FERD. EMMERICH
(Ferdinand Emmerich-Hoegen)
(1858 - 1930)
"Die Kultur tötet..."

[Ferd. Emmerich]

EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
ALS ES NOCH KEIN INTERNET GAB
Reiseschriftsteller im 20. Jahrhundert

Aber nein, liebe Leser, das ist natürlich kein Portrait von Ferdinand Emmerich, sondern bloß der Schrumpfkopf eines unbekannten Kanaken von Borneo, pardon eines Landeskindes (anak-[k]anak = [Landes-]Kinder) von Kalimantan. Gleichwohl hat Dikigoros einen guten Grund, es an den Anfang dieses Berichts zu stellen, genauer gesagt sogar zwei: Erstens hat er kein brauchbares Bild des braven Reiseschriftstellers (so sah er angeblich aus; allerdings ist da unter dem Tropenhelm und hinter dem dichten Vollbart nicht viel zu erkennen), und zweitens war es dessen Marotte, in aller Welt den vermeintlich letzten Kopfjägern nachzustellen. Man hätte Emmerich besser den "Kannibalenjäger der Südsee" nennen sollen als den "Einsiedler von Guyana"; denn den letzteren Beinamen trug er eindeutig zu Unrecht: Es handelt sich lediglich um den Titel seines bekanntesten (und zu Unrecht erfolgreichsten) Buches, in dem er das Leben eines Aussteigers beschreibt, dem er auf einer seiner Reisen begegnet ist. Emmerich (als Rheinländer der einzige Deutsche dieser Übersicht aus dem "Altreich") war alles andere als ein Einsiedler; vielmehr trieb es ihn hinaus in die Welt, die er bis zur Jahrhundertwende dreimal umkreiste. Seine bevorzugten Reiseziele waren Lateinamerika und vor allem der Pazifik; aber er suchte auch so unterschiedliche Länder auf wie das gerade vom Burenkrieg zerrissene Südafrika oder Tibet, dessen Osten er durchwanderte. (Es war seine letzte Reise, über die es leider kein veröffentlichtes Buch gibt, so daß heute noch immer die irrige Meinung weit verbreitet ist, Heinrich Harrer sei der erste Deutsche gewesen, der dort heil hinein und wieder heraus gekommen sei.) Frucht dieser Reisen ist eine (vom Stolpe-Verlag wohl aus kommerziellen Gründen etwas sinn- und lieblos in 12 Bände zerhackte) Reihe von Reisebeschreibungen, die erst Ende der 1920er Jahre, also kurz vor seinem Tode, veröffentlicht wurden. Oberflächlich betrachtet war Emmerich eine Mischung aus Sven Hedin und Carl May. Wie der Schwede war er eigentlich Naturwissenschaftler (Mediziner und Biologe) und reiste in erster Linie wegen interessanter Landschaften, Flora und Fauna um die Welt. Die Menschen an seinen Wegen nahm er nur als - oftmals unliebsame - Begleiterscheinungen zur Kenntnis, jedenfalls die Eingeborenen, zu denen er sich allenfalls herab ließ, um ihnen "etwas Achtung vor dem Leben der Tiere beizubringen und sie von Grausamkeiten abzuhalten, die sie gedankenlos zu begehen im Begriff standen." (Tja, so ein armes Tier hatte es schon schwer, wenn es in freier Wildbahn gejagt, erlegt, enthäutet, am Lagerfeuer gebraten, und "mit bloßen Zähnen zerrissen und aufgefressen" wurde. Da ist es doch weit angenehmer, eng, aber gut geimpft im Stall oder in der Legebatterie gemästet zu werden, bis man schmerzfrei und steril, also ganz human, getötet, zu Formfleisch verarbeitet, in der Tiefkühltruhe eingefroren, in der Mikrowelle aufgetaut und schließlich mit Messer und Gabel verspeist wird, wie heute - aber das ist eine andere Geschichte).

Wenn Emmerich den Einheimischen nicht aus dem Wege gehen konnte, dann beschrieb er die Begegnungen mit ihnen durchaus im Stile Mays als "Abenteuer" - nur mit dem Unterschied, daß er diese Abenteuer tatsächlich erlebt hat, während der Sachse sie sich bloß am Schreibtisch ausdachte. Aber es ist nicht nur der Stil, in dem Emmerich May ähnelt, sondern auch der Inhalt, dessen Fazit in etwa lautet: Die Eingeborenen sind mit Vorsicht zu genießen, wenn man nicht selber von ihnen genossen werden will (ja, es gab noch "mordgierige" Kopfjäger, nicht bloß auf Borneo und Celebes, sondern auch z.B. auf Hawaii, bevor es 1898 von den USA annektiert wurde); aber man kann schon mit ihnen klar kommen, wenn man sie nur richtig zu nehmen weiß. (Dazu gehört notfalls auch - wie bei Hedin - der Einsatz des eigenen Schießeisens oder wenigstens dessen Androhung, denn "den Eingeborenen imponiert nichts so sehr, wie ein energischer, furchtloser weißer Mann.") Dagegen sind die Vertreter der Kolonialherren, allen voran die Angelsachsen, oftmals der letzte Abschaum; gute Erfahrungen macht man - als Eingeborener wie als Reisender - eigentlich immer und überall nur mit den Deutschen. ("Wir sind ja Gott sei Dank keine Engländer" - und auch keine "weibischen Franzosen"!) Eine solche Aussage hat aus dem Munde des erfahrenen Weltreisenden durchaus ein anderes Gewicht als aus dem des Schreibtischtäters von Radebeul. Emmerich beschreibt nämlich anschaulich, wie dieses sein Urteil (kein Vorurteil!) zustande gekommen ist: Gerät ein Schiff in Seenot, und sei es auch ein englisches, so kehren sich andere englische Schiffe nicht darum, sondern suchen ungerührt das Weite, während die braven deutschen Seeleute stets, auch unter Einsatz des eigenen Lebens, bemüht sind, Hilfe zu leisten - und ob ihrer Tüchtigkeit (die sie in aller Welt so verhaßt macht) meist mit Erfolg. Bucht man auf einem britischen Schiff, so kann man sicher sein, daß der Kapitän sich früher oder später besäuft ("wirklich nüchterne Menschen der Besatzung sah ich während der Reise nicht"), auf Walfang geht oder beim nächsten besten Sturm Schiffbruch erleidet; und wenn man dann nicht das Glück hat, daß gerade ein deutsches Schiff in der Nähe, das die Schiffbrüchigen wieder einsammelt, kann man sein Testament machen. Und selbst wenn sonst nichts passiert, mußte man auf englischen Schiffen darben. Sagt ein englischer Bootsmann, mit dem Emmerich bei Indianern zum Essen eingeladen wird: "Wenn uns der Kapitän in acht Tagen soviel zu essen gäbe wie dieser Wilde in vier Stunden, dann ginge ihm kein Mann mehr von Bord." (Dikigoros glaubt nicht, daß Emmerich sich das alles nur ausgedacht hat; etwas wird schon dran sein.)

Aus diesen Erfahrungen und der daraus gewonnen Einstellung ergab sich für Emmerich eine ganz bestimmt Art des Reisens: Er kämpfte sich durch die Wildnis von Stützpunkt zu Stützpunkt, d.h. von einer zur nächsten deutschen Anlaufstelle - vom reichen Kaufmann bis zum armen Missionar (nur ausnahmsweise ein Beamter des Auswärtigen Dienstes oder sonst einer "offiziellen" Stelle). Es ist dies eine verloren gegangene Art des Reisens, über die es sich lohnt, einmal nachzudenken. gewiß, im Zeitalter des Massentourismus ist sie nicht mehr für jedermann machbar; aber das ist es nicht allein. Sie setzt eine bestimmte, als selbstverständlich empfundene Art von Gastfreundschaft voraus, die umgekehrt auf Neugier basiert, Nachrichten aus der Heimat oder überhaupt aus der Welt zu erfahren. Damals gab es noch nicht allenthalben Zeitungen, Radios und Fernseher, und wenn es wenigstens erstere schon gab, dann waren die Menschen doch klug genug, nicht alles für bare Münze zu nehmen, was ihnen da vorgesetzt wurde - anders als die leichtgläubigen Konsumenten von heute, im Zeitalter der Dauerberieselung durch staatlich manipulierte Massenmedien. Nein, Dikigoros selber legt auf Auslandsreisen keinen gesteigerten Wert darauf, unbedingt mit Landsleuten zusammen zu treffen, solange ihm auch "Eingeborene" Gastfreundschaft gewähren; aber damals konnte noch nicht jeder Eingeborene Englisch, geschweige denn Deutsch, (obwohl Emmerich da so manche Überraschung erlebte, z.B. Indianer-Häuptlinge an der Westküste Kanadas, die Englisch und Russisch sprachen), und der Reisende verfügte auch noch nicht über die vielfältigen Möglichkeiten, selber Fremdsprachen zu erlernen, bevor er ins Ausland fuhr. (Emmerich hatte auf der Schule, wie das damals üblich war, Lateinisch und Griechisch gelernt, dazu als Matrose gerade mal soviel Pladdütsch - die kaiserliche Seefahrt war fest in norddeutscher Hand -, daß er sich ein wenig in gebrochenem Englisch verständigen konnte.)

Nun, diese spezielle Art des Reisens ist einem Deutschen heute auch deshalb unmöglich geworden, weil die letzten Reste des Auslandsdeutschtums und der deutschen Kultur - die den Gebrauch der Muttersprache voraussetzt - im 20. Jahrhundert von seinen Feinden brutal ausgerottet worden sind. Die Welt - auch die der Feinde - ist dadurch ärmer geworden, vielleicht mehr als durch das Verschwinden so mancher eingeborener "Kultur", wie sie Emmerich beschreibt. Übrigens meist ohne größeres Bedauern. Da rutschen ihm schon mal Sätze aus der Feder wie - sinngemäß: "Wie schön wäre die Südsee, wenn die Kanaken nicht wären." Gewiß, liebe Leser, wie schön wäre Italien, wenn die Italiener nicht wären, solche und ähnliche Sprüche hat Dikigoros ja schon an anderer Stelle zitiert... Nein, viel mehr als den Untergang irgendwelcher obskurer Eingeborenen-"Kulturen" bedauert Emmerich, was zwischen seinen Reisen an natürlicher Umwelt verloren gegangen ist. Zum Beispiel waren bei seinem ersten Besuch auf den Sandwich-Inseln (dem heutigen Hawaii) dieselben noch mit duftenden Sandalholz-Bäumen bewachsen (nein, liebe Leser, kein Schreibfehler; diese Schreibweise ist richtig, "Sandelholz" ist zwar üblich, aber falsch, auch wenn es die Verfasser des Dudens und anderer kluger Bücher noch immer nicht bemerkt haben); als er 18 Jahre später zurück kehrte, waren die allesamt abgeholzt und durch Ananas-Plantagen ersetzt, die ein amerikanischer Dosenfabrikant angelegt hatte.

Das macht Emmerichs Reiseberichte besonders interessant und wertvoll: Er bereiste die Welt vor und nach dem Einbruch der Zivilisation: Zunächst noch im Segelschiff ("von Bord eines Seglers aus gewinnt das Meer einen ganz anderen Anblick, als von einem Dampfer. Die ewig arbeitende Schraube verjagt die Bewohner des Ozeans, noch bevor sie der Fahrgast zu Gesicht bekommt"), auf Pferd und Schusters Rappen, "über schroffe Gebirgszüge, durch nie von Menschen betretene Urwälder, durch Sümpfe und über verdorrte Steppen" (oder, um Kleinigkeiten zu erwähnen, die nicht minder wichtig waren, da es noch nicht überall Restaurants und Schnellimbisse gab, mit Feuerstein und Schwamm); später mit Dampfschiffen und Eisenbahnen (und Zündhölzern und Spiritus-Kocher). Nein, diese und andere "technische" Errungenschaften (mit Ausnahme des Spiritus-Kochers, der ihm oftmals gute Dienste leistete) begeisterten Emmerich gar nicht - im Gegenteil. Ebenso wenig der einsetzende Tourismus: "Die Fremdenindustrie, wie man die Halsabschneiderei euphemistisch nennt, hatte bereits zarte Wurzeln geschlagen. Zwar wagte man sich erst schüchtern mit einer Frage nach der gewünschten Preislage hervor und bewertete das Essen und Nachtlager nach wenigen Pfennigen, aber der Anfang war doch gemacht." Ganz schuldlos daran waren Reisende wie er freilich nicht, denn auch er vermißte nach einiger Zeit des Reisens "die kleinen Bedürfnisse, die nun einmal die Kultur dem Manne anhängt". Als er zum Beispiel nach dem leicht verunglücklichen Auf- und Abstieg von einem Vulkan, hungrig, durstig, mit vom Lavagestein zerrissenen Kleidern, Schuhen und Haut wieder unten ankommt, bietet ihm sein eingeborener Führer an, mit in sein Dorf zu kommen, um sich erstmal etwas zu erholen. Emmerich lehnt ab: Er könne sich doch als Europäer nicht so sehen lassen, ohne Rock, Beinkleider, Fußbekleidung und einen Hut! Er läßt seinen Begleiter also zur nächsten Mission laufen, wo er ihm all diese lebensnotwendigen Sachen besorgt (der Missionar ist zum Glück Deutscher). Da soll man sich nicht wundern, daß auch andere Reisende solche Bedürfnisse entwickelten und daß Emmerich bei seiner Rückkehr knapp zwei Jahrzehnte später "an Stelle des urwüchsigen Landes Eisenbahnen, Telegraphen, amerikanische Kriegsschiffe, Automobile und prächtige Luxushotels" vorfand...

Sein Credo drückt Emmerich in einem Absatz seines letzten Buchs aus: "Die Welt beginnt sich nach und nach mit einem Netz von Eisenbahnen zu überziehen, die selbst die unberührteste Einsamkeit tropischer Urwälder erschließt. Eisenbahnen bringen den Reisenden mühelos in die Gegenden, die ich unter den größten Gefahren und Strapazen besuchte. (Na, schwingt da etwa einer leiser Anflug von Neid mit?) Leider - muß ich sagen, dann das, was ich in den von des Weißen Fuß noch nicht entweihten Ländern erschauen durfte, wird in Zukunft den Forschern versagt bleiben. Die Kultur tötet es." (Wenn der gewußt hätte, was aus der Welt wurde, seitdem sie sich nicht nur mit den relativ harmlosen Eisenbahnschienen, sondern mit erst gepflasterten, dann geteerten Autostraßen zu überziehen begann, und später mit immer größeren Flugplätzen...!) Solche Aussagen gefielen den Verlagen später verständlicherweise nicht mehr; und so ist es kein Wunder, daß seine Bücher nie wieder aufgelegt wurden - sie sind heute relativ schwierig zu bekommen.

weiter zu Sven Hedin

zurück zu Ernst v. Hesse-Wartegg

heim zu Reiseschriftsteller im 20. Jahrhundert