Sie leben mitten unter uns.
Wir sehen sie auf dem Bürgersteig, wo sie
zwischen den Passanten auf die Knie gehen und, Nase
am Boden, die Fugen zwischen den Betonplatten
inspizieren. Es sind jene Wesen, die sich auf einer
Autoeinfahrt verstohlen Kies in den Mund stopfen,
um den Geschmack zu prüfen. Sie zerrupfen
Spinnen, statt zum Abendessen zu kommen, sie
wälzen sich schreiend am Boden, wenn jemand
versucht, sie daran zu hindern, in Wasserlachen zu
springen, um die Verdrängung der Materie zu
testen. Und nehmen dabei keinerlei Rücksicht
auf den Preis der neuen Schuhe. Die Rede ist von
Kindern.
Kinder sind
ermahnungsresistent, wenn sie die Welt erforschen.
Sie sind besessene, rücksichtslose Entdecker
oder, wie die Kinderforscherin Donata Elschenbroich
mit kleiner Verbeugung in ihrem Buch über das
Weltwissen der Siebenjährigen schreibt:
"hochtourige Lerner". Ihr Untertitel verrät,
dass es in diesem Buch nicht nur um freundliche
Beobachtungen geht: Wie Kinder die Welt
entdecken können, das klingt nach
Ratgeber, verspricht Vorschläge für die
aufregenden Exkursionen der kleinen Abenteurer auf
einen weißen Kontinent - und lässt so
anklingen, dass wir, die Eltern der Kinder,
Erzieher, Lehrer, ein wenig Nachhilfe in dieser
Sache gut gebrauchen können.
Donata Elschenbroich, Mitglied
des Münchner Jugend-Instituts, beschreibt
einen Skandal.
Sie sieht eine
Nachlässigkeit in unserem Umgang mit dem
Wissensdurst der kleinen Kinder, gut möglich,
dass ihr Buch, das im November 2001 in die
Buchhandlungen gekommen ist, selber als Skandal
wahrgenommen wird. Versucht die Wissenschaftlerin
doch in höflichen Worten einen Kanon
vorzustellen, der im Detail auflistet, was Kinder
erfahren und gelernt haben sollten - nicht erst in
der Schule, sondern schon vorher, in den wichtigen
Jahren zwischen Krabbeln und Einschulung. Ein
Kanon!
Beispiel: Zwei Sternenbilder
kennen. Etwas repariert haben. Ein chinesisches
Zeichen schreiben können. Mehrere Tage im Wald
verbracht haben. In einen Bach gefallen sein. Einen
Erwachsenen belehrt haben. Zwei Essen kochen
können. Ein Gedicht von Puschkin
aufsagen ...
Wie bitte? Puschkin? Na, dann
eben Hölderlin. Und bitte auch drei
Rätsel und ein Lied in Ausländisch und
auch sonst noch viel mehr, seitenlang (Ausschnitte
aus der Liste siehe im Anschluss).
Es ist eine Denkübung,
ein Spiel, das Kapitel für Kapitel aufgenommen
und weitergedreht wird. Leichthändig, aber
nicht ohne Ernst. Mit Grund! Denken wir
darüber nach, was unsere Kinder lernen
sollten, so denken wir über nichts weniger als
über die Zukunft nach. Wie soll die Welt sein,
in die unsere Kinder hineinwachsen, ist dann zu
fragen, und wie müssen wir die Kleinen
ausstatten, damit sie sich später darin
einrichten können? Es geht Donata
Elschenbroich darum, welches Bild vom Kind wir
haben. Besser gesagt: Es geht ihr darum, mit uns
ein Bild vom Kind zu entwickeln. Was sollten Kinder
beherrschen, um diese Zukunft, über unsere
Visionen hinaus, zu formen, bitte, dann nach ihren
eigenen Wünschen? Solche Fragen reißen
ein erschreckend weites Feld auf. Mag sein, dass
dies der Grund ist, warum viele sich solche Fragen
am liebsten gar nicht stellen, die Eltern, die zu
erledigt sind vom anstrengenden Alltag, die
gestressten Erzieher oder gar die Politiker, die
das Wort Zukunft gerne mit Wahlperiode
verwechseln.
Weit über die Hälfte
aller Eltern, so berichtet Elschenbroich,
kümmert sich nicht gezielt um
Bildungserfahrungen ihrer Kinder in jenen Jahren,
die Entwicklunspsychologen für die
entscheidenden halten. Keine Kunst, keine Musik.
Nie einen Nagel eingeschlagen. Und dann ist sie
auch schon vorbei, die kostbare Zeit der ersten
Jahre.
Kindergarten, Vorschule,
Einschulung. Nun wird die frühe Wildheit in
Form gebracht. Kinder, die noch gestern rasend wie
Fauvisten malten, sieht man jetzt nicht selten
Entchenschablonen umschnippeln. Konnte man sie als
Zweijährige kaum hindern, Tante Ottis
Handtasche auf der Suche nach Neuem
umzustülpen, sich von hohen Mauern zu
stürzen oder auf schwankende Bäume
emporzuklettern, trotten sie nun in vielen
deutschen Kindergärten Tag für Tag zur
Sandkiste und spielen, was Erzieherinnen nicht
selten am liebsten ist, mit Sand und nichts als
Sand.
Singen? Neue Spiele lernen?
Alte Spiele, die man früher noch auf der
Straße hüpfte? Mit solche
Vorschlägen laufen engagierte Eltern
häufig schmerzhaft auf. Womöglich schon
ein bisschen Englisch üben, wie es die
Hirnforschung heute empfiehlt? Oder gar ein kleiner
Physikversuch? Oh, das sind gefährliche
Anstöße in einem Land, in dem zwar
Eltern gerne abgewatscht werden, weil sie die Brut
angeblich vor der Glotze parken und Medien
höhnisch vom verzweifelten Kampf der angeblich
Erziehungsberechtigten gegen den
Pokémon-Schrott und Diggimon-Plastikmonstern
berichten. Aber doch auch nichts so sehr Verdacht
erregt wie der ach so falsche Ehrgeiz von Mama oder
Papa, das Kind möge in seiner Kindheit etwa
Sinnvolles tun!
Ein Dogma der deutschen
Kindergartenkultur heißt "Freispiel". Das
bedeutet, dass Kinder sich am besten frei vom
Einfluss der Erwachsenen entfalten, dass alles im
Spiel und "nur aus den Kindern" komme. Das wird
gerne ganz fundamentalistisch vertreten, na, da
muss man am Elternabend wenigstens keine
unangenehmen Fragen befürchten wie die, was
eigentlich gemeint ist, wenn im Kindergartengesetz
etwas vom Bildungsauftrag steht.
Ja, was könnte gemeint
sein? An diesem Punkt setzt Elschenbroich ein. Sie
bemerkt, dass die Frühpädagogik in
Deutschland noch in den allerersten Kinderschuhen
steckt. Elschenbroich hat sich in der Welt
umgesehen, in England, wo die Denkmuster der Kinder
in Early Excellency Centres erforscht und
wissenschaftlich begleitet und befördert
werden, wo in diesen Tagen eine Initiative Sure
Start lanciert wurde, die Eltern der Kleinsten mit
in Fördermaßnahmen einbezieht. Es sind
Mustereinrichtungen innovativer Pädagogik wie
jene Kindergärten in der Reggio Emilia,
Italien, wo jedes Kind seine Staffelei hat und von
Künstlern unterrichtet wird.
Elschenbroich war in Japan, wo
Kindergärtnerinnen den gleichen Status haben
wie Professoren (während sie in Amerika
niedriger bezahlt werden als Parkwächter). Sie
hat Ungarn bereist, wo ein Kindergartenkind in den
ersten eineinhalb Jahren schon über 60 Lieder
gelernt hat, weil die Ungarn schon lange wissen,
was in Deutschland mittlerweile durch zwei
umfassende Studien belegt ist, dass das Ohr, die
Feinmotorik, das tiefe Luftholen sowie die
Schwingungen zwischen den Menschen durch nichts so
sehr gefördert werden wie durch
Musik.
(weiterlesen
nächste Spalte oben...)
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Ein deutsches Menschlein wird
erwartungsgemäß 4000 wache Stunden
seiner Kindheit im Kindergarten verbringen, worauf
es seit 1996 ein juristisch verbrieftes "Recht" hat
- aber welche Erfahrungen wird es da machen? Das
Kindergartengesetz entstand aus der Diskussion um
die Legalisierung der Abtreibung, viel Hirnschmalz
wurde auf die Frage verwendet, wie
Öffnungszeiten sein müssen, um die
Berufstätigkeit einer Mutter zu
ermöglichen. Von 8 bis 18 Uhr? Reicht 14 Uhr?
Für die Stunden dazwischen fehlen weitgehend
die Konzepte, und so hat Donata Elschenbroich in
ihrem Buch einfach mal die Diskussion
eröffnet: in 150 Gesprächen mit
Erfindern, Grundschuldidaktikern, Großeltern,
Physikern, Teenies, Eltern, Medizinsoziologen oder
Spielpädagogen überlegt, was zu tun
wäre. Diese Gespräche bilden, in
Auszügen, das Rückgrat des Buches. Sie
sind Resümee eines Forschungsprojektes, das in
den Jahren 1996 bis 1999 mit Mitteln des
Bundesministeriums für Bildung und Forschung
gefördert wurde.
Kinder, gibt da Rolf Oerter,
Entwicklungspsychologe an der Universität
München, zu bedenken, stünden den
Erwachsenen keineswegs in Denkfähigkeit nach,
höchstens in der Masse des erworbenen Wissens.
Artur Fischer, Erfinder von
Konstruktionsbaukästen für Schüler,
überlegt, ob Eltern nicht ein wenig Angst
zeigten, ihre Kinder könnten sie zu viel
fragen. "Was als kindgemäß angesehen
wird, das ist oft unterfordernd", sagt der
Grundschuldidaktiker Wolfgang Einsiedler. Nur
Zulassen oder Entwicklung ermöglichen, das sei
nicht genug: Entwicklungsstimulierend müsse
der Umgang mit Kindern sein!
Die Leiterin der
Kinder-Akademie Fulda, Gabriele König,
berichtet von wundervollen Erlebnissen, die Kinder
im Unterricht durch Experten hätten,
Handwerker, Wissenschaftler, Künstler: "Die
Kinder erfahren die Aura von
Meisterschaft."
Elschenbroich fragt
vorsichtig: "Was wir nicht tun, ist das eine
Unterlassung, ist das
Vernachlässigung?"
Fragen, vortasten,
versuchshalber erwägen, den Horizont
umkreisen. Die Tonart des Buches ist die der
Vorsicht, des Zubedenkengebens. Weshalb das
Fragezeichen geradezu inflationäre Verwendung
findet. Ist es genug, nach den Ferien in der
Kleingruppe über das Reisen zu plaudern, oder
sollten, wie Wolfgang Einsiedler meint, handfeste
Mitbringsel auf den Tisch, vielleicht der
Grundstock für eine Steinsammlung, die dann
naturkundlich studiert wird? Gibt es nicht schon zu
viele Kuschelecken in den Kindergärten,
wäre es nicht angebracht, mal ein Herbarium
anzulegen? Sollte ein Kind am Einschultag schon ein
Lied in einer fremden Sprache singen
können?
Die Leser beobachten
Flugübungen von Experten über ungewissem
Terrain. Für manchen Geschmack bewegt sich die
Diskussion vielleicht zu sehr in den Wolken.
Landungen in der Realität des Alltags sind
dann hart. In einer wohl situierten Zone zwischen
Frankfurt und Darmstadt, berichtet Elschenbroich,
stellte eine Lehrerin fest, dass Kinder gerade mal
drei Obstsorten benennen können: Äpfel,
Bananen, Orangen. An solchen Punkten bricht -
endlich, möchte man sagen - auch mal
handfester Ärger durch. Elschenbroich
schreibt: "Das ist Kinderarmut in Deutschland,
relative Kinderarmut, nicht auf den ersten Blick
kulturelle Unterernährung. Zu den Tafeln der
globalisierten Alltagskultur nicht vorgelassene
Kinder."
Fehlende Bildungserlebnisse.
Nicht gestillter Bildungshunger. Dies ist kein
Bericht über die deprivierten Kindheitszonen
in Sanierungsgebieten. "Bewahrpädagogik" kann
sich auch in den großen Kinderzimmern der
Vorstadtvillen abspielen. Von der Infantilisierung
des Umgangs mit Kindern ist die Rede, davon, wie
junge Menschen mit Heißa und Hopsasa
gelangweilt werden. Und vielleicht gerät
manchmal bei allen freundlichen Erwägungen zu
sehr in den Hintergrund, was Elschenbroich
eigentlich ausloten will: "Wie der ,Ruck' von einer
wissensfreien Kindheit zu einem interessanteren und
abenteuerlichen Bildungsmilieu aussehen
könnte."
Wir treffen zwei strahlend
wissbegierige Geschwister und müssen
miterleben, wie sich die Schule als Bremsklotz
für ihren Wissensdrang erweist, das ergibt
traurige Beispiele von Kinderneugier, die sich in
Ermattung, Enttäuschung, Resignation
verwandelt. Der Bildungsweg wird da zur
"Pflichtstrecke", auf die ein Kind gezwungen wird,
um es endlich, hier zitiert Elschenbroich den
italienischen Schriftsteller Giorgio Manganelli,
"auf eine schwer fassbare Weise verletzt zu
verlassen".
Es kann nicht als Entlastung
empfunden werden, wie Emanuel Weinert, ehemals
Direktor des Max-Planck-Instituts für
Psychologische Forschung im Gespräch mit
Elschenbroich anführt, dass vielleicht 90
Prozent der Erziehung in den ersten Lebensjahren
einfach durch das geschieht, was in der Welt des
Kindes da ist. Denn die Umwelt der Kinder sind ja
wir. Und was wir, die Eltern, die Kommune, die
Gesellschaft, ihnen an Umwelt bieten. Da stellen
sich unangenehme Fragen, gerade auch für die
Eltern.
Leben wir mit unseren Kindern
an Orten, an denen es gut ist, ein Kind zu sein?
Was ist überhaupt ein Zuhause in unseren
flexiblen Zeiten, fragt Elschenbroich: "Kann man
Kindern zu einem postmodernen Heimatgefühl
verhelfen, kann man ihnen ein fliegendes Nest
flechten?", und sie drückt damit keineswegs
auf die Tränendrüsen: "Die
Fähigkeit, sich selbst einen umfriedeten Raum
zu schaffen, seine Heimat selbst erfinden zu
können, würde so zu einem Teil des
Weltwissens von Kindern", schlägt sie mutig
vor.
Heimat als Flöte
üben. Oder: Mit sich allein im Lesesessel. Ist
das genug?
Nachbarschaft als die Leute
von einem Stockwerk drüber oder drunter. Und
die alte Frau, die ein paar Straßen weiter
wohnt, gehört schon nicht mehr dazu, weil der
Parcours über Fahrradwege und durch rasende
Autos lebensgefährlich ist, weshalb
womöglich alle Kinder die Geschichten aus
Bullerbü so lieben (und die Eltern sie so
gerne vorlesen). Was in Bullerbü auf
fiktionaler Ebene vorgelegt wird, ist ja dies: dass
Wissen, als Wissen von der Welt, nur als
ganzkörperlicher Austausch erfahren werden
kann. Wenn man in den Bach fällt. Oder mit dem
Fahrrad in den Zaun rast. Wenn man sich bei der
alten Frau nebenan mal von seinen Eltern ausruhen
kann, neben dem Ofen, mit Plätzchengeschmack
auf der Zunge.
Nun, dies ist ein Buch, dessen
Lektüre zu zwanghaften Handlungen
verführen kann:
Wenn man auf der letzten Seite
angekommen ist, möchte man sofort die Autorin
anrufen, um das Gespräch mit ihr weiter und
weiter zu führen, so viele Fragezeichen stehen
ja noch im Raum.
Man überlegt, wie man die
Entbindungsstationen der städtischen
Krankenhäuser überreden könnte,
jeweils ein Exemplar in die obligate Tüte mit
den Penaten-Pröbchen zu stecken, als
Pflegeartikel zur guten Elternschaft.
Und man fragt sich, ob man
selber wirklich alles getan hat, damit die Kinder
die Flügel ausbreiten.
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