebensogut oder besser zuhause im Lexikon hätten nachlesen können. Aber er bezweifelt auch, daß man "Land und Leute" (wobei ihm nicht recht klar ist, wie die Urheber dieser Redewendung eines vom anderen trennen wollen) kennen lernt, wenn man als einsamer Wanderer durch die Wüste oder den Dschungel tapst oder reitet, bestenfalls begleitet von ein paar eingeborenen Trägern, die man eben nicht in ihrer "normalen" Lebensform erlebt, sondern in der des Touristen-Begleiters. Dagegen ist doch gerade die Eisenbahn geradezu prädestiniert, den Kontakt zu den Einheimischen zu knüpfen und zu vertiefen - wenn man es denn richtig anstellt. (Darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle mehr.) Gewiß gilt das nicht, wenn man in isolierten und klimatisierten Erste-Klasse-Abteils, die nur für Ausländer bestimmt sind, unter sich bleibt, sei es weil die Regierung des Reiselandes es so vorschreibt, wie z.B. in Sowjet-Rußland und Rot-China (oder früher in Südafrika, sei es, weil die Reisenden sich selber zu fein sind, im "Eingeborenenzug" 2. oder gar 3. Klasse mit zu fahren, wie z.B. in Lateinamerika oder Indien. Aber für mutige Reisende gibt es immer Mittel und Wege, sich über solche geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze hinweg zu setzen.

Zurück zu Hesse-Wartegg. Zwischendurch, in den 1890er Jahren, war er dreimal "um die Welt" gereist, d.h. vor allem nach Ost-Asien: Korea, "das Land der Morgenstille" (1894) soll er als erster deutschsprachiger Reisender überhaupt besucht haben - jedenfalls hat er als erster darüber geschrieben. Über ein noch ziemlich "exotisches" Japan schrieb er in "China und Japan" (1897), über China in "Von Kiautschou ins Heilige Land von China und vom Jangtsekiang nach Peking" (1898), über Thailand in "Siam, das Reich des weißen Elefanten" (1899) und über Indien, das er als einer von nur wenigen Nicht-Angelsachsen damals bereiste, in "Indien und seine Fürstenhöfe".

Wenn man Hesse-Warteggs Reiseberichte kritisch liest könnte einem der Verdacht kommen, daß er mit ähnlichen Scheuklappen durch die Lande gereist ist wie mancher moderne Pauschal-Tourist auf organisierter Gruppenrundreise, d.h. mit ziemlich oberflächlichen An- und Einsichten. Aber er ist wenigstens ehrlich, wenn er z.B. schreibt: "Wovon ein großer Teil der Bevölkerung lebt, ist mir trotz mehrtägigen Aufenthalts hier ein Rätsel geblieben. Sie beschäftigen sich mit nichts, sie lungern den ganzen Tag herum, ein Viertel von ihnen bringt die Nacht unter freiem Himmel zu..." Nun muß man freilich sehen, daß die meisten Völker der Welt zwar schon damals sehr neugierig waren, etwas über ausländische Touristen zu erfahren, die ihr Land besuchten, aber umso verschlossener, wenn es darum ging, diesen Einblicke in ihr eigenes Leben zu gewähren. Dem stand nicht nur die Sprachbarriere entgegen, sondern auch ein gesundes Mißtrauen gegenüber Angehörigen der Kolonialmächte, deren Expansionsstreben sich damals gerade auf dem Höhepunkt befand - eine Handvoll europäischer Staaten hatte die Erde bis auf ein paar kleine weiße Flecken auf der Landkarte unter sich aufgeteilt, da trug man sein Herz nicht unbedingt auf der Zunge.

Dennoch sind Hesse-Warteggs Reiseberichte schon deshalb wertvoll, weil wir über manche Länder der damaligen Welt sonst schlicht keine schriftlichen Aufzeichnungen haben. Eine solche Feststellung mag den Leser verwundern, der es gewohnt ist, alles Geschehen in irgendwelchen Zeitungs-Archiven, Memoiren und "wissenschaftlichen" Untersuchungen nachlesen zu können; immerhin ist hier von einer Zeit die Rede, die erst ein gutes Jahrhundert zurück liegt und in der es das alles schon gab. Wohl wahr, und dennoch scheint es kaum jemand für erinnernswert gehalten zu haben. Es mag dies auch eine Frage der Welt-Anschauung gewesen sein: Wenn ein Europäer im Mittelalter oder in der frühen Neuzeit z.B. nach Asien reiste, zur Hohen Pforte des Osmanischen Reiches in Byzanz, zum Pfauenthron des Shah-in-Shah von Persien, zum Groß-Muģal von Indien, zum Kaiser von China in der Verbotenen Stadt Pekings, zum Shōgun von Nippon oder auch nur zum König von Syām, dann bekam er dort Städte und andere Errungenschaften der Zivilisation zu sehen, die ihn und seine zuhause gebliebenen Zeitgenossen beeindrucken mußten - natürlich hielt er das alles für berichtenswert. Aber seit dem 19. Jahrhundert hielten die europäischen Reisenden sich "zivilisatorisch" für überlegen; was sie in dieser Hinsicht vom "Rest der Welt" zu sehen bekamen, erschien ihnen unbeachtlich, da selbstverständlich oder gar minderwertig. Wenn sie noch etwas festhalten zu müssen glaubten, dann waren es die "Naturwunder", bevor sie von eben dieser Zivilisation vernichtet wurden, denn die meisten Reisenden, von Humboldt über Emmerich bis zu Hedin, verstanden sich noch als "Naturkundler". Und so klafft denn ausgerechnet über jene Zeit, die zum ersten Mal alle Mittel der Beschreibung und Bewahrung von Erinnernswertem bereit stellte, eine peinliche Überlieferungs-Lücke. Man könnte fast sagen: Was in jener Zeit nicht von Mark Twain oder Hesse-Wartegg aufgeschrieben wurde, ist der Nachwelt verloren gegangen.

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