Eine vorläufige Bestandsaufnahme von „Der deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten Landes“ von Richard Wagner, Berlin 2006
oder wie die Berliner Republik zerredet und schlechtgeredet werden kann
Wagners Diskurs fällt unter solch heilsverkündenden „Nachzeichen“ weder reflexiv, noch kritisch aus, sondern betont apodiktisch und durchgehend mit Understatements befrachtet. Er thematisiert mit Vorliebe die angeblich von den Medien kultivierte Angst, ringt sich aber nicht zur Erkenntnis durch, dass es sich eigentlich um seine eigene Unsicherheit handelt, die sich als Angst manifestiert. Deshalb legt er auch kein eindeutiges politisches Bekenntnis ab, zieht es hingegen vor, die eigentlichen Inhalte seiner politischen Botschaft in wiederholten Understatements und Anspielungen zu verkleiden. Gerade diese Ebene des Wagnerschen Diskurses entgeht den meisten bundesrepublikanischen Rezensenten, weil sie den einen, entscheidenden Punkt übersehen: Wagners Herkunft aus dem betont „volksdeutsch“ geprägten Aussiedlermilieu. Dass hier ganz andere Sozialisationsregeln und –formen gelten, als die gängigen der alt- oder berlinrepublikanischen Sozialisierung, bleibt unberücksichtigt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Wagners deutschnational gehaltener Diskurs, der zuweilen eindeutig extreme Töne aufnimmt, in den bisherigen Stellungnahmen entweder ganz ausgeblendet oder mit einer gewissen Genugtuung sogar belobigt wurde.
Die Crux dieses Buches liegt nun – ob man es will oder nicht – in der Aussiedlerherkunft des sonst auf rein literarischem Gebiet recht erfolgreichen Richard Wagner. Was Wagner nun in „Der deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten Landes“ feilbietet, bestätigt zum einen, dass die zutiefst von Ressentiments geprägte Aussiedlerherkunft auch bei diesem Schriftsteller zum virulenten Ausbruch gelangt ist. Doch dessen Ausmaß übersteigt jede Erwartung. Wagners Diskurs lebt aus der dem ressentimentkulturellen Horizont eigenen Hervorhebung der Unzufriedenheit mit der Gegenwart und aus der geschichtsrevisionistischen Unbelehrbarkeit in Verbindung mit dem NS-Abschnitt deutscher Geschichte. Hinzu gesellt sich eine allgemeine Einseitigkeit und Uneinsichtigkeit mit betont rechtspolitischen Vorzeichen. So sucht man auf den 389 Seiten dieser Schrift vergebens nach einer dezidiert gegen den NS oder das rechte politische Spektrum der früheren oder heutigen Bundesrepublik gerichteten Aussage, hingegen hagelt es an klischeehaft-stereotypen Verwünschungsformeln all dessen, was in den Augen Wagners der politischen Linken zuzuordnen sei. Es ist bezeichnend, dass Wagner das die Berliner Republik faktisch durchziehende Gejammer wiederholt anprangert, aber sich dessen nicht bewusst zu sein scheint, dass er selbst ein durchgängiges Klage- und Nörgellied anstimmt. Dies und vieles mehr sprechen diesem Autor ab, dass er in der Berliner Republik und im neuen Europa nur ansatzweise angekommen ist.
Für welchen Wertekomplex Wagner
optiert und für welche Wertvorstellungen er sich eher ex- als implizit
einsetzt, dürfte so weit einleuchten. Die Quelle seiner Unzufriedenheit,
seiner Angst und Besorgnis um Deutschland, die Deutschen und das Deutschsein,
die überhöhte Ansiedlung des „Deutsch“(land)-Komplexes, dessen
Kernelement der deutsche Nationalstolz und das mit letzterem Verbundene
ist, steht für eine radikale Perspektivverengung und entspricht einem
Armutszeugnis. Von allgemein menschlichen Werten und Tugenden ist in Wagners
Buch nämlich nicht das mindeste zu erfahren. Universalismus ist diesem
Autor nicht nur fremd, sondern eindeutig ein rotes Tuch. Die, bei denen
es zu sehr „menschelt“, seien „Gutmenschen“, die mit ihrem „Warndiskurs“
„den fruchtbaren Schoß jeder Normalisierung des Nationalbegriffs
blockiert“ hätten (S.273). Dem entspricht die wiederholte Verunglimpfung
der „Intellektuellen“. Wagner ruft wiederholt nach Bejahung des Deutschnationalen,
nicht von allgemein menschlichen Wertvorstellungen, nein, ausschließlich
nach denen Deutschlands und über Deutschland. So nimmt es nicht Wunder,
dass Wagner insgesamt 8 Seiten für die apologetische Verteidigung
M. Walsers verwendet (S. 269-278), dass er in diesem Zuge den NS als „nationale
Initiative“ verharmlost (S.273); dass er postuliert, die angeblichen „Rituale
der kollektiven Schande“ hätten „die nötigen Antriebe der heutigen
deutschen Gesellschaft untergraben“ (ebd.). Mit letzterer Aussage ist wohl
die Quintessenz von Wagners ekklektischem und zudem der Kompilation nicht
unverdächtigen Text identifiziert. Wagner möchte nämlich
sagen, dass die deutsche Gesellschaft nur unter der Bedingung sich effektiv
entwickeln könnte, wenn sie der „kollektiven Schande/Schuld“ entschwören
würde. Damit ist abermals erwiesen, dass Wagners Maßstab von
den Begriffen Deutschland, Deutschsein, deutsche Nation vorgegeben, also
eindeutig deutschnational geprägt ist. Dass es auch ein Deutschsein
geben kann bzw. gibt, das im Bewusstsein der „Auschwitz“-Hypothek lebt,
das interessiert Wagner überhaupt nicht. Menschen, die keine Deutschland-Manie kennen, die keinen
durch Ausschaltung bzw. Verneinung der Holocaust-Schuld
bereinigten Deutschland- und deutschen Nationalbegriff anstreben, die also
nicht deutsch- und deutschlandzentriert sind, seien in den Augen Wagners
die eigentlichen „Verneiner“; Wagner, Walser und dergleichen wollen also
im Umkehrschluss die Bejaher sein. Die Lektion, dass mit vehementer Bejahung
Deutschlands und der deutschen Nation nicht alles gesagt und bejaht ist,
dass dies Bejahung diesen Inhalts nicht alles ist und auch nicht sein kann,
das scheint das Vorstellungsvermögen und den Einfallsreichtum Wagners
und seinesgleichen entschieden zu überfordern. Sie ziehen die Einigelung
und die Verengung des Blickwinkels einer von dauerhaftem Perspektivwechsel
und von Perspektiverweiterung gekennzeichneten Welt vor. Die Frage, ob
das das einzig mögliche Rezept für die Zukunftsfähigkeit
Deutschlands und der deutschen Nation sein kann, bleibt verständlicherweise
unkommentiert. Allerdings: hätte Wagner diese Art der Problemstellung
in den Mittelpunkt seiner Ausführungen gerückt, hätte er
zweifelsohne ein anderes Buch geschrieben. Darin wäre es kaum „um
das Ganze“ gegangen. Wer vermeint, es ginge eigentlich darum, der hat sich
einem ausweglosen, totalitär befrachteten Weg verschrieben. Auf diese
Weise erhebt sich Wagner auch noch zum Heilsverkünder und Hüter
des Geheimwissens, das Deutschland angeblich aus der jetzigen „Misere“
führen soll. Eingenommen, ja benommen von den eigenen Ausführungen
vergisst Wagner ganz, dass das alles höchstens eine mögliche
Sichtweise und höchstens ein Lösungsansatz von vielen sein kann.
Andernfalls können Wagners Heilsvorschriften höchstens als Kuriosum
und als grenzenlose Überheblichkeit gelten. Sein Buch bleibt dadurch, dass es die Berliner Republik gnadenlos zerredet und schlechtredet insgesamt
eine Zumutung und geht weit über den schlechten Geschmack hinaus.