Von Tragödien, Burlesken und Sparsamkeit

oder: die gute Seite von Kosovo. Tragödie und Farce.

von Ton Veerkamp (Kalaschnikow, Heft 2/99, S. 61)

(mit Links und Anmerkungen von Nikolas Dikigoros)

"Hegel bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce." So Marx im Jahr 1852. Fischer für Bismarck, den "ehrlichen Makler" vom Berliner Balkankongress 1878, Jelzin für Zar Alexander, Milosevitsch für Peter I Karageorgewitsch, Dayton 1995 oder Sarajevo von 1999 für Berlin 1878. Die politische Landkarte von 1908 gleicht der Landkarte von Dayton, 1995. 1878 wurden Serbien und Montenegro unabhängig, Bosnien wird von einer "Westmacht" - Österreich-Ungarn, verwaltet und 1908 annektiert, Slowenien und Kroatien gehörten als Teile der Habsburgmonarchie schon länger zur Einflusssphäre Zentraleuropas. Die konzertierten Bemühung Europas um den Balkan seit 1878 lautete eine Periode extremer Instabilität ein, Nationalstaaten mit gesteigerten Ambitionen, nicht integrierbaren Minderheiten und Irrredenta-Problemen. 1999 zeigt genau das gleiche Bild. Der alte Nationalismus war schon damals eine Tragödie für die Menschen auf dem Balkan, jetzt ist er eine Farce, und zwar eine extrem blutige Farce. Konnten sich damals potentielle Bourgeoisien vom Nationalstaat Schutz für junge Industrien erhoffen, so sehen sich Bourgeoisien heute in einer globalen Weltordnung mit Staaten und Staatlein konfrontiert, die ihnen nirgendwo von Nutzen sein können, es sei denn, für clevere Leuten Tickets zum Fest Europa zu besorgen. Je kleiner der Staat, um so größer die Chance, eurofähig zu werden. Deswegen ist der heutige Nationalismus fast eine Burleske, aber nicht nur. Das Entstehen von immer mehr Mickey-Mause-Staaten (der Ausdruck stammt vom bosnischen Schriftsteller Dzjevad Karahasan) [ach was, diesen Ausdruck für Pisselstaaten gebraucht man in den USA schon seit Walt Disney, Anm. Dikigoros] hat nämlich Methode. Ist doch der eine oder andere Ministaat attraktiver Standort für preiswerte Lohnveredelung. Henkel Olaf sieht derlei gerne, er ist energischer Befürworter der Osterweiterung. Mit Frieden und Menschenrechten hat das nichts zu tun. Recht auf einem eigenen Kleinstaat gehört, so will mir scheinen, nicht zu den originären Menschenrechten, für die es sich lohnt, zu streiten, gar zu töten. Hier schlagen die Farce und Burleske wieder in Tragödie um. Blicken wir aber zurück.

Vom Kriegsherd zum metanationalen Staat.

Ein realer Klammer verbindet die Menschen von damals und heute: der Untergang eines Ordnungssystems, das die Menschen in halbwegs erträgliche soziale Strukturen eingebunden hatte, das osmanische Reich und der jugoslawische Sozialismus. Das osmanische Reich, dessen Eliten sich auf tributäre Ausbeutung stützten, dafür ihren Völkern lokale und regionale Autonomie und Sicherheit gegen äußere und innere Plünderer gewährten, war längst zu einer korrupten Ausbeutungsmaschinerie degeneriert. Der Nationalismus hilft den Menschen, sich von den osmanischen Despoten, großen und kleinen, zu befreien. Die Tragödie bestand darin, dass sich auswärtige Mächte einmischten, um die verschiedenen Nationalismen für ihre eigenen Großmachtinteressen zu instrumentalisieren. Sie konnten das, weil die Protagonisten des jeweiligen Nationalismus ihre eigenen ehrgeizigen Ziele verfolgten. Insofern scheint seit 150 Jahren alles beim Alten geblieben zu sein. Aber in diesem Jahrhundert war vieles anders geworden. Vor allem auf dem Westbalkan mit seinem extremen ethnischen, sozialen, kulturellen und religiös-konfesionellen Zersplitterung wurde eine Formel jenseits des Nationalismus gefunden. Versailles hat bei der Gründung des "Königreiches der Slowenen, Kroaten und Serben" Pate gestanden. Es war aber ein Königreich unter eindeutig serbischer Führung. Die Verstimmung in Kroatien äußerte sich in Unruhen vor allem unter den Grundbesitzern und hat faschistischen Charakter (Ustascha); sie konnte 1939 durch die Beteiligung fünf kroatischer Minister im serbischen Kabinett Cvetkovitsch nicht neutralisiert werden. Jugoslawien geriet in den Sog des Faschismus, die Reichsregierung neigte zu einem Bündnis mit Hitler. Am 27.3.1941 putschte das serbische Militär und schloss ein Freundschaftspakt mit der UdSSR, am 6.4.1941 bombardierte Görings Luftwaffe Belgrad mit jenem berüchtigten Bombenteppich, mit dem auch Rotterdam und Coventry verwüstet wurden. [Anm. Dikigoros. Das ist eine üble Geschichtsklitterung. Bombenteppiche gegen Städte u.a. zivile Ziele setzten allein die gut-demokratischen Allieerten ein. Luftwaffenpiloten, die auch nur versehentlich Bomben über Wohngebieten abwarfen, kamen 1941 noch vors Kriegsgericht und wurden degradiert. Belgrad war eine "Festung", Coventry war eines der wichtigsten britischen Rüstungszentren - die Kathedrale wurde versehentlich getroffen, von einer einzigen Bombe -, und Rotterdam - der wichtigste Kriegshafen der Niederlande - wurde nur deshalb von einer Staffel der Luftwaffe bombardiert, weil die Niederlande die Kapitulationsverhandlungen so lange hinaus zögerten, bis der Einsatzbefehl nicht mehr widerrufen werden konnte.] Die Wehrmacht ließ den Faschisten Ante Pavelitsch aus Italien holen [Pavelič war kein Fascist, sondern ein kroatischer Patriot, der vor dem serbischen Verbrecherregime geflohen war und in Italien Asyl gefunden hatte, Anm. Dikigoros], installierte Kroatien als Vasallenstaat mit Pavelitsch als "Poglavnik" (Führer); er musste zwar die gesamte dalmatische Küste an Italien abtreten [die immer italienisch bzw. venetianisch gewesen war, bis Napoleon Buonaparte sie ihm weggenommen hatte, Anm. Dikigoros], wurde dafür mit Bosnien abgefunden. So war die politische Lage von 1908 wiederhergestellt - auch hier war Versailles "überwunden". Die kroatischen Faschisten, die Ustaschniks, hatten in wenigen Monaten Hunderttausende von serbischen Menschen ermordet, weitere Hunderttausende zwangskatholisiert. Die Serben antworteten in Bosnien mit Gegenterror; die Henker hießen in diesem Fall Tschetniks. Die kommunistische Partei Jugoslawiens ging in den Untergrund und bekämpfte Ustaschniks, Tschetniks und die deutsche Wehrmacht. [So wird das gerne dargestellt; aber das ist falsch. Die Četniks kämpfte am Ende zusammen mit den Deutschen und der Ustascha gegen die Mörderbanden Titos In keinem anderen Land wurden proportional so viele Zivilisten getötet wie in Jugoslawien: 1,7 Millionen Menschen aus einer Bevölkerung von 18 Millionen, darunter 1,1 Millionen Zivilisten, fast 7% der Gesamtbevölkerung. [Die meisten davon nach dem Krieg, da die Westalliierten alle nicht-kommunistischen Flüchtlinge - auch Frauen und Kinder - an Tito auslieferte, der sie ausnahmslos ermorden ließ, Anm. Dikigoros] Die kommunistischen Partisanen waren 1943 in weiten Teilen Bosniens und Serbiens und in den Gebirgsregionen Kroatiens Herr der Lage. Sie fragten die Leute nicht nach Taufschein, Beschneidung oder Nationalitätenausweis. Tito, wie der Kommunistenführer Josip Broz genannt wurde, genoss hohes Ansehen und konnte sich gegen Bedenken nicht nur der Westalliierten, sondern auch Stalins, durchsetzten. Er unterband 1945 den bereits begonnenen Rachefeldzug der Serben gegen die Kroaten [das ist eine dreiste Lüge, Anm. Dikigoros] und schmiedete eine neue Föderation: jede Teilrepublik mit Ausnahme Sloweniens war gezwungen, mit ethnischen Minderheiten ins Reine zu kommen. Die Vorherrschaft Serbiens war gebrochen, aber die Serben erhielten ein leichtes Überwicht in der Armee, Slowenen und Kroaten in der Partei. Serbien hat den Verlust seiner Führungsansprüche nie vergessen. Milosevitsch war sozusagen eine späte Abrechnung Serbiens mit Tito. [Dikigoros hat ja nichts gegen originelle Thesen, aber diese ist völlig blödsinnig.] Die Durchsetzung einer sozialistischen Gesellschaft war indessen nicht gewaltlos erfolgt. Er gab Repressalien, Verhaftungen, Hinrichtungen. Auch die blutige Zerschlagung einer Revolte albanischer Nationalisten im Kosovo (vor allem in Gebiet Dranica) 1946 wurde nicht ethnisch begründet. [Die einzig gute Tat Titos, Anm. Dikigoros - dem es gar nicht imponiert, daß ein paar hundert ethnische Albaner aus dem Kosovo auf deutscher Seite mit kämpften; sie zeichneten sich durch besondere Grausamkeit auch gegenüber der Zivilbevölkerung aus, die letzlich auf die Wehrmacht zurück fiel.] Vielmehr handelte es sich in den Augen der jugoslawischen Kommunisten um "Faschisten"; diese wurden übrigens vom Albanien nicht unterstützt. Die UCK versteht ihren Kampf auch als Rache für Dranica 1946.

Nach 1945 kam den Jugoslawen ein Umstand zu Hilfe: Jalta hat zwischen West und Ost eine Zone der Neutralität vorgesehen, der von Mazedonien bis nach Lappland reichte. Deutschland sollte Teil dieser Zone sein. Bekanntlich hat dieser Plan dort nicht funktioniert, aber Jugoslawien, die Alpenrepubliken, Schweden und Finnland gehörten bis 1989 nicht den Blöcken an. West und Ost hatten sich zu einer Politik der Nichteinmischung verpflichtet, sei es auch mit Widerwillen. Für den Westen blieb Tito Kommunist, die Sowjetregierung sprach zeitweilig von der jugoslawischen Regierung als von der "faschistischen Titoclique". Aber kein jugoslawischer Provinzpolitiker, der Abspaltungswünsche hegte, konnte mit irgendwelcher Hilfe von außen rechnen. Tito schaffte es, den Jugoslawen eine metanationale Identität zu geben, die es ihnen ermöglichten, trotz der gigantischen Mordorgien zwischen 1941 und 1945, mit einander nicht nur zu überleben, sondern als gemeinsame Nation aufzutreten. Jugoslawien war keine demokratische Idylle, Willkür und Machtmissbrauch hat es gegeben, das Land war erst recht kein Wirtschaftsparadies und der Nationalismus blieb unterschwellig eine Gefahr. Aber Tito und sein System, begünstigt durch die Lage im Windschatten des Kalten Krieges, gewährten dieser unglücklichen Region eine Zeit des Friedens, die länger gedauert hatte als je zuvor in den letzten Jahrhunderten. [Ja - aber man darf Friedhofsruhe nicht mit "Frieden" verwechseln, Anm. Dikigoros] Sollten wir an der Schwelle des kommenden Jahrhunderts an die wirklich großen Namen unseres Jahrhunderts zurückdenken, so gehört der Name Josip Broz, genannt Tito, Vater Slowene, Mutter Kroatin, Staatsmann in Belgrad, zu ihnen. Er war nicht ohne Fehler; seine Selbstherrlichkeit und Kritikunfähigkeit sind gut in Erinnerung. Das schmälert nicht seine Leistung. Es war nicht zufällig, dass er als einziger Politiker des "Nordens" zu den großen Gestalten der Blockfreien gehörte wie Nasser, Nehru, Nkrumah, Sukarno. [Dikigoros läßt die Namen so falsch stehen; wer wissen möchte, wie sie richtig geschrieben werden, mag die vorstehenden Links anklicken.] Unter Tito war Nationalhass verboten. "Die Konflikte wurden unterdrückt, nicht aufgearbeitet" sagten vorwurfsvoll neunmalkluge, nicht selten grüne, deutsche Intellektuelle. Mordlust muss unterdrückt werden, in sich selber, und auch in anderen.

Die tödliche Schuldenfalle

Titos Nachfolger wussten, was kommen würde. Sie erlaubten es Tito nicht, zu sterben; schon fast tot, wurde ihn das eine Gliedmaß nach dem anderen amputiert, damit er bloß nicht stürbe. Er starb am 4. Mai 1980 trotzdem und ließ ein wirtschaftlich zerrüttetes Gebilde zurück. Viele Regionen Jugoslawiens (Bosnien, Mazedonien, das dalmatische Hinterland, Südserbien) waren wenig entwickelt. Ihr wichtiges Exportprodukt war menschliche Arbeitskraft. Die so genannten Gastarbeiter, die Industrie und der Tourismus in Kroatien und Slowenien und die Industrie in der Wojwodina und Serbien sorgten lange für eine einigermaßen ausgeglichene Leistungsbilanz. Die kapitalistischen Wirtschaftskrisen setzten ab 1974 immer mehr ausländische Arbeitskräfte frei, die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie ging stark zurück, aber attraktive Zins- und Tilgungskonditionen machten bis 1978 Kreditaufnahme leicht. Dann wurden die Auslandsschulden durch die Zinsexplosion seit 1979 unbezahlbar, der Staat war schon Anfang der 1980er Jahre ebenso bankrott wie Rumänien, Ungarn, Polen, die meisten Ländern Lateinamerikas, Teile Asiens, fast ganz Afrika. Nach Titos Tod diskutierten die jugoslawischen Kommunisten darüber, wie die Schulden zu bezahlen sind. Die Devisen, die vor allem Kroatien und Slowenien verdienten, waren restlos der Zentralregierung abzutragen. [Gemeint ist wohl "abzutreten", Anm. Dikigoros] Über die Verwendung entschieden internationale Gläubigerkartells und die jugoslawische Bundesregierung. Obwohl innere Korruption verbreitet war und einzelne Wirtschaftskapitäne in allen Teilrepubliken ihre eigenen Devisenkonten einrichteten, floss der Großteil der von den Jugoslawen verdienten Devisen zurück an westliche Gläubigerbanken. Jugoslawien stopfte das eine Devisenloch mit dem anderen, die Inflation geriet außer Kontrolle und 1989 war das Land finanziell am Ende. Bald zeigten sich Sezessionsbestrebungen. Sie bedeuteten auch, dass Slowenien und Kroatien dem Bundesstaat, den sie zu verlassen gedachten, die Schulden überließen, die sie selber nicht mehr bezahlen wollten, indem sie sich die wertvollen Bestandteile der Konkursmasse unter sich zu verteilen suchten. Serbien, wo Milosevitsch an die Macht kam, hatte als Vision ein Jugoslawien unter serbischer Führung. Das Vehikel, das diese Provinzpolitiker für solche Manöver benutzen, war der Nationalismus. Alle Provinzführer gehörten dem Bund der Kommunisten Jugoslawiens an; von heute auf morgen wurden aus roten Internationalisten braune Lokalpatrioten. In diesem nationalistisch aufgeheizten Klima war vor allem Serbien, die einzige Republik mit autonomen Regionen für Minderheiten, von weiterer Sezessionsbestrebungen bedroht. Es hob 1989 die Autonomiestatute auf. Die Albaner der Kosovoprovinz wollten die Anerkennung als gleichberechtigte Republik Jugoslawiens, für Serbien der erste Schritt zur Sezession.

Die Zerschlagung Jugoslawiens.

Wir wussten 1989/90 schon lange, was in Jugoslawien geschehen würde. Auf einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD vom 11 - 13 März 1988 habe ich in einem Referat auf die Schulden Osteuropas, insbesondere Jugoslawiens, aufmerksam gemacht. Der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Prof. Horst Ehmke, sagte bei dieser Gelegenheit, an der Adria entwickle sich eine Katastrophe und niemand unternehme etwas. Das wusste man natürlich auch im auswärtigen Amt. Man wusste auch, dass der Nationalismus in Regionen wie auf dem Balkan oder im Kaukasus eine schlicht tödliche Formel ist. Doch da kam der Auftritt des Herrn Genscher. Er setzte den nationalistischen Provinzpolitikern in Slowenien und Kroatien eine Belohnung in Aussicht: die diplomatischen und völkerrechtliche Anerkennung. Frankreich und die Vereinigten Staaten zeigten sich sehr skeptisch, ließen aber Genscher und seine neuen Freunde gewähren, bzw. konnten ihn nicht stoppen. In Washington, 15.04.1999, erklärte Madeleine Albright vor den außenpolitischen Ausschusses beider Häuser des Kongresses, sie habe damals [1990 als UN-Botschafterin der USA] den Deutschen vor dem Schritt der Anerkennung gewarnt; eines Tages müssten dann die Deutschen militärisch absichern, was sie politisch angerichtet hätten.

Im Jahr 1990 brach der nächste Balkankrieg aus und ein Ende ist 1999 nicht abzusehen. Von Österreichs Annektierung Bosniens 1908 bis zu Genschers Anerkennungshektik 1990 bedeutete jede deutsche Aktivität auf dem Balkan eine Katastrophe für die Menschen dort und für den Weltfrieden überhaupt. [Welch eine dreiste Lüge: Wäre die - durch und durch vernünftige - Aufteilung des künstlichen Staatsgebildes "Jugo-slawien", welche die Achsenmächte 1941 vorgenommen hatten, beibehalten worden, hätte für alle Zeit Frieden auf dem Balkan sein können, Anm. Dikigoros] Wir können nicht beweisen, dass ohne Genschers Katastrophenkurs die Dinge anders gelaufen wären. Am Vorabend des Krieges in Bosnien, März 1991, erklärte Genscher: "Wir müssen Bosnien völkerrechtlich anerkennen, dann können wir eingreifen". Hätte er Mitte der 1980er Jahre die Initiative ergriffen, die Schuldensituation Jugoslawiens zu mildern, hätte es zumindest eine Chance gegeben, dem blutigen Treiben Einhalt zu gebieten. Eine Chance; mehr nicht, weniger auch nicht. Genscher dagegen wedelte mit einem Bündel Tickets für den Eintritt in Europa. Das Wettrennen begann, der Krieg rannte mit.

NATO: Geburtshilfe für einen Bürgerkrieg.

Wer in Jugoslawien und den abgespaltenen Republiken jetzt eine Waffe trägt, verkörpert die Ustascha-Tschetnik-Tradition, nicht die Tradition der Volksbefreiungsarmee Titos. [Das spräche für die Waffenträger, Anm. Dikigoros] Mit dem Sozialismus ist auch die Tradition des Freiheitskampfes gestorben. [Freiheit wessen wovon wozu? - Eine von Dikigoros' Lieblingsfragen.] Jedes Eingreifen ist daher notwendig Parteinahme für irgendeinen Ustaschnik oder Tschetnik. Im nationalistischen Bürgerkrieg gibt es keine Spur von minimalen Regelungen, wie die Haager Landkriegsordnung. Gefangene werden kaum gemacht, die jeweilige Zivilbevölkerung ist notwendig Kriegsgegnerin und als solche zu behandeln: Mord, Vertreibung, Zerstörung, Plünderung, Vergewaltigung gehören zum ewigen Repertoire der nationalistischen oder religiös-fanatischen Bürgerkriege. [Nun, in großen Stil hat damit wohl eher Tito angefangen, jedenfalls auf dem Balkan, Anm. Dikigoros.] Die nationalistische Bürgerkriegspartei UCK erhielt aber von Anfang an die politische und militärische Unterstützung des Westens. Ihre Legitimation war und ist in den Augen vieler Bewohner und Bewohnerinnen fraglich, ihr politisches Programm extrem nationalistisch, wenn nicht gar faschistoid. In einem nationalistischen Land wie der kemalistischen Türkei ist die Lage Kurdistans nicht anders als die Lage Kosovos im nationalistischen Serbien, aber dort waren die Rollen umgekehrt. Für die westlichen Medien und erst recht für die westliche Politik war die PKK von Anfang an eine terroristische Bande und die Türkei erhält politische und militärische Unterstützung (trotz gelegentlicher diplomatischer Rüffel). Stellen wir uns einmal vor, wir laden die türkische Regierung und die PKK nach Rambouillet und stellen Ecevit vor die Wahl, entweder Öcalan und die PKK als gleichberechtigte Verhandlungspartner zu akzeptieren, westliche Truppen nach Kurdistan einmarschieren zu lassen, um die weitgehende Autonomie urdistans zu ermöglichen und der PKK die führende Rolle in der Provinzregierung zu gewähren, oder aber sein Land bombardieren zu lassen, dann können wir uns ausrechnen, was das Ergebnis einer solchen Friedenskonferenz (in Wahrheit Kapitulationsveranstaltung) gewesen wäre. [Im neuen Jahrtausend haben sie es versucht, zwar nicht in der Türkei, aber in Syrien - allerdings sind sie letztlich am hartnäckigen Widerstand Rußlands gescheitert, Anm. Dikigoros - der auch immer noch ein Auge auf die Lage der Kurden im Norden des Irak wirft, aber an dieser Stelle würden diesbezügliche Ausführungen zu weit vom Thema abschweifen.] Führende Kreise der NATO haben absichtlich die Falle von Rambouillet konstruiert, um eingreifen und ihr Meisterstück als erfolgreichen Weltpolizisten machen zu können. Für Letzteres spricht die neue Aufgabenstellung der NATO nach dem Washingtoner Gipfel 25-27.4.1999

Der Konflikt wurde von der NATO nicht erfunden; es gab Diskriminierung, Polizeiwillkür, vor 1997 deutlich weniger als in Kurdistan, aber dennoch eindeutig. Von systematischen Vertreibungen war aber bis zu diesem Zeitpunkt nicht die Rede. Erst als im Laufe des Jahre 1998 die militärischen Auseinandersetzungen eskalierten, entstanden Flüchtlingsströme. Die brutalen Polizeiübergriffe gegen Nichtbeteiligte trieben die Leute zur UCK, gleichzeitig gab es in den Gebieten, wo die UCK das Sagen hatte, Zwangsrekrutierungen, Schutzgelderpressung und Drangsalierung nicht-albanischer Minderheiten. Im Frühsommer kam es im Kosovo zum offenen Bürgerkrieg. Nach einem Waffenstillstandsabkommen im Oktober 1998, vermittelt durch den US-Diplomaten Holbrooke, "kehrten viele der Binnenflüchtlinge zurück" (laut Dokumentation des Bundesverteidigungsministerium, zitiert nach FAZ 22.04.1999) und zwar in die Kosovoregion, aus der sie und die UCK vertrieben worden waren. Die UCK kehrte mit den Flüchtlingen zurück. In dieser ganzen Zeit gab es eine öffentliche Diskussion um ein wünschenswertes Eingreifen der NATO, mit dem angeblichen Ziel, ein neues Bosnien zu verhindern. Dabei gab es eindeutige Signale an die UCK. Die UCK wusste schon, sie werde gegen die serbischen Kräfte und die jugoslawische Armee nicht bestehen können, aber sie hoffte, den Kampf so lange durchzuhalten, bis die NATO mit gezielten Schlägen die serbische Regierung zum Nachgeben zwingen würde. Die UCK nahm untermittelbar nach ihrer Rückkehr trotz Waffenstillstand November 1998 den Kampf wieder auf; die serbische Seite setzte außer Polizei- und Armeekräften auch paramilitärische faschistoide Mörderbanden ein, die durch niemand zu disziplinieren waren. [Das ist eine ganz üble Diffamierung der christlichen Bürgerwehren, die sich gegen die muslimischen Mörderbanden der UČK zur Wehr setzten, Anm. Dikigoros] Das Abkommen Milosevitsch-Holbrooke war nach dem gleichen Muster wie Dayton gestrickt; Erfolg zum jeden Preis, vor allem zum Preis der Eindeutigkeit. Die eigentlichen Probleme wurden ausgeklammert, vor allem die Probleme, die mit dem albanischen Nationalismus zusammenhingen. Genau dieser war es, der dem serbischen Nationalismus den Vorwand zu ihrer Vertreibungspolitik lieferte. Im Nachhinein fällt es schwer, daran zu glauben, dass Holbrooke die Probleme lösen wollte; vielmehr wollte man den Krieg und deswegen verhandelte Holbrooke, wie er verhandeln musste. Im Januar 1999 kam es zu den ersten großen Massakern. Man hätte nichts anderes erwarten können. Die Konferenz von Rambouillet wurde vorgeschoben, nachdem die Entscheidung, militärisch einzugreifen, schon längst gefallen war. Man wusste, was man wollte. Nach Analogie des Eingriffs in den bosnischen Krieg auf Seite Kroatiens wo die serbische Regierung seine Unterstützung für die bosnischen Serbien aufgab und sich mit einer Teilung Bosniens abfand, hoffte man auch, dass die serbische Regierung spätestens innerhalb eines Monats nachgeben würde. Kroatien konnte dann sein Programm von ethnischer Säuberung in der Kraina und Ostslawonien lückenlos durchführen, ähnliches erhofft sich die UCK. Was in beiden Fällen auch ähnlich war, ist folgendes: die blutigsten Massakern fanden in Bosnien nach der Intervention auf der Seite Kroatiens in Tuzla, Zepa und Srbenica statt, die großen Massaker in Kosovo während Rambouillet und erst recht nach dem Angriff der NATO. Ab Mitte Juni stellte die NATO ihre militärischen Aktionen gegen Jugoslawien ein.

Krieg sähen, Elend ernten.

Ziehen wir Bilanz. Kosovo ist verwüstet. Die Industrie Serbiens ist größtenteils vernichtet. Die UCK übernimmt die Macht und vertreibt die serbische Bevölkerung. Sie will Großalbanien, die NATO will das nicht. Die internationale Gemeinschaft - wie sich das Häuflein westlicher Länder unter der Führung der USA bescheiden nennt - muss also eine robuste Präsenz zeigen und zwar für die kommenden zehn Jahre, wenn nicht länger. Serbien bekommt keine Hilfe, so lange nicht eine uns genehme Regierung gewählt wird. Serbien und die benachbarte Republik Srpska in Bosnien und Herzegowina haben kaum eine Chance, ihre Bevölkerung vor Verelendung zu bewahren. Demnächst steigt die große Balkankonferenz, in Sarajevo. Eine Vision für diese Region ist nicht in Sicht. Alle teilnehmenden Staaten, mit Ausnahme Serbiens, wollen in die NATO und in die EU. Aber die NATO und die EU wollen sie nicht (Ausnahme: Slowenien, wegen dessen wirtschaftliche Annexion durch Österreich). Es wird und muss aber Verheißungen geben, denn Verheißungen disziplinieren. Milosevitsch muss weg, weil er sich nicht disziplinieren lässt. Das war eins der Ziele des NATO-Krieges. Ob er bleibt, geht, oder gegangen wird, ist belanglos. Denn die eigentlichen Probleme bleiben. Die Schulden bleiben, die Armut bleibt, der Nationalismus als Bedingung für den eigenen Staat und so für die Aufnahme in die NATO und die EU bleiben. Sarajevo 1999 wird zu einer burlesken Tragödie. Burlesk, weil hier Herrschaften wie Bodo Hombach, der kaum weiß, wo der Balkan liegt und nichts weiß von der Geschichte dieser unglücklichen Region, große Reden schwingen werden. Tragödie, weil Sarajevo der Inbegriff für das verlassene, verratene und massakrierte Jugoslawien ist und besseres verdient hat, als mit einer solchen Konferenz verhöhnt zu werden.

Erst wenn der ganze Balkan und erst recht seine westliche Hälfte, das ehemalige Jugoslawien, eine Region sein würde, wo Vollbeschäftigung bei gleichmäßig verteilten und schnell steigenden Einkommen herrschen würde, würde der Nationalismus genau so schnell an Einfluss verlieren, wie die Einkommen steigen und nationalistische Kriege der Vergangenheit angehören. Das zumindest war die Lektion der Nachkriegszeit in Teilen Europas. Aber schon jetzt wird dem Balkan verkündet, was kommt: Markwirtschaft pur. Ein bisschen Geld wird wohl vorgestreckt werden. Hier und dort werden neue konkurrenzfähige Betriebe entstehen. Millionen von Menschen wird nur das Elend bleiben und zusehen, wie sie zurecht kommen. Die neoliberale Ordnung, dem Balkan gewaltsam verordnet, verlangt Massenarmut, überall. Armut ist relativ. In der ehemaligen DDR ist Armut inzwischen verbreitet, in den alten Ländern deutlich auf dem Vormarsch. Auf dem Balkan wird die Armut die Dimension von Elend annehmen. Es bedarf der NATO. Denn Elend muss unter Kontrolle gehalten werden. Aber es gibt trostvolle Aussicht:

"Kommt nach Europa!"

Der theatralisch veranlagte Bundesverteidigungsminister rief während einer Bundestagssitzung der serbischen Bevölkerung zu: "Das Problem hat einen Namen: Milosevitsch. Liefert ihn aus! Kommt nach Europa!" Im Fach Geographie hat der Herr Scharping wahrscheinlich nicht aufgepasst; nach allgemeiner Auffassung liegt Belgrad in Europa. Aber die Sache ist nicht witzig. Europa heißt hier eine Region mit neoliberalen Grundausrichtung. Alle Länder, die sich einer solchen Grundausrichtung widersetzen, gehören weder zu Europa, noch zur zivilisierten Welt. Was europäisch ist und was zivilisiert, das bestimmen wir, die deutsche Regierung etwa, Blair, Clinton usw. Serbische Menschen wollen gerne nach Europa, aber nur als Einzelne. Gottseidank haben wir für diese Variante unser Ausländergesetz.

Die NATO hat zwar die existentielle Daseinskrise des Herrn Scharping, sonst aber kein einziges Problem gelöst, denn sie ist das militärische Instrument zur weltweiten Durchsetzung der politischen Weltordnung des Neoliberalismus. Alle Länder, in die der Westen seit 1989 eingegriffen hat, sind zu stinkenden Kehrichthaufen von Armut, Verelendung, Demoralisierung und Kriminalität geworden. Das Morden geht in Kosovo weiter, jetzt unter umgekehrtem Vorzeichen und im Ausmaß möglicherweise um eine Zehnerpotenz niedriger. Die inzwischen als notwendig erkannte und kostspielige Militärpräsenz wird in den kommenden zehn, zwanzig Jahren für die vielen NATO -Länder zu einer großen Belastung, vom europäischen Beitrag zum Wiederaufbau (was immer das heißen mag) gar nicht zu reden. Die NATO hegt vielleicht die Hoffnung, dass ihr all zu viele Krisen in der nächsten Zukunft erspart bleiben. Das belebt vielleicht die Rüstungswirtschaft und speckt die Gesäßtaschen ihrer Manager, nur ist der Auftraggeber der Steuerzahler und dieser will seinen Beitrag eher senken. Und so sind wir beim edlen Wort sparen. Da Staate nicht sparen können, nur Menschen, bleibt die Frage: wer spart? Manche werden nicht sparen, andere müssen, nämlich die, die mehr als andere auf staatliche und gesellschaftliche Leistungen angewiesen sind. Es scheint nämlich, das Schröders heutige Leistung darin besteht, das Wort sparen von der Öffentlichkeit mit positiven Konnotationen besetzen zu lassen. In den Haushalten der Jahre 1999, 2000 und 2001 wird Scharping gut wegkommen; was aus seinem Etat nicht bezahlt werden kann, wird im Haushalt woanders versteckt. Riester aber wird dastehen wie ein gerupftes Huhn. Für die angemessene Burleske sorgt in diesem Fall ein parteiloser Herr Müller: "Wir müssen unsere Sozialansprüche herunterschrauben". Bei einem Ministergehalt ist dieses wir gut! Vor einigen Jahren hat jemand vom "Nationalsport anderer Leute Bauchgürtel enger schnallen" gesprochen. Kosovo macht das nicht erst möglich, aber auf alle Fälle leichter.

Kein Ende, alles gut!

Für Rot-Grün Marke Schröder-Fischer hat Kosovo durchaus positiven Zeiten: es ist ein Katalysator beim umfassenden neoliberalen Umbau der bundesrepublikanischen Gesellschaft, vor dem Kohl & Co. noch zögerten. So wird alles gut in der besten aller möglichen Welten. Das satte Grinsen Schröders wird uns als Zeichen für den Fortschritt in neoliberale Richtung Tagesschau für Tagesschau vorgeführt. Wer partout seine Armut nicht erträgt, für den gibt es öffentliche und zunehmend auch private Knäste. Wem der neoliberale Weltordnung nicht passt, für den gibt es, wenn nötig, chirurgische Schläge mit mäßigen Kollateralschäden. So belehrt verlassen wir unser Jahrhundert: wer rot-grün wählt, wählt Krieg und Sozialabbau; wer etwas anderes wählt, wählt das Gleiche. Vermutlich haben die Herrschenden das Kind Demokratie mit dem Badewasser, ihrem einmal hochgelobten Sozialstaat, ausgeschüttet. Für Schrempf, von Pierer, Piech, Henkel und wie sie heißen war in ihrem Alltag als Unternehmer Demokratie von jeher ein Fremdwort. Bei Daimler-Chrysler geht ohne Demokratie alles besser, warum nicht in Europa? Wir behalten das Ritual bei: alle vier Jahre haben wir die Wahl zwischen Gleichem und Gleichem - was sich bekanntlich gern gesellt. Jede(r) darf sagen, was er oder sie will, denn ist es belanglos. Haben wir früher, vor einigen Jahrtausenden, nicht über repressive Toleranz diskutiert?

Wir beginnen nicht bei beim Null des Jahres 1830, denn eine Bewegung wie die Arbeiterbewegung ist weit und breit nicht in Sicht. Wir beginnen unter Null. Nur: wir können die Weltordnung nicht lassen wie sie ist. Was bleibt? Außerparlamentarische Opposition und Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung. Wie sagte einmal Bertold Brecht: "Der Mensch ist sehr nützlich......aber er hat einen Fehler: er kann denken!"


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