DER UMSTRITTENE PATRIARCHAT

Alexander Solschenizyn wird 85 - seine Ideen
erleben in Rußland eine Renaissance

von Juri Ginsburg (Berlin Online, 06.12.2003)

mit Links und Anmerkungen von Nikolas Dikigoros

Ende September 2000, vier Monate nach seinem Amtsantritt als russischer Präsident, besuchte Wladimir Putin Alexander Solschenizyn in dessen Moskauer Villa. Der junge KGB-Oberst und der 82-jährige Dissident, den die sowjetische Staatssicherheit seit Mitte der 1960er Jahre bis in die Perestroika hinein verfolgt hatte, sprachen über Rußlands Weg aus der Krise. Sie waren sich über vieles einig. "Putin hat einen wachen Geist und ist keinesfalls machtbesessen. Er hat sich einige meine Vorschläge gemerkt, und ich habe mir einige seiner Einwände gemerkt", sagte der Nobelpreisträger nach dem Treffen. Dann fügte er hinzu: "Ich leide sehr darunter, dass unser Staat auf einem Diebesfundament und einer Ganoven-Ideologie gegründet ist."

Dieser Tage, da Solschenizyn seinen 85. Geburtstag begehen wird, ist in Rußland die Verhaftung des jüdischen Ölmagnaten Michail Chodorkowski in aller Munde und vom Ende einer liberalen Ära die Rede. Es wäre albern, diese politische Wende direkt mit dem Treffen von Putin und Solschenizyn zu verbinden, auch mit seinem jüngsten Buch "Zweihundert Jahre zusammen" über die Rolle der Juden in Rußland.

Aber dass Solschenizyn in den letzten 40 Jahren als geistige Größe Rußlands Weg so oder so beeinflusste und weiter beeinflusst, steht außer Frage.

Heute ist er in Rußland umstritten wie nie zuvor. Für die einen ist Solschenizyn ein Titan der russischen Literatur und eine moralische Instanz, ein Lew Tolstoi der Gegenwart. Für die anderen, die McDonalds- und MTV-Generation, ein Fossil aus der Stalin-Chruschtschow-Breschnjew-Ära, das in einem unmöglichen archaischen Russisch schreibt und mit seinen Sittlichkeitspredigten nur auf die Nerven geht. Für die dritten ist Solschenizyn ein erzkonservativer Slawophile, der den Ruf eines Antisemiten erworben hat und bei weitem nicht so integer ist, wie er sich in seinen Büchern gerne darstellt.

[Anm. Dikigoros: Ja, seit der Inhalt von "200 Jahre zusammen" im Westen bekannt wurde, ist S. dort vom liebsten nützlichen Idioten im geistigen Kampf gegen die Sowjet-Union zur Unperson mutiert - dafür haben die jüdischen Massenmedien gesorgt. Aber was ist an jenen Einschätzungen dran? S. schrieb durchaus nicht nur in archaischem Russisch, sondern hat seiner Muttersprache auch eine ganze Reihe neuer Wortschöpfungen beschert, so viele wie wohl seit Lomonosow niemand mehr. Erzkonservativ und slawophil war er gewiß - na und? Daran ist doch nichts Verwerfliches! Und daß die Revolutionäre - vor allem diejenigen, deren unheilvolles Wirken zur Entstehung der SU führte, samt und sonders Juden waren, kann auch niemand ernsthaft bestreiten - das auszusprechen bzw. aufzuschreiben macht einen nicht zum "Antisemiten"! Dikigoros fragt sich nur, ob S. auch um die jüdische Abstammung von Jeltsin und Putin wußte. (Putins Mutter war Jüdin - und das allein zählt nach mosaïschem Recht -, dto seine Frau.) Wenn ja, dann könnte das mit ein Grund sein, weshalb S. trotz seiner "Begnadigung" auch im Alter das Exil vorzog.]

In einigen Zeitungspublikationen ist zu lesen, dass Solschenizyn während seiner Haft im Gulag seine Mithäftlinge denunziert hat. Und ob er im Krieg als Artillerie-Offizier tatsächlich an der Front heldenhaft gekämpft hat, wird ebenfalls in Zweifel gezogen. "Ein schamloser Klassiker" wurde er von der populären Zeitung "Moskowski Komsomolez" genannt (ein Schmierenblatt sonder gleichen, Anm. Dikigoros), die ihm eine bewusste Faktenverdrehung über die angeblich außerordentlich aktive Beteiligung der Juden an der bolschewistischen Revolution und den Gräueltaten des stalinschen Geheimdienstes vorwarf.

Die Angriffe der liberalen Presse ließen Solschenizyn, der sich vor ein paar Jahren aus dem öffentlichen Leben aus gesundheitlichen Gründen und Frust über die Situation in Rußland zurückgezogen hatte, eine geharnischte Erklärung abgeben. Sie erschien am 22. Oktober dieses Jahres gleichzeitig in zwei angesehenen Moskauer Zeitungen und erregte wie fast alles, was mit Solschenizyn zu tun hat, viel Aufsehen.

"Diejenigen, die mich heute angreifen, scheuen keine Lüge. Die uralten, untauglichen und längst widerlegten Fälschungen, die vom KGB im Laufe der 30-jährigen Hetzkampagne gegen mich methodisch entwickelt und verbreitet worden sind, bekommen in den neuen Händen ein neues Leben. Es ist doch völlig klar, was diese Leute damit bezwecken: Meine Persönlichkeit in Verruf zu bringen und meinen Namen in den Dreck zu treten", schrieb Solschenizyn in einem offenen Brief.

Bemerkenswerterweise nahm ihn prompt Putins Sprachrohr, das Staatsfernsehen RTR, in Schutz. Schon drei Tage nach der Veröffentlichung seines Briefes strahlte es einen Film aus, der Solschenizyn als mutigen, makellosen Gegner des Sowjetregimes und Opfer von KGB-Ränken darstellte. Es wurden Dokumente aus dem KGB-Archiv gezeigt, wie der sowjetische Geheimdienst in den sechziger und siebziger Jahren die Verleumdungskampagne gegen Solschenizyn geführt und einschlägige Fälschungen hergestellt hatte. Im Film war auch Solschenizyns größter Verfolger, der damalige KGB-Chef und spätere Generalsekretär der KPdSU Juri Andropow zu sehen. Zeitgleich brachten mehrere Zeitungen die Nachricht, dass in Moskau ein Andropow-Denkmal errichtet werden soll, weil Putin ihn als einen großen Staatsmann verehrt. Absurdes Theater? Was so aussieht und Solschenizyns Rolle im heutigen Rußland als schwer begreiflich erscheinen lässt, hat eine innere Logik.

Solschenizyn kehrte 1994 nach einem 20-jährigen Exil in die Heimat zurück - in den Augen vieler seiner Verehrer das Symbol des Sieges über den Kommunismus und geistiger Führer der Nation. Laut Meinungsumfragen war er damals in Rußland die zweitpopulärste Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, nach dem liberalen Politiker Grigori Jawlinski. Viele wollten Solschenizyn als russischen Präsidenten sehen. Wie Vaclav Havel in Tschechien. Aber Rußland ist nicht Tschechien und Solschenizyn ist kein Havel.

Solschenizyn fühlte sich nie als Privatperson und auch nicht als Schriftsteller, der einfach literarische Werke verfasst. In den 1940er und 1950er Jahren schrieb er in aller Heimlichkeit seine Lagererzählungen im Namen einer höheren Mission, nämlich "die ganze Wahrheit" über den sowjetischen Totalitarismus der Nachwelt zu überliefern. Schon damals definierte er, nach eigenen Worten "ein Schriftsteller im Untergrund", für sich ein Sittengesetz, das er seitdem mit der Standhaftigkeit eines Fanatikers befolgte: "Nicht nach der Lüge leben".

Diese Maxime machte ihn zum wichtigsten Oppositionellen in der Sowjetunion, einem Staat, der ganz auf Lüge gebaut war. Seine Romane "Krebsstation" und "Der erste Kreis der Hölle", die er in den sechziger Jahren ohne jede Rücksicht auf die Zensur schrieb und im Westen publizierte, waren Ausdruck einer für einen sowjetischen Autor beispiellosen Widerspenstigkeit. Im Gegensatz zu Boris Pasternak etwa, der aus Angst vor den Behörden auf den Nobelpreis verzichtete und wegen seines Romans "Doktor Schiwago" demütig eine öffentliche Züchtigung über sich ergehen ließ, schlug Solschenizyn mit offenen Protestbriefen und Appellen kräftig zurück.

Sein im Mai 1967 veröffentlichter Brief an die Teilnehmer des vierten ongresses der sowjetischen Schriftsteller, in dem er zur Abschaffung der Zensur aufrief, wurde wenige Wochen später in Prag von Pavel Kohout öffentlich auf dem Schriftsteller-Kongress verlesen und löste einen geistigen Aufstand der Intellektuellen gegen die stalinistischen Methoden der Staatsführung aus. Damit begann der Prager Frühling, der im August 1968 mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei endete. Das blieb nicht ohne Wirkungen auf die Sowjetunion. Es kam zur endgültigen Abkehr vom chrustschowschen "Tauwetter", der halbherzigen Entstalinisierung.

In den frühen 1970er Jahren, als Solschenizyns "Archipel Gulag" erschienen war, radikalisierte sich sein literarisch-politischer Fundamentalismus noch mehr. In diesem Buch über die lenin-stalinsche Terrormaschinerie nannte Solschenizyn eine ungeheure Opferzahl: 60 Millionen Menschen. Wenn auch übertrieben, bleibt es ein Genozid am eigenen Volk, der in der Sowjetunion totgeschwiegen wurde.

Mit dem "Archipel Gulag", vor allem durch seine Weltresonanz, stellte Solschenizyn die Staatsführung vor ein tödliches Dilemma: entweder seinem Aufruf zur vollständigen Aufklärung der kommunistischen Verbrechen zu folgen, was einer politischen Wende gleichgekommen wäre. Oder der Welt zu zeigen, dass das Sowjetregime an seiner kriminellen Vergangenheit festhält und weiterhin ein menschenfeindlicher stalinistischer Staat bleibt - mit allen sich daraus ergebenden innen- und außenpolitischen und ideologischen Folgen.

Mitte der 1990er Jahre, auf dem Höhepunkt der antikommunistischen Euphorie und Freiheit, erschien in Rußland in einer kleinen Auflage ein hoch interessantes Buch: eine Sammlung von streng geheimen, eben freigegebenen Dokumenten aus den Partei- und KGB-Archiven zum Fall Solschenizyn. Daraus geht eindeutig hervor: Der KGB und die Parteiführung waren bestens darüber informiert, was Solschenizyn dachte, sagte und schrieb, wie sein Alltag verlief und mit wem er sich traf. Dafür sorgten Informanten aus seiner nächsten Umgebung, Spitzel, die ihn vermutlich rund um die Uhr beschatteten, und die Abhörtechnik. Schon 1965 wusste zum Beispiel der KGB, dass Solschenizyn mehrere Kapitel des "Archipel Gulag" bereits geschrieben hat und wovon dieses Buch handelt. Interessant ist auch eine Meldung über einen Besuch Heinrich Bölls bei Solschenizyn im Jahr 1972 in Moskau. An dem dreistündigen Treffen im engen Kreis nahmen noch Solschenizyns Frau Natalja Swetlowa und Lew Kopelew teil, der offenbar dolmetschte. "Ich lebe in Rußland, sehe aber nichts außer meinen vier Wänden", notierte ein KGB-Informant Solschenizyns Worte. "Bei uns kann ein Mensch, der nach Freiheit strebt, auch leicht ein Aussätziger werden", antwortete Böll, gegen den zu Hause die Springer-Presse hetzte. Es wäre interessant zu wissen, auf welche Weise solche Informationen dem KGB zu Ohren kamen.

Schon seit Ende der 1960er Jahre betrachtete die Staatsführung Solschenizyn als innenpolitischen Feind Nummer eins und akute Gefahr für die kommunistische Ideologie - das Fundament der sowjetischen Gesellschaftsordnung. Erstaunlich aber, wie unschlüssig das Politbüro gegen Solschenizyn vorging und ihn faktisch alles machen ließ, was er wollte. Ja, er wurde 1969 wegen, wie es hieß, "antigesellschaftlichen Verhaltens" aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, viele Jahre bespitzelt, schikaniert, verleumdet. Auf geschlossenen Parteiversammlungen wurde Genossen berichtet, Solschenizyn sei in Wirklichkeit Jude mit dem echten Namen "Solschenizker", schizophren und unter Stalin als Krimineller inhaftiert gewesen. Aber irgendwie wurde er auch geduldet.

Fast alle berühmten sowjetischen Dissidenten landeten unter Breschnew im Gefängnis und in Irrenanstalten, Solschenizyn nicht. Schützten ihn sein Weltruhm und sein Nobelpreis, die öffentliche Meinung im Westen? Wohl kaum. Die Besetzung der Tschechoslowakei und Afghanistans durch die sowjetischen Truppen war in den Augen des Westens eine viel schwerwiegendere Aktion als die mögliche Verhaftung eines Schriftstellers, selbst eines Nobelpreisträgers. Als Solschenizyn 1970 der Preis zugesprochen worden war, beschloss das Politbüro auf Vorschlag des KGB-Chefs Andropow, ihm die Rückkehr in die Sowjetunion zu verbieten, sollte er nach Stockholm zur Preisverleihung reisen. Ein internationaler Skandal, der in diesem Fall vorprogrammiert gewesen wäre, war dem Kreml egal. Er blieb nur deshalb aus, weil Solschenizyn die Entscheidung der sowjetischen Behörden ahnte. Der Schriftsteller verzichtete auf die feierliche Zeremonie in Schweden und blieb in Moskau.

Es war Andropow, der wiederholt auf der Ausweisung Solschenizyns bestand, viele Jahre, bevor es im Februar 1974 dazu kam: einer Ausweisung, aber nicht Verhaftung oder Vernichtung. Im breschnewschen Politbüro herrschten auch andere, viel radikalere Meinungen. Der mächtige Chefideologe, die graue Eminenz Michail Suslow plädierte für einen Strafprozess gegen Solschenizyn, und der Ministerpräsident Alexej Kossygin schlug vor, Solschenizyn in die Stadt Werchojansk im Norden Sibiriens, wo die Temperatur im Winter auf 70° minus fällt, zu verbannen, damit ihn dort keine westlichen Journalisten mehr erreichen. Es gibt guten Grund anzunehmen, dass Andropow persönlich Solschenizyns Deportation in den Westen provoziert und durchgeführt hat.

Als unmittelbarer Anlass für Solschenizyns Ausbürgerung und Ausweisung diente die Veröffentlichung des "Archipel Gulag". Dieses Buch hatte Solschenizyn zwischen 1964 und 1967 geschrieben, hielt aber seine Publikation zurück und versteckte das Manuskript bei Freunden. Er arbeitete am historischen Romanzyklus "Das rote Rad" über den Niedergang des Zarenreichs und den Beginn der bolschewistischen Ära, den er für sein wichtigstes Werk hielt. Wie Solschenizyn in seinen Memoiren "Die Eiche und das Kalb" schreibt, dachte er, damit frühestens 1975 fertig zu sein. Die Publikation des "Archipel Gulag" und die durchaus denkbare Verhaftung hätten nach seiner Logik die Arbeit am Roman unmöglich gemacht.

Es ist kaum zu glauben, dass der KGB, der Solschenizyn rund um die Uhr beschattete, alle Jahre nichts von der Existenz eines so hoch explosiven Werkes wie "Der Archipel Gulag" wusste. Er schlug erst im August 1973 zu, indem er Solschenizyns Stenotypistin verhaftete und dadurch ein Versteck mit einem Manuskript vom "Archipel Gulag" entdecken konnte. Nachdem das Manuskript in die Hände des KGB geraten war, hatte es für Solschenizyn keinen Sinn mehr, sein Werk weiter geheim zu halten. Er wies einen russischen Emigrantenverlag, der über eine Kopie des Manuskriptes verfügte, an, das Buch sofort zu drucken. Anfang Januar 1974 erschien es in Paris. Eine Herausforderung der Sowjetmacht, die sie nicht hinnehmen konnte.

Am 7. Januar 1974 tritt das Politbüro zusammen, um Solschenizyns Schicksal zu besiegeln. Auf der Sitzung setzt sich Andropow mit seinem Vorschlag durch, Solschenizyn des Landesverrats anzuklagen, ihm die sowjetische Staatsbürgerschaft zu entziehen und ihn anschließend des Landes zu verweisen. Während in den sowjetischen Medien eine von oben verordnete hysterische Kampagne gegen Solschenizyn tobt, sucht der Kreml nach einem Land, das Solschenizyn aufnehmen könnte. Breschnew schlägt ein sozialistisches Land vor, auch der Irak, die Schweiz, Dänemark, Libanon sind im Gespräch. Überraschend kommt ein Signal aus Deutschland. Am 2. Februar 1974 sagt Kanzler Willy Brandt in einer öffentlichen Rede, dass Solschenizyn in der Bundesrepublik frei leben und arbeiten könnte.

Eine Woche später kontaktiert ein sowjetischer Vertreter eine Vertrauensperson Brandts, um praktische Einzelheiten der Ausweisung von Solschenizyn nach Deutschland zu besprechen. Gleich nach diesem absolut vertraulichen Sondierungsgespräch entwirft Andropow bis ins Detail einen Plan. Noch ist Solschenizyn auf freiem Fuß, noch ahnt keiner etwas, aber die Rollen sind bereits verteilt, die Handlungsfolge, auf die Stunde genau berechnet, steht fest und nichts mehr kann den Lauf der Dinge ändern.

In einem Brief vom 10. Februar 1974 an das Politbüro schildert Andropow seinen Plan: "Am 12. Februar ruft am späten Abend der sowjetische Botschafter in Bonn Valentin Falin den Staatssekretär im Auswärtigen Amt Paul Frank an mit der Bitte, ihn am nächsten Tag um acht Uhr dreißig aus einem dringenden Anlass zu empfangen. Bei diesem Treffen wird Falin eine Erklärung über die Ausweisung von Solschenizyn abgeben. Um 10 Uhr beginnt die Kabinettssitzung. Brandt wird Egon Bahr, Paul Frank und einen Vertreter des Innenministeriums anweisen, einen positiven Beschluss zu fassen. Am selben Tag wird Solschenizyn verhaftet, der antisowjetischen Tätigkeit angeklagt und schon am nächsten Tag ausgewiesen. All das muss rasch vonstatten gehen, weil Solschenizyn unsere Pläne ahnen und ein Statement herausgeben kann, das sowohl uns als auch Brandt in eine schwierige Lage bringt. Ändert Brandt aus welchen Gründen auch immer entgegen seiner Zusicherung im letzten Augenblick seine Entscheidung, so bleibt Solschenizyn weiter in Haft und die Staatsanwaltschaft leitet gegen ihn Ermittlungen ein."

Andropows Plan wurde exakt durchgeführt. Am 14. Februar 1974 landete eine Linienmaschine der Aeroflot auf dem Flughafen in Frankfurt/Main. Darin saß ein älterer müder bärtiger Mann in Begleitung mehrerer KGB-Offiziere. Sie führten ihn bis an den Ausgang, ohne selbst das Flugzeug zu verlassen, und entließen ihn - ins Exil. Zuerst in Deutschland, dann in der Schweiz und den USA, wo er in Vermont im eigenen Anwesen lebte.

Im gewissen Sinne erwies sich Andropow als Retter Solschenizyns, der seine Tage durchaus auch in der Verbannung unweit vom Polarkreis hätte beenden können. Als hätte Andropow gewußt, dass Rußland Solschenizyn noch brauchen wird, wenn seine Zeit gekommen ist.

Ja, Andropow betrachtete Solschenizyn als Todfeind der sowjetischen Gesellschaftsordnung. Aber es war ein besonderer Feind. Einer, der der Dissidentenbewegung fernblieb, die Menschenrechte, in jenen Jahren die brisanteste politische Frage, als etwas Nebensächliches ansah, und in manchem dem KGB-Chef aus der Seele sprach. In seinem Brief "An die Führer der Sowjetunion" und anderen seinen Werken bekannte sich Solschenizyn zum Autoritarismus und warnte vor einer "jähen Einführung der Demokratie" in Rußland. Gerade in der Demokratie sah Solschenizyn eine große Gefahr für das Land, die schon einmal, 1917, zum Chaos und zur Katastrophe geführt hat. Nicht der Autoritarismus als solcher sei schlimm, meinte Solschenizyn, sondern die alltägliche ideologische Lüge, die Willkür, die Schutzlosigkeit des Menschen vor einer Diktatur - also die Wesensmerkmale des Kommunismus. Die Einschränkung der Freiheit sei sogar fördernd für die moralische Gesundheit der Nation. Und nicht der Westen, sondern das vorbolschewistische, etwas modernisierte Rußland mit seinen traditionellen christlich-orthodoxen Werten, ohne politische Parteien und ohne das Parlament sei das Ideal, das dem russischen Volk endlich ein friedliches schönes Leben bringen kann.

Die Philosophie von Solschenizyn unterschied sich grundsätzlich von den Ansichten des anderen großen sowjetischen Systemkritikers - des Kernphysikers Andrej Sacharow. Dieser sah die Chance für sein Land gerade in der Entwicklung der Demokratie, der Wahrung der Menschenrechte und einer Konvergenz mit dem Westen. 1980 verbannte ihn Andropow nach Gorkij, wo Sacharow im Gegensatz zu Solschenizyn, der im Westen ungehindert weiter arbeiten konnte, unter KGB-Aufsicht in fast völliger Isolation, ohne Telefonanschluss lebte. Erst Michail Gorbatschow erlaubte Sacharow im Dezember 1986, wieder nach Moskau zurück zu kehren.

Als Andropow nach Breschnews Tod im November 1982 zum sowjetischen Staats- und Parteichef gewählt wurde, plante er große Reformen. Sein erster Schritt war die Schaffung einer strengen Disziplin im Lande, die Stärkung der Staatsinstitute, die unter dem senilen Breschnew von Korruption und Apathie zerfressen worden waren. Manches durchaus im Sinne Solschenizyns. Andropow starb schon 1984 und hat so gut wie nichts erreicht. Gorbatschow, der ein Jahr später an die Macht kam, verzichtete auf Andropows Strategie und setzte auf das Rezept von Sacharow. "Kehren Sie zur patriotischen Arbeit zurück", sagte Gorbatschow am 16. Dezember 1986 in einem Telefonat dem verbannten Systemkritiker, der bald in den Obersten Sowjet gewählt wurde. Damit begann die Perestroika. Aber die Ideen von Sacharow, die nicht nur der Gorbatschow-, sondern auch der Jelzin-Ära zugrunde lagen, scheiterten.

Im Grunde hat Putin als Führer eines gigantischen Imperiums, das sich immer in Gegensatz zur übrigen Welt setzte und in dem es nie eine Zivilgesellschaft gegeben hat, keine große Wahl. Das spätstalinistische Modell von Chruschtschow und Breschnew hat sich überlebt und zum Stillstand auf allen Gebieten geführt. Der Liberalismus von Gorbatschow und Jelzin hatte eine Explosion der Kriminalität und starke zentrifugale Tendenzen, den Zerfall des Landes zur Folge. Nur ein Weg ist noch nicht erprobt, um Rußland vor dem Untergang zu retten: Solschenizyns autoritär-moralische Philosophie und Andropows Politik einer starken Hand. Das erklärt vielleicht, warum Putin seine Präsidentschaft mit dem Treffen mit Solschenizyn und der gleichzeitigen Anbringung einer Gedenktafel für Andropow an der KGB-Zentrale begann.

Niemand weiß wirklich, wie es mit Rußland weitergehen wird. Nur ein Weg ist hoffentlich ausgeschlossen: Die Rückkehr zum Stalinismus, die Wiedergeburt des Gulag-Monsters. Wenn es so ist, besteht darin auch Solschenizyns historisches Verdienst.

Das Leben // SOLSCHENIZYN, geboren am 11. Dezember 1918, war ein junger Mann, als unter Stalin Millionen von Sowjetmenschen willkürlich abgeschlachtet oder wie er "zu Lagerstaub" gemacht wurden: Acht Jahre, von 1945 bis 1953, verbrachte Solschenizyn im Gulag.

VOR SEINER VERHAFTUNG kämpfte er als Artillerieoffizier fünf Jahre im Krieg. Mit 33 Jahren war er im Gefängnis an Krebs erkrankt, den er wie durch ein Wunder überlebte.

ALS BIS DAHIN VÖLLIG unbekannter Schullehrer in der Provinz wurde Solschenizyn unter Chruschtschow mit seiner 1962 in der Moskauer Zeitschrift "Nowy mir" veröffentlichten Lagererzählung "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" schlagartig berühmt. Er wurde sogar für den Leninpreis nominiert.

SEINE KARRIERE ALS sowjetischer Schriftsteller dauerte drei Jahre. Im September 1965 geriet er ins Visier des KGB, als der Staatssicherheit zufällig seine geheim gehaltenen Manuskripte in die Hände fielen: der achthundert Seiten dicke antistalinistische Roman "Der erste Kreis der Hölle" und das Theaterstück "Republik der Arbeit", das den Sozialismus allegorisch als ein Straflager darstellte. Von diesem Augenblick an war er kein normaler Schriftsteller mehr, sondern ein Fall für das Politbüro und den KGB.

ULLSTEIN Solschenizyn mit seiner Frau und zwei Söhnen 1994 auf der Rückreise aus dem amerikanischen Exil nach Rußland.

ULLSTEIN/SVEN SIMON Alexander Solschenizyn, Oktober 1975.


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