GEDANKEN ZU

Volker Boehnigk

Kant und der Nationalsozialismus
Einige programmatische Bemerkungen ueber nationalsozialistische Philosophie
(Bonner Philosophische Vortraege und Studien, hg. von Wolfram Hogrebe, Bd.9)
Bonn 2000



(S.10) Bereits im ersten Punkt seiner Abhandlung stellt Verfasser eine Frage, die keine Zweifel ueber seinen Standpunkt zulaesst: „Hat es eine nationalsozialistische Ideologie gegeben?“
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(11) Im 3. Punkt definiert Verfasser, was er unter Separat-Theorie der Ideengeschichte versteht. Diese Begrifflichkeit will er auf Gereon Wolters, „Der »Fuehrer« und seine Denker. Zur Philosophie des »Dritten Reiches«“, erschienen in „Deutsche Zeitschr. f. Philosophie“ 47, 1999, Heft 2, 223-251 anwenden, gegen den er auch gehoerig polemisiert.

Es verwundert nicht, dass eine Aeusserung vorliegt, die ganz dem Geist des sich hart an der Grenze des Geschichtsrevisionismus bewegenden Stefan Breuer, „Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871-1945“, Darmstadt 2001, entspricht: „Unter der nationalsozialistischen Regierungsherrschaft hat es keine geistigen Stroemungen gegeben, die zusammenhaengende oder geschlossene Ideen praesentierten, die als ‚nationalsozialistisch‘ zu bezeichnen waeren.“

(14) Boehnigk stellt im 5. Punkt die „zunaechst wichtigere Frage“: „Was ist ein nationalsozialistischer Philosoph?“ Auf diese Frage kann mit einer von aussen her an das Forschungsobjekt herangetragenen Typologisierung (wie bei Breuer) nicht geantwortet werden, sondern ausschliesslich, indem in den NS-Texten selbst, auch, und vor allem in den „unphilosophischen“, geforscht wird.

(22) Im 9. Punkt versucht Boehnigk entgegen Wolters den Nachweis zu erbringen, dass „eine Rassentheorie nicht relativistische Konsequenzen nach sich zieht.“ Das liege laut Boehnigk darin, „dass alle Rassen ihren Ausgang von einem Stamm (oder einer Stammart) nehmen (in der Evolutionsbiologie heute noch vertreten, bei Hitler etwa ‚Grundrasse‘, bei Rosenberg ‚Urvolk‘ genannt) [...].“
Damit ist der erste Hoehepunkt irrwitziger Argumentation erreicht. Boehnigk bedient sich des (kultur)diffusionistischen Denkmusters, das jede Erscheinungsform, ob biologisch oder kulturell, auf eine einzige und einzelne Urgestalt –hier die weisse oder  nordische Rasse, bei Goethe z.B. die Urpflanze, bzw. das Blatt, aus dem sich alles Pflanzliche entwickelt habe -, also auf einen vermeintlichen Prototyp zurueckfuehrt. Und diese durchaus antiquierte Sichtweise als frei von Relativierung, frei von „relativistisch(en) Konsequenzen“ herauszustellen, gleicht dem Unterfangen, die Quadratur des Kreises zu finden. Denn Boehnigks Argumentation beruht zum einen auf einer groben Um- und Missdeutung des Universalismus-Prinzips: der bei Kant und auch bei den NS-Rassisten vorliegende „anthropologische“ Diffusionismus wird einfach auf fadenscheinige Weise in sein Gegenteil umgedeutet: die kuriose Argumentationsweise Boehnigks schafft es naemlich

a) den kantischen Reduktionismus, der dem Zeitgeist durchaus eigen war (vgl. Goethes Urblatt und Urpflanze), mit dem relativierenden und reduktionistischen Rassismus der NS-Philosophen und Ideologen sachwidrig gleichzustellen;

b) durch die Vermengung von zeitbedingtem Kantschen Reduktionismus und evidentem Relativismus und Partikularismus der NS-Rassentheorie den Wesenszug des letzteren und dessen Konsequenzen, den Exklusivismus (Ausschliesslichkeit, Ab- und Aussonderung) ueberhaupt nicht benennen, geschweige denn thematisieren zu muessen.

Die von Boehnigk vorgenommene Umfunktionierung des kantschen und darueber auch des NS-Rassen-Diffusionismus, der auch zu einer Umdeutung des Universalismus-Begriffs fuehrt, und diesen folgerichtig aufloest, will aus der diffusionistisch-relativierend-partikularistischen Rassentheorie heraus auf universalistische Geltung schliessen; d.h., von subjektiven, und zudem irrationalistischen Ueberlegungen und den sich dahinter verbergenden Intentionen der Exklusivitaet, Exklusion und Vernichtung auf deren Universalitaet schliessen und diesen Haltungen Universalitaet verschaffen. Die recht simplistische Ueberlegung lautet bei Boehnigk: „alle Rassen [nehmen] ihren Ausgang von einem Stamm (oder einer Stammesart) [...] (in der Evolutionsbiologie heute noch vertreten, bei Hitler etwa ‚Grundrasse‘, bei Rosenberg ‚Urvolk‘ genannt)“, was nicht dazu fuehre, dass „eine Rassentheorie“ „relativistische Konsequenzen nach sich“ ziehe. Weil „sich dessen [des ‚Urvolkes‘] Merkmale in jeder anderen Rasse mehr oder weniger deutlich ausgepraegt“ wiederfinden (S.22). Damit beschreitet Boehnigk eindeutig den Weg der spekulativen Legitimation von Rassismus und rassistischen Theorien [durchaus keine philosophischen Mittel]. Und nun belegt B. das durch Umkehrung und Umfunktionierung (durch „Sophisterei“) des „Universalismus“-Begriffs gewonnene erste Argumentationsergebnis mit einem Text aus Hitler (Anm. 46, S.61: „Fuehrung und Gefolgschaft“ (Die Erhebung. Dokumente zur Zeitgeschichte, Berlin 1934, S.18): „ueben auch die unsterblichen Leistungen der alten Voelker immer wieder ihre anziehende Wirkung aus“, da „ihre Wurzeln in einer Grundrasse zu suchen“ sind.

Besorgniserregend ist, dass B. die Aussagen rassistischen Inhalts wort-woertlich auffasst, sich also in keiner Weise davon distanziert, hingegen seine ganze Energie darauf richtet, Wolters universalistische und rationalistische Deutung zu widerlegen. B.s Distanzlosigkeit zum rassistischen Gedankengut der Nazis gipfelt in der an seine Schlussfolgerung ueber die angebliche Wiederkehr der „Merkmale“ des ‚Urvolkes‘ „in allen schoepferischen Leistungen der verschiedenen Rassen“ gekoppelte Berufung auf die „im Auftrage von Heinrich Himmlers SS-Ahnenerbe durchgefuehrten empirischen Forschungen“, die zum groessten Teil darauf beruhten, „diesen Leistungen nachzuspueren.“ Damit bekennt sich B. eindeutig

ueber „rassistischen Universalismus“

zum „Universalismus des Rassismus“,

wofuer er mit eindeutig sophistischen Mitteln eintritt.

Nachdem wir die Stossrichtung und das Ziel von B.s Widerspruch gegen G. Wolters geortet und benannt haben, erscheint es muessig, auf weitere konkrete Argumentationsversuche B.s einzugehen. Weil er weiterhin konsequent sophistisch (=ausschliesslich spekulativ) vorgeht.

Auf die dargestellte Weise gelingt es B., einer Haltung, Einstellung, Sichtweise und Theorie, die eindeutig realtivierend-partikularistisch, also anti-universalistisch ist, eine besondere „Universalitaet“ zuzusprechen, die bei naeherer Betrachtung bis ins Detail dem Allein- und Allgemeinvertretungsanspruch der NS-Ideologie, also auch ihrer rassistischen Standpunkte, entspricht. Und B. tut weiter nichts, als den Versuch zu unternehmen, diesen Anspruch mit sophistischen Mitteln zu legitimieren.

Wie einfallslos und unbeschwert B. an die Problematik des Rassismus herangeht, zeigt sein Einwand gegen Wolters, in der „nordischen Metaphysik“ Beckers sei nicht einmal „in Andeutungen von Antisemitismus die Rede“ (S.23). B. scheint entweder ueber Kontextualitaet und ueber Kontexte nichts zu wissen, oder er ignoriert diese wissentlich. Sonst muesste ihm bekannt sein, dass die Zuweisungsqualitaet von Aussagen oder Texten nicht nur von expressis verbis abhaengt. So ist der Rassismus eines Textes bzw. seines Verfassers nicht daran festzumachen, ob die Begriffe „Rassismus“, „rassistisch“ oder „Rasse“ vorliegen.

Weil B. das voelkisch-nationalsozialistische Vokabular ganz unkritisch, als solches rezipiert, verwundern Aussagen wie „Impliziert die Herausstellung der Leistungen der nordischen Rasse, der Glaube an ihre Bedrohung einen Antisemitismus?“ (S.23) nicht. Die Unbeschwertheit, mit der B. mit dem Rassismus umgeht, weckt ernsthafte Zweifel, dass er diesem Thema bzw. dem Forschungsthema der „Philosophie im NS“ gewachsen ist.

Dass es B. nicht um eine ernsthafte philosophische Widerlegung dessen geht, was Wolters ueber Becker aeussert, veranschaulicht der Umstand, dass Boehnigk es fuer seine Pflicht erachtet, den von Wolters angeblich zu Unrecht zum Nationalsozialisten erklaerten Becker vor diesem „Vorwurf“ in Schutz nehmen zu muessen, auch, weil „ein solcher Vorwurf eine schwerwiegende Anschuldigung“ sei, die jeglichen Nachweises entbehre (S.23).

B. praezisiert seine Ablehnung der Vorgehensweise von Wolters damit, dass dieser „den Begriff des Nationalsozialisten eng und praezise“ fasst, „damit ein Opfer des Nationalsozialismus nicht verwechselt wird mit einem Opfer des Faschismus, des Totalitarismus oder sonst irgendeinem intellektuellen Konstrukt von Allgemeinbegriffen, das man sich ausdenkt, um endlich nicht mehr mit der eigenen deutschen Geschichte moralisch belastet zu werden“ (S.23f.). Hier formuliert B. auf recht verkorkste Weise – er hinterlaesst naemlich den Eindruck, dass die moralische Entlastung der deutschen Geschichte nicht sein eigentliches Ziel ist, obwohl es ihm gerade darum geht – sein eigentliches Vorhaben, das, wie seine bisherigen Ausfuehrungen belegen, entgegen der universalistisch-partikularistiscch-relativierenden Aufklaerungsarbeit von Wolters eine angeblich nicht realativierende und partikularisierende, aber eigentlich im Kern revisionismusverdaechtige Neubestimmung, Neubewertung und Neueinstufung bezweckt.

Diesem Zweck soll auch die Zerpflueckung der von Wolters eingesetzten, aber auch der allgemein gueltigen Begriffe und Begrifflichkeiten wie „Rassismus“ und „Antisemitismus“ dienen. So will B. – und diese Vorgehensweise ist auch fuer Breuer, „Ordnungen der Ungleichheit....“ kennzeichnend – durch die Einfuehrung angeblich differenzierender Termini, zwischen dem sogenannten „Antisemitismus eines Schoengeistes“ im Falle Beckers und dem sogenannten „Standardantisemitismus der Nationalsozialisten“ unterscheiden. B. liefert nun in Abschnitt 11 (S.24f.) ein recht bedenkliches Verwirrspiel seiner terminologischen Zerpflueckungstechnik. Indem er so geartete Fragen stellt, erweckt er den Eindruck, dass der ihm nicht ins Konzept passende Wolters und dessen Terminologie – so der Begriff „Standardantisemitismus“ – das eigentliche Diskussionsobjekt abgeben, nicht der erwiesene Rassismus und Antisemitismus von Becker, Hitler, Rosenberg oder F.K. Guenther.  B. erzielt auf diese Weise einen Ablenkungs-, einen Diversionseffekt. Daher auch sein verworrenes und verwirrendes Fragespiel: „Was ist die Standard-Rassenlehre der Nationalsozialisten? Die Hitlers? Oder die Guenthers, der ihr ja nahestehen soll?“ „Ist Rosenberg nun kein Nationalsozialist? Oder nur kein Vertreter der Standard-Rassenlehre? Wie sieht dies im Falle von Guenther aus und seinem von Wolters in Augenschein genommenen Buch Rassenkunde des deutschen Volkes?“ „In Guenthers Rassentheorie findet sich weder eine Geschichtstheorie noch eine Verbindung von Rassenlehre und Lebensraumpolitik. Wer von Beiden – Hitler oder Guenther – vertritt nun die Standard-Rassenlehre?“ (S.24f.) Das ist nichts anderes, als ein Zer- und Herumreden – hier Herumfragen – um den heissen Brei. Was fuer ein Licht damit und dadurch auf den Bonner Philosophiebetrieb faellt, kann sich jeder klarsehende Leser denken.

Nach diesem fragenspielerischen Intermezzo wechselt B. schnell zur Bemerkung: „Die Idee einer Standard-Rassenlehre scheint bereits nach den vorausgegangenen Ueberlegungen unhaltbar zu sein.“ (In der Anmerkung dazu heisst es: „Die Aussage, dass es abwegig ist, von einer Standard-Rassenlehre des Nationalsozialismus zu sprechen, sollte als vorsichtige Vermutung aufgefasst werden. Ich glaube aber, sie weiter erhaerten zu koennen.“ (S.62)).

B. stellt „vorsichtigerweise“ nur „Vermutungen“ an, doch dass es sich eigentlich bereits um Behauptungen handelt, dafuer spricht die oben identifizierte Zielsetzung. Seine „Vermutungen“ bezueglich der Aeusserungsformen „rassistischer Ueberzeugungen“ sind eigentlich vorformulierte Behauptungen. B. „vermutet“ also, „dass sich die Kraft rassistischer Ueberzeugungen nicht unmittelbar daraus ergibt, ob sie in Form empirischer Daten, objektivistisch-szientistischer Argumente oder nur in vorurteilsgeschwaengerten Meinungen und kloakengetraenkten Phrasen dargeboten werden, oder ob alles ein Gemisch von diesem oder jenem ist.“ (S.25f.)

Und was tut es zur Sache, wie Hitler „den Nichtrassisten vom Rassismus ueberzeugte“, worueber sich B. auf S. 26f. auslaesst? Oder die terminologische Zerpflueckerei um den Begriff „Art“, die B. auf S.28 betreibt und die stark an die typologischen Antisemitismus-Gepflogenheiten Breuers in „Ordnungen der Ungleichheit. ...“ erinnert?

Es tut allerdings sehr viel, dass B. Hitlers Antisemitismus mit einer diesem zugesprochenen „Kulturkreistheorie“ verbindet (S.26), wozu B. erlaeuternd bemerkt, Hitler habe mit dieser Theorie „so gut wie alle gesellschaftlichen Probleme und Konflikte, alle ideologischen und weltanschaulichen Spannungen, die sich aus den verschiedenen Entwuerfen wissenschaftlicher, gesellschaftlicher oder kuenstlerischer Art ergaben, auf das Problem der Rassenmischung“ zurueckgefuehrt, wodurch es „nur an einigen wenigen wirksamen Stellen des Hinweises [bedurfte], wer wesentlich fuer dieses „Rassenchaos“ verantwortlich war, naemlich das Judentum.“ Und nicht genug mit dieser zwar erlaeuternden, aber ausschliesslich expositiven, kritiklosen Auslegung des Hitlerschen Rassismus und Antisemitismus und der Wirksamkeit, die dieser Standpunkt  hatte. B. schliesst daraus in unbeschwerter, leichtfertiger Weise, ohne des geringsten Anzeichens, daran etwas Anstoessiges zu finden, auf „das „Loesungspotential“ und die Idee des neuen Staates“ (Anm.60, S.65). Deshalb verwundert es auch nicht, dass B. „Die Herstellung der Rassenreinheit, also zumindest die Ausgrenzung alles „Fremdrassischen““ nicht nur als Moeglichkeit anspricht, „die Probleme, Konflikte und Spannungen aufzuloesen“ und feststellt, dass „Eine vulgaere, rassistische Agitation [...] gar nicht erforderlich“ war, weil „statt dessen [...] eine klare politische und gesellschaftliche Aufgabe formuliert“ wurde (Anm.60, S.65f.). Damit verlaesst B. die ausschliesslich expositiv-erklaerende Schiene und verfaellt in eine billigende Tonart von Hitlers rassistisch-antisemitischen Zielen, weshalb die Schlussfolgerung durchaus zulaessig ist, dass Verfasser diese politischen Ziele gutheisst. Eine andere Auslegungsmoeglichkeit seiner Behauptung, es handele sich um „eine klare politische und gesellschaftliche Aufgabe“, ist kaum moeglich.

B. faehrt fort in seiner distanzlosen Handhabung und in der wort-woertlichen Auffassung des rassistisch-antisemitischen Vokabulars des NS. Damit raeumt er diesem Vokabular eine ungebuehrliche und recht bedenkliche Glaubwuerdigkeit ein und verpasst ihm eine unannehmbare Wahrhaftigkeit und Gueltigkeit. Indem B. die Hitler zugeschriebene Auffassung, der Rassismus sei ein „in der Geschichte notwendig auftretender Prozess des Ueberlebenswillens einer Rasse und damit schliesslich eines Volkes und der Ausgestaltung der Kulturen“ (S.27), vorbehaltlos gelten laesst, erklimmt er einen weiteren Gipfel seiner Apologetik des NS-Irrationalismus, der NS-Mystifizierung und der insgesamt unhistorischen Betrachtung des NS. Denn B. laesst auch die verheerende Deutsch-Zentriertheit des NS ohne Vorbehalt gelten, die neben dem Rassismus und Antisemitismus eine Hauptsaeule der NS-Ideologie war.

Es soll sich angeblich nicht nur um den „in der Geschichte notwendig auftretenden Prozess des Ueberlebenswillens einer Rasse“ gehandelt haben, sondern auch um „eine Kulturkreistheorie des Rassenkampfes“ als „legitimer Ausdruck des Selbstbehauptungswillens des deutschen Volkes gegenueber aeusserer Zersetzung“ (S.27f.) Woher B. nun die Behauptung holt, „Diese Form von Rassismus“ stuetze „Sich nicht auf den Wert oder Unwert anderer Voelker und Kulturen - [...] – sondern auf die (aktuelle) Bedrohung des eigenen Volkes“, bleibt ein Raetsel. B. findet diese Behauptung durch Rosenberg bestaetigt (Anm.66, S.67f.) Diese Abwegigkeiten sollen „der zweite Teil des Arguments“ sein, das B. Wolters entgegen haelt. Die Identifikation des Verfassers mit der NS-Terminologie rassistisch-antisemitischen Gehalts, die aus dem reinsten Selbsteinreden einer rassistisch begruendeten Vernichtungsgefahr des deutschen Volkes, aus einer paranoiden Einkreisungs- und rassischen wie kulturellen „Zersetzungs“-Psychose hervorgegangenen war, die Unbedenklichkeit, mit der B. irrationale und ausschliesslich von spekulativer Eigenwilligkeit und von Beliebigkeit genaehrte Denk-, Interpretations- und Handlungsmuster der NS-Zeit auffasst, ist erschreckend. Und aus diesen primitiven, diffusen NS-Gedankengaengen will B. ableiten, dass „die Nationalsozialisten kein relativistisches Prinzip vertraten.“ Denn fuer B. gelten der vom vornationalistischen und vom NS-Irrationalismus vertretene „Aspekt des Untergangs einer Rasse durch Rassenmischung“, wie der „sich daraus ergebende Gedanke, dass Rassenmischung »artfremd« ist“- als unumstoessliche Tatsachen. Das ist ein eindeutiges Bekenntnis zum NS-Rassismus eines Hitler, eines Rosenberg, eines Clauss, eines F.K. Guenther „und viele(r) andere(r)“, aber kein „philosphischer“ Diskurs. Ein solcher Identifikations- und Verinnerlichungsgrad des voelkisch-nationalsozialistischen Irrationalismus und des zur Debatte stehenden einschlaegigen Antisemitismusbegriffs kann B. nur zu weiteren Irrationalismen, also zur spekulativen „Entrelativierung“ fuehren.

B. schreibt In der Konsequenz ueber die „Aufgabe, das deutsche Volk zu festigen und dauerhaft widerstandsfaehig gegen fremdrassige Einfluesse zu machen“ ueber “Rassenhygiene“ (S.29). Es folgen lange Zitate aus Kant, insgesamt drei (S.30f.), die B. einsetzt, um abermals entgegen Wolters den Nachweis zu erbringen, dass Kants Universalismus keineswegs „ein Bollwerk“ gegen die nationalsozialistische Weltanschauung“ sein kann (S.31). B. uebersieht dabei, dass die rassistisch geladenen Zitierstellen aus Kant ueberhaupt nichts in seinem Sinne gegen Wolters beweisen, weil sie nicht charakteristisch, also typisch fuer Kants Universalismus sind. Doch dieses eigene, schwerwiegende Argumentationsdefizit macht B. weiter nicht zu schaffen.

Nun gelangt B. an einen anderen Wendepunkt seiner fraglichen Ausfuehrungen. Nachdem er vermeint, den Nachweis erbracht zu haben, dass Kant ueberhaupt nicht universalistisch ist, weil er „niemand gewesen [ist], der die weitverbreitete abfaellige Ueberheblichkeit gegenueber fremden Kulturen und rassischen Ansichten seiner Zeit fuer sich ueberwinden konnte, noch [...] ihnen entegegengetreten“ ist (S.31), glaubt B. Nationalsozialisten wie den Reichspressechef Otto Dietrich, oder Rosenberg als Anhaenger Kants in die Reihe der Philosophen ruecken zu duerfen, weil, und das ist der springende Punkt, es laut B.nicht entscheidend sei, ob Politiker statt der Philosophen philosophieren, denn: „Weshalb sollte der Politiker, der fuer sich in Anspruch nimmt zu philosophieren, dem Philosophen, der philosophiert, nachstehen?“ (Anm.72, S.69).

Eine recht gravierende Konsequenz dieser Ansicht ist, dass durch die bedenkenlose Gleichsetzung von NS-Politikern und Philosophen die ersteren auf Kosten der letzteren ungebuehrlich aufgewertet werden. Es faellt dabei auf, dass damit gerade dem Prinzip Genuege geleistet wird, das typisch fuer die NS-Zustaende und den NS-Geist war, naemlich die beliebige, willkuerliche Aufhebung der in der buergerlichen Gesellschaftsordnung geschichtlich gewachsenen und tradierten wirtschaftlichen, sozialen, politischen und moralischen Bereichsgrenzen. Die allgemeine Politisierung in Form der NS-Ideologie, die Ideologisierung aller Bereiche, selbstverstaendlich auch der Philosophie, fuehrte zu einem sich kontinuierlich vertiefenden Angleichungs- bzw. Gleichschaltungsprozess aller Taetigkeitsfelder. Aus diesem Grunde ist das Unterfangen, eine NS-Philosophie zu erforschen, recht zweifelhaft, vor allem dann, wenn, wie bei B., verzweifelt versucht wird, NS-Politiker bzw. NS-Ideologen zu „Philosophen“ zu kueren, die doch als Spitzenvertreter und Hauptverantwortliche fuer die alles verschlingende NS-Ideologisierung und Politisierung zu gelten haben.

Und B.s Verfahren, das eindeutig auf eine zweifelhafte Rehabilitierung der NS-Ideologie und ihrer Hauptexponenten, vor allem der sogenannten „Politiker“ und „Wissenschaftler“ unter dem Deckmantel angeblicher Philosophen abzielt, wirft ein recht fragwuerdiges Licht auf den Bonner Philosophiebetrieb.

Aus Abschnitt 14 wird ersichtlich, woher B. die auf S. 30f. abgedruckten „rassistischen“ Kant-Zitate bezieht: von "mit dem Thema „Rassenlehre“ befassten Autoren“ wie Lehmann, „Deutsche Klassiker zur Rassenfrage“ (Anm.73, S.70f.). Damit ist ein weiterer Punkt erreicht, der belegt, bis wohin die Verinnerlichung der und die Identifikation B.s mit dem Gedankengut seiner NS-„Philosophen“ geht: er geraet in eine symptomatische Abhaengigkeit von diesen Autoren, indem er deren Versuche, in der vornazistischen Geistesgeschichte rassistisch oder vermeintlich rassistisch gefaerbte Aussagen zu inventarisieren und zu popularisieren auch noch durch vorbehaltlose Bezugnahme honoriert. So soll Guenther „wie auch einige(n) andere(n) mit dem Thema »Rassenlehre« befassten Autoren“ „das Verdienst Kants hervorgehoben“ haben, „dass er die fuer eine Rassenlehre wichtigen Termini (Stamm, Rasse, Art, Abartung, Varietaet etc.) praezisiert hat und die Anthropologie in einen wissenschaftlichen Stand erhoben hat.“ (S.32) B. meint dazu, Kant habe „der Anthropologie den Weg zu einem neuen Paradigma“ geebnet. Nun will er darauf eingehen, „welche Rolle Kant in der Ausgestaltung des neuen Paradigmas einer besonderen deutschen Weltanschauung spielt.“ (S.32) Das moechte B. verbunden wissen mit der in Wolters‘ „Separat-Theorie“ enthaltenen Behauptung, „dass eine als nationalsozialistisch geltende Philosophie eine ahistorische, von jedweder philosophischen Tradition entbundene Weltanschauung sei.“ (S.33)

Zunaechst beruft sich B. auf die 1934 an der Universitaet Koeln formulierte Forderung, „den Geist des neuen Deutschland“ philosophisch zu begruenden (Anm. 75 und S.33). Reichspressechef Dietrich diagnostiziert, dass der „Individualismus“ sich in der Krise befinde. Auch die Philosophie sei in Mitleidenschaft gezogen, weil sie „nicht mehr in der Lage“ sei, „positive Loesungen, eine umfassende und einheitliche Perspektive anzubieten. Obwohl es das beherrschende Thema der Geschichte der Philosophie sei, eine Einheit des Weltganzen zu gewinnen“ (S.34 u. Anm.78). Von Dietrichs Schlussfolgerung, dass „die gesellschaftliche Krise des Individualismus“ auch „die Krise der individualistischen Philosophie“ sei, gelangt B. zum Postulat, es handelte sich eigentlich um die „Krise des Paradigmas“, das den „atomisierten“, d.h. den individualisierten und individualistischen  Menschen zum Bezugszentrum der Lehre gemacht hat (S.34). Laut Dietrich liesse sich von einem so gearteten Bezugszentrum her „nicht erfassen, was das Ganze des Lebens konkret ist [...]“ (S.35 u. Anm.81). Aus der Betrachtung des Einzelnen liesse sich ebenfalls laut Dietrich der Lebenszusammenhang des Menschen nicht erschliessen“ (Ebenda). Dietrich fordert auf, „das Traeumen und Dichten »in Philosophie«“ zu beenden, weil „Einzig die Tatsachen“ auch in der Philosophie das Wort haben muessen. Nun wird die Notwendigkeit der Gemeinschaft angesprochen, auf die sich das Leben zu beziehen habe. Und die Rassen, Voelker und Nationen seien „geschichtliche und materielle Wirklichkeiten“. Da Dietrich ein Propagandist, also ein Ideologe, kein Philosoph war, ueberrascht es nicht, dass er das sogenannte „gemeinschaftsbewusste Denken“ und das sogenannte „oraganische Weltbild“ „universalistisch“ nennt und dem individualistischen Denken und dem „mechanistischen“ Weltbild entgegensetzt (ebenda). Diese Theorie besteht in der blossen Abkoppelung des Universalprinzips vom sogenannten individualistischen Weltbild und vom sogen. „atomisierten“ Menschen, vom Individuum und der willkuerlichen Inbezugstellung zum gemeinschaftsbezogenen NS-Weltbild, das sich auch „organisch“ nannte.

Die Ablehnung des „universalistischen“ Vorstosses von Dietrich durch Rosenberg will B. nicht recht Glauben schenken. Das veranlasst ihn, den Universalismus mit der rassisch-biologischen Auffassung zu verbinden, weil die „eine allgemeine Theorie ueber den Menschen ist“ (S.38). Ebenso universell erscheint B. die Gemeinschaft oder das Volkstum als Bezugsgroesse, womit es durchaus im Einklang steht, „dass jedes Volk seine eigene (Voelkische) Weltanschauung generiert“ (S.39).

B. gelangt nach weiteren Sophismen zum Postulat, „die nationalsozialistische Doktrin des Rassen- und Volkswerts“ sei „nur aufgrund universalistischer Annahmen“ akzeptabel. (S.39) B. illustriert dieses Postulat mit Wundt, „Deutsche Weltanschauung“, dessen dreistufige Antwort auf die Frage, ob „der Gedanke einer voelkischen Wahrheit den Relativismus nach sich“ zieht, B. mit Poppers Drei-Weltenlehre verbindet. Daraus will Verf. ableiten, dass die NS-Weltanschauung ihren spezifischen Zuschnitt „durch eine Komponente“ erhaelt, „die voellig ausserhalb“ der philosophischen Kategorie des Universalismus zu finden ist, naemlich durch den „Rassen- und Volkswert“ (S.40f.). B. meint damit wahrscheinlich, dass der „Rassen- und Volkswert“ ausserhalb des auf Individualismus, auf „Atomisierung des Menschen“ beruhenden, mit Mitteln der Relativierung und Partikularisierung arbeitenden herkoemmlichen Universalismus steht, aber in sich einen eigenen Universalismus, eben den nationalsozialistischen, abgibt. Eigentlich ist daran nichts auszusetzen, denn theoretisch ist alles stimmig. Und niemand stellt in Abrede, dass das deutsche Volk das von Wundt betonte Recht besitzt, sich zu seiner voelkischen Wahrheit zu bekennen (S.41 u. Anm. 100, S.76). Damit ist noch keine Wertung aufgestellt, wodurch sich Wundt doch von der NS-„Komponente“ der „Rassen- und Volkswertung“ grundlegend unterscheidet.

Eben hier liegt der wunde Punkt dieses Boehnigkschen Konstrukts. Der Verfasser moechte den von Nazigroessen wie Dietrich vertretenen umgepolten Universalismus unbedingt belegen, uebersieht aber, dass der durch eine Wertung definierte bzw. durch eine Wertung ermittlete Wert keinesfalls universalistisch, sondern sichtbar und greifbar relativistisch und partikularistisch ist. Und dass Bewertungen, wie geartet sie nun auch seien, ihren Niederschlag in Einstufungen, in Zuweisungen, in Klassifizierungen finden, auf der Grundlage von Erfassungstaetigkeiten wie Messen und Zaehlen, die in der Qantifizierung, also in der quantitativen Ungleichheit ihren Ausdruck finden. Und das kann kein Universalismus sein. Denn das universalistische Prinzip raeumt der Qualitaet, der Gleichheit, nicht der Quantitaet, also der Messbarkeit und Quantifizierung bzw. der Ungleichheit den Vorrang ein. Selbst Stefan Breuer, der sich in der Interpretationsweise des rechten Gedankenguts kaum von der Boehnigks unterscheidet, erkennt, dass die rechte Ideologie „Ordnungen der Ungleichheit“ vertritt (Vgl. sein gleichnamiges Buch). Dass der NS nicht im geringsten universalistisch ist, ist bereits daran sichtbar, dass der NS-Staat bereits vor dem Ausbruch des Weltkrieges ein Uebermass an quantifizierenden und quantifizierbaren Gesetzesregelungen, Bestimmungen, Verordnungen und Taetigkeiten in allen Lebensbereichen durchsetzte, welche NS-Eigentuemlichkeit in der Kriegszeit bis ins Unermessliche anschwoll. Und der Sinn all dieses Quantifizierens – d,h. Erfassens, war kaum die Vorliebe des NS fuer Statistiken aller Art, als vielmehr das Ziel, die ideologisch vorgegebenen Rasterungen der Ungleichheit mit Qantitaeten auszufuellen und, wenn moeglich, weitere Kriterien und Objekte der Ungleichheit zu identifizieren und zu deren Quantifizierung zu schreiten. Auf den NS bezogen ist es sachgerechter, diesem einen „Universalismus der Ungleichheit“ zuzuschreiben. Denn er bemuehte sich in allen Lebensbereichen nicht um das Gleiche, um das Gemeinsame, er hatte an Gemeinsamkeiten keinerlei Interesse, nur an Ungleichheiten, an Unterschieden, und das gemessen an den drei bzw. vier „Saeulen“ der NS-Weltanschauung, an den alleine zugelassenen „Qualitaeten“ der „Rasse“, des „Volkes“, der „Gemeinschaft“ und des „Fuehrertums“, ueber denen allmaechtig herrschend und alles beherrschend die „Ueber-Qualitaet“ des „Deutschseins“ thronte. Alles andere im NS „Gegen-Universalismus“ war abgrundtiefe, schwarze Quantitaet.

Aus seiner wort-woertlichen distanzlosen Rezeption von NS-Texten ergeben sich auch B.s zusammenfassenden Betrachtungen ueber ein „neues Paradigma“, das der NS-Philosophie entsprochen haben soll. Zwar soll mit der „Wahrnehmung dieser Bestandsbedrohung des deutschen Volkes sowie [mit] dem Gedanken einer berechtigten und begruendeten Selbstbehauptung durch den eigenen hohen Rassen- und Volkswert“ der „Boden einer philosophischen Theorie“ verlassen worden sein (S.41), doch es gab „eine Philosophie“, „die als ‚nationalsozialistisch‘ zu gelten hat.“ Dieses kernige Postulat will B. folgendermassen zusammenfassen:

„a) die rassisch-biologische Fundamentaltheorie
b) das Recht der Gemeinschaft im Gegensatz zur Rechtslosigkeit des Individuums
c) die rassen- und erbbiologische Bestandsbedrohung des eigenen Volkes vor dem Hintergrund einer Kulturtheorie
d) die Rassen- und Volkswert-Lehre.“

Kennzeichnend fuer B. und fuer seine distanz- und kritiklose Vorgehensweise ist, dass er die im NS allgemeine Politisierung und Ideologisierung ueberhaupt nicht beruecksichtigt, weshalb er ohne Schwierigkeiten Bereiche als philosophisch auslegen kann, die eigentlich eindeutige Aeusserungsformen des Politischen und des Ideologischen sind.

So verhaelt es sich mit seinen Punkten c) und d). Und weil B. Politisierung und Ideologisierung nicht beachtet, uebersieht er auch die propagandistisch-manipulative Dimension dieser angeblichen Kennzeichen der NS-Philosophie.

B. will sein „neues“ Paradigma als „nationalsozialistisches Paradigma“ verstanden wissen (S.42). Er stellt in Frage, ob er dieses Paradigma mit den vier Elementen a) bis d) vollstaendig beschrieben hat. Und B. haelt an der irrigen Vorstellung fest, diese Bestandteile seien „mit einem (philosophischen) Universalismus voll vertraeglich.“ So nimmt es nicht Wunder, wenn B. weiterhin darauf besteht, „Dass die Nationalsozialisten [...] einen (historischen) Kulturrelativismus vertreten haben, der durch rassische Vorstellungen gestuetzt wird, scheint mir weder anhand expliziter noch impliziter Praemissen belegbar zu sein.“ (S.42) Gewiss ist das alles belegbar und auch belegt, kann aber B. und Gesinnungsgenossen nicht ueberzeugen, weil die diese Belege einfach ignorieren. Und die Hauptursache dafuer ist, dass ihre Vorstellungswelt und Argumentations- bzw. Interpretationsweise

a) auf der gehaltlichen Umpolung und daher interpretativen Umfunktionierung von Begriffen wie Relativismus, Partikularismus und vor allem des Begriffs „Universalismus“ beruht; und
b) aus ihrem expressis verbis-Verstaendnis der NS-Ideologeme beziehen sie die Distanzlosigkeit bis hin zur sichtbaren Identifikation, selbst Verinnerlichung der NS-Terminologie und Sichtweise.

Die durchgehend unkritische Rezeption des NS-Gedankenguts, die Identifikation mit den NS-Ideologemen ergibt sich nicht nur aus der Unfaehigkeit B.s und Gleichgesinnter, an die universalistische Terminologie heranzutreten, sondern auch aus einer sichtbaren Feindseligkeit gegen die universalistische Weltsicht.

B. tut nach der Vorfuehrung seines „nationalsozialistischen Paradigmas“ einen weiteren, auf dem Hintergrund seiner Anteilnahme am NS-Irrationalsimus ueberhaupt nicht ueberraschenden Schritt. Von diesem „Paradigma“ moechte er auf „die dringlichsten wissenschaftlichen Aufgaben der Nationalsozialisten“ schliessen, wie: „Die Erforschung fremdrassischer Einfluesse zwecks Erhalt der eigenen bedrohten Rasse, die wissenschaftliche Optimierung der Rassenhygiene, die kulturwissenschaftliche Bestimmung des deutschen „Wesens“, damit man weiss, wo die Grenze verlaeuft zwischen dem, was zu ihm gehoert und was nicht, der Entwurf eines neuen Menschenbildes sowie die Herausbildung materieller und ideeller Strukturen, um dieses Menschenbild zur Entfaltung zu bringen.“ Und nur von hier liessen sich „die verschiedenen philosophischen Darstellungen und historischen Bezuege zur deutschen philosophischen Tradition einordnen und nachvollziehen.“ Dass dieses Unterfangen mit der spaerlichen Bezugnahme auf einige, ins exklusivistisch-exklusionistische Rassenkonzept des NS passenden Zitate aus Kant nicht gelingt, steht auf der Hand. Doch B. muss die Berechtigung des Forschungsprojekts „Philosophie im Nationalsozialismus“ voran stellen, deshalb seine Behauptung: „Und niemand, dies soll die erste abschliessende These sein, hat die Gestalt des Neuen schaerfer gesehen als die Philosophen, die an dieser Gestaltung mitgewirkt haben.“ (S.43) Das soll ein Zitat aus Krieck, „Voelkisch-politische Anthropologie“ (1936) erhaerten, der die „rassisch-politische Anthropologie“ zur „gemeinsame(n) bestimmenden(n) Grundlage und Wesensmitte saemtlicher Wissenschaften“ erklaert, wodurch „eine einheitliche, ganzheitliche Wissenschaft“ entstuende. „Diese Anthropologie tritt an die Stelle der verbrauchten Philosophie.“ (S.43)

B. verwahrt sich gegen Kriecks Formulierung der „verbrauchten Philosophie“, weil „die meisten Denker“ „Kriecks Auffassung“ nicht geteilt haben sollen, „dass man die Philosophie beseitigen und durch eine Anthropologie ersetzen muesse.“ Doch B. raeumt ein, dass die Anthropologie – sprich der Rassismus – in den philosophischen Betrachtungen in den Mittelpunkt rueckte in Form des NS-Paradigmas (Anm.102, S.77). Dass es sich eigentlich gerade um die Aufloesung der Philosophie als universalistisches Ideensystem und damit als eigenstaendige wissenschaftliche Disziplin handelt, laesst B. wenigstens aus zwei Gruenden nicht gelten: zum einen wuerde er seines Forschungsthemas, der „Philosophie im Nationalsozialismus“ verlustig, zum anderen muesste er dann die ideologische Indienstnahme und Dienstbarmachung der Philosophie durch den NS-Rassismus zugeben. Deshalb soll laut B. die „Anthropologie“, sprich „der Rassismus“, in Form des NS-Paradigmas in den Mittelpunkt der Philosophie gerueckt sein.

Die Befuerworter und Vertreter der wortwoertlichen, distanz- und kritiklosen Rezeption des vor-NS- und des NS-Vokabulars und Gedankenguts, die sich durch absolute Identifikation und Verinnerlichung kennzeichnet, zu denen auch Boehnigk gezaehlt werden muss, ignorieren die Zaesur, welche die dem NS typische, schrankenlose Ideologisierung aller Lebensbereiche darstellt, in erster Linie ueber das, was B. „Anthropologie“ und „NS-Paradigma“ nennt: die bisherige unter verhasstem „universalistischem“ Vorzeichen stehende, strenge Trennung der einzelnen Lebensbereiche wird durch die auf dem Rassenprinzip beruhende NS-Ideologie aufgehoben, alle Bereiche werden in eine chaotische Angleichung und Gleichschaltung gestuerzt. Auf dem Gebiet der Wissenschaften erfolgte ein Ineinanderfliessen einst unabhaengiger Wissenschaften und Forschungsdisziplinen. Die NS-Ideologisierung produzierte zwar das, was in der Wissenschaftsgeschichte gemeinhin als Interdisziplinaritaet bekannt ist, doch diese NS-Interdisziplinaritaet ist dadurch typisch, dass sie sich nicht aus dem unabhaengigen, vor-NS-Wissenschafts- und Forschungsbetrieb entwickelte, sondern das Ergebnis des einebnenden, gleichschaltenden NS-Ideologisierungsaufwandes ist. Dass diese NS-typische „Interdisziplinaritaet“, deren treibenden Kraefte der NS-Rassismus und die NS-Deutschtums- und Volkstumslehre waren, zuweilen auch positive, wertvolle Forschungsergebnisse zeitigte, aendert nichts an der irrationalen Eindimensionalitaet des NS-Forschungsaufkommens, das auch die Philosophie zu einem Anhaengsel der Ideologie und Propaganda verkommen liess. Und Wissenschaftlichkeit ist unter den Bedingungen des einebnenden, gleichschaltenden, nicht differenzierenden, willkuerlich-beliebigen NS-Irrationalismus rassistisch-deutschvoelkischen Inhalts ausgeschlossen.

Der vor-NS Irrationalismus hatte sich einen weiten Freiraum geschaffen, in dem alles gesagt und geschrieben werden konnte und durfte, auch die abstrusesten Ueberlegungen, die eben und gerade im rassistischen und voelkisch-deutschtuemelnden Bereich geaeussert, in einem bluehenden und aggressiven Antisemitismus gipfelten. Der NS steht in nahtloser Kontinuitaet zu diesen irrationalistischen Auswuechsen, nur im Unterschied zur vor-NS-Zeit erfolgte im NS ein grundlegender Umschwung zum Uebelsten: waehrend vor 1933 die irrwitzigsten Rassismen und Nationalismen (Germanomanie, Manie der nordischen Rasse, Antisemitismus, Rassenlehre, Deutschzentrismus etc.) ungehindert geaeussert und z.T. ausgelebt werden konnten, erhob der NS diesen irrationalistischen Aber- und Irrwitz zur Staats- und Volksdoktrin, die schliesslich in einem expansionistischen, auf Voelkervernichtung ausgerichteten Staatssystem ihre makabren Triumphe feierte.

Auf dem Hintergrund beliebiger Irrationalitaet des rassistisch-voelkischen Schrifttums bis 1933 und des NS-Schrifttums bis 1945 darf das hier verbreitete Gedankengut nicht als wissenschaftlich gelten, selbst wenn seine Verfasser und Verfechter vermeinten, „Wissenschaft“ zu betreiben und „hochwissenschaftliche“ Erkenntnisse niederzulegen. Wissenschaftlichkeit misst sich bekanntlich weder an dem „Wissenschaftler“-Image eines Autors, das der damaligen Oeffentlichkeit des Dritten reiches aufoktroyiert wurde, noch an Inhalten, welche von eben diesen Autoren und der damaligen manipulierten Oeffentlichkeit fuer „wissenschaftlich“ gehalten wurden. Schon deshalb nicht, weil es sich in der Hauptsache um Material handelt, das aus willkuerlicher Irrationalitaet entstand und ueber das Niveau primitiver Ideologie und Ideologisierung selten hinausgeht.

B. beruft sich zurecht auf Vorlaeufer des NS-Gedankengutes, doch dass das von ihm definierte „NS-Paradigma“ bereits vor dem NS funktionierte – diesem Zeitabschnitt soll die sogenannte „vorrevolutionaere“ Phase entsprechen – (S.43), ist zu bezweifeln. Wenn schon von einem NS-Paradigma gesprochen wird, dann kann nur eine Diskussion der NS-Politisierung und NS-Ideologisierung als Kernmomente dieses Paradigmas Sinn machen. Weil das die eigentlichen Kraefte waren, die das bis 1933 zustande gekommene rassistisch-deutschvoelkische Ideenkonglomerat zu einem monolithischen ideologischen Ungeheuer zusammenschweissten.

Auch die vorbehaltlose Verwendung des Begriffs „revolutionaer“ fuer die NS-Episode (S.43) ist bedenklich. „Revolution“ im ueberkommenen Sinn impliziert einen grundlegenden Veraenderungsprozess in freiheitlichem, also in positivem Sinn, was auf die NS-„Revolution“ nicht zutrifft. Zwar fuehrten die Nationalsozialisten das Wort des „Aufbaus“ oder „Neuaufbaus“ staendig auf den Lippen, aber neu im positiven Sinn kann weder die Reduktion aller menschlichen Werte auf die Rasse, auf das Volkstum, auf das Deutschtum und auf das Fuehrer- und Gefolgschaftsprinzip, noch die darauf beruhende und daraus folgende systematische Politisierung und Ideologisierung aller Lebensbereiche gelten, noch die daraus folgende Abdraengung, Ausschaltung und Vernichtung unliebsamer Minderheiten, auch nicht die allgemeine Gleichschaltung, und am entferntesten die Zertruemmerung eigenstaendiger wissenschaftlicher Disziplinen.

Kann die erschreckende Einengung aller menschlichen Taetigkeit, deren Ab- und Ausrichtung allein auf rassistische, voelkische, deutschnationale, Fuehrer- und Gefolgschaftsziele als effektive „Neuerung“ gelten? Was ist bei einem System „revolutionaer“, das die pluralistische Vielfalt einer pulsierenden buergerlich-liberalen Welt zur rassistischen, voelkischen, deutschzentrierten, dem Fuehrer- und Gefolgschaftsgeist zurechtgeschnittenen Einoede reduzierte? Wo liegt denn die Bereicherung, vor allem die menschliche, die diese angebliche „Revolution“ darstellte? Weil dieser NS-„Revolution“ ueberhaupt nichts Positives abzugewinnen ist, weil sie dem Fortschritt in keiner Weise diente, ist es zutreffender, von der NS-Involution, d.h. vom NS-Rueckschritt zu sprechen.

Solche Ueberlegungen liegen einem Apologeten wie Boehnigk meilenfern, weil er die NS-Floskeln als solche verstanden wissen will, ohne die sich dahinter verbergenden, eigentlichen geistesgeschichtlichen Urspruenge und Intentionen ihrer Verfechter zu hinterfragen. Fuer B. und Gleichgesinnte sind das NS-Vokabular und die NS-Ideologie absolute Groessen; sie fassen sie auf und behandeln sie in einer Absolutheit, die darauf schliessen laesst, dass fuer sie alles Irrationale, also die Irrationalitaet, die NS-Irrationalitaet inbegriffen, absolut, also unantast- und unanfechtbar ist. Solche Praemissen koennen nur zu problematischen Gedankengaengen wie die B.s fuehren.

Ebenso fragwuerdig, ja kurios ist, dass B. den gebuendelten deutschen Irrationalismus in der Person von „Antidemokraten und –liberalisten, Rassisten, Blut- und Bodendenker(n), Deutsch- und Volkstuemler(n), Kriegssuechtige(n) und Futuristen“ zu „Vorrevolutionaeren“ macht, die nach der Machtergreifung eben als „Vorrevolutionaere“ ihre Schuldigkeit getan haben sollen. Das soll auch B.s „letzte These“ sein, mit der „die hier vertretene Auffassung eng zusammen(haengt)“, „dass immer weniger dafuer spricht, dass es von irgendeinem historischen Datum an einen kumulativen, ideengeschichtlichen Prozess gibt, der – als deutsches Sonderbewusstsein – bis in die nationalsozialistische Diktatur gefuehrt hat.“ (S. 44) Hier erreicht B. den Hoehepunkt an Widerspruechlichkeit: unabhaengig davon, ob man „deutsches Sonderbewusstsein“ mit irgendeinem historischen Entstehungsdatum verbindet oder nicht, gelten die bisherigen Ausfuehrungen B.s doch gerade diesem „deutschen Sonderbwusstsein“ in seiner philosophischer Auspraegung in der vor- und in der NS-Zeit.

Zwar unternimmt B. den verzweifelten, gar nicht ueberzeugenden, weil sophistisch kraenkelnden Versuch, vermittels des sogenannten „nationalsozialistischen Paradigmas“ der NS-Philosophie und dem NS Universalismus nachzuweisen, auch anhand ganz untypischer Aeusserungen des Universalisten Kant ueber Rassen und Voelker. Nun verneint B., dass es Irrationalismus vor dem NS gab und dass dieser Irrationalismus als Wegbereiter des NS zu gelten hat. Anders ausgedrueckt: B. beruft sich in seinen Ausfuehrungen durchgaengig und ausgiebig auf Vertreter des voelkisch-rassistischen Irrationalismus vor 1933, die nun nichts mit dem „deutschen Sonderbewusstsein“ zu schaffen haben sollen. Selbst B.s „nationalsozialistisches Paradigma“ ist doch weiter nichts, als eine Zusammenfassung dieses Irrationalismus unter der Benennung der irrationalistischen Kernpunkte.

B. scheint sich der sichtbaren Kontinuitaet des deutschen Irrationalismus sehr wohl bewusst zu sein, deshalb seine Unterstreichung, „die hier vorgetragene Auffassung eines Paradigmenwechsels“ habe sonst keinen Sinn (S.44). Wenn es nun einen tatsaechlichen Paradigmenwechsel zwischen dem vornationalsozialistischen und dem NS-Irrationalismus gab, warum fuehrt B. ueber den Vorgaenger des „NS-Paradigmas“ nichts Konkretes aus, warum stellt er ihn in seinen Bestandteilen nicht vor? Das spricht dafuer, dass B. die Kontinuitaet von vornationalsozialistischem Irrationalismus zu NS-Irrationalismus nicht offen zugeben will. Eine Konsequenz davon ist seine recht willkuerliche Betrachtungsweise des „anthropologischen“ Irrationalismus und sein Anspruch, in seiner Schrift „programmatische Bemerkungen ueber die nationalsozialistische Philosophie“ niedergelegt zu haben.

Auf der Ebene der Wissenschaftsgeschichte ergibt sich aus B.s Betrachtungen und Postulaten, dass er sowohl dem NS als politisches Phaenomen, wie auch der NS-Wissenschaft als Teil des NS-Gedankenhorizontes eine Sonderstellung einraeumt. Das entspricht der Exquisit-Behandlung, welche der NS hier durch B. erfaehrt. Weil Verf. sich in der Wort-Woertlichkeit der NS-Lehre problemlos bewegt, billigt er dem NS, auch der NS-„Wissenschaft“ und dem NS-Wissenschaftlichkeitsbegriff den Eigenanspruch zu, einen effektiven, „revolutionaeren“ Neuanfang in allen Lebensbereichen darzustellen. B. betont, „den Zugang zur nationalsozialistischen Gedankenwelt“ zu besitzen, im Gegensatz zu denen, die sich diesen „Zugang“ „schon von vornherein einseitig – durch die Rezeption bestimmter Autoren –„ „verstellen“ (Anm.106, S.78). Es entgeht ihm dabei, dass es keinesfalls einer „Rezeption bestimmter Autoren“ bedarf, um in die „Suende“ zu verfallen, die B. abqualifizierend „„das sich Verstellen des „Zugang(s) zur nationalsozialistischen Gedankenwelt““ nennt, weil es durchaus moeglich ist, unabhaengig, zumal dann, wenn man mit Mitteln des Rationalismus versehen ist, den sachgerechten, objektbezogenen „Zugang“ zu erlangen. D.h., das NS-Phaenomen ganzheitlich erfassen und ebenso ganzheitlich interpretieren, also das tun, was B. versaeumt.

B.s Auslegungsweise kommt insgesamt zu kurz, weil er, was zwar zu begruessen ist, den „Zugang“ zum NS von innen her vorzunehmen gedenkt, doch nur bestimmte Momente zum sogenannten „NS-Paradigma“ zusammenfasst. Den zweiten, entscheidenden Schritt, die Distanznahme, die Objektivierung hin zur Kritik, den tut er nicht.


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Text verfasst: 13.-20.12.2001  Datei: Ideologie1.html       Erstellt: 27.02.2002      Geaendert: 20.04.2004   Autor und © Klaus Popa


 
 
 
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