VINCENT WAR NICHT VERRÜCKT

Zum 150. Geburtstag van Goghs

Stefan Koldehoff im Gespräch mit Julia Lüke (wdr, 29.03.2003)

Vincent van Gogh - jeder kennt ihn. Und jeder verbindet mit ihm bestimmte Geschichten: Der einsame Künstler, der zu Lebzeiten nur ein Bild verkaufte, der Verrückte, der sich ein Ohr abschnitt und schließlich Selbstmord beging. Zum 150. Geburtstag des Malers räumt ein neues Buch nun mit den Legenden auf.

wdr.de: Mythos statt Wirklichkeit, so der Untertitel des Buches. Sie wollen damit den Menschen van Gogh hervorheben. Woher rührt ihr persönliches Interesse an dem Malergenie?

Stefan Koldehoff: Das ist völlig banal. Ich bin mit 18 das erste Mal in Südfrankreich gewesen, und hab dort unten in Arles und in Saint-Rémy, also an den Orten, an denen van Gogh gelebt und gearbeitet hat, voller Verzauberung festgestellt, dass es dort ja tatsächlich so aussieht wie auf seinen Bildern dargestellt: Das Licht ist nicht übertrieben, die Topografie ist größtenteils noch zu erkennen. Das hat mich sehr fasziniert und seitdem hab ich begonnen, mich für Vincent van Gogh zu interessieren.

Der Malermythos hält sich standhaft

wdr.de: Sie haben rund sechs Jahre für dieses Buch recherchiert: mit Forschern gesprochen, den Nachlass nach Briefen durchforstet, Rechnungen, Zeitungsberichte oder auch Krankenakten aus der Zeit verglichen. Eigentlich genug Material, um die Legenden schon früher zu widerlegen: Wie kommt es, dass sich trotzdem der Maler-Mythos so standhaft hält?

Stefan Koldehoff: Ich glaube, das hat mehrere Gründe: Dieser Mythos ist einfach so wunderschön, dass man sich ja kaum traut, daran zu kratzen. Ich hab mir auch schon verschiedentlich die Frage anhören müssen: "Haben sie denn kein schlechtes Gewissen, dass sie da unser wunderbares, romantisches van Gogh-Bild kaputt machen?" Man möchte es vielleicht gar nicht, weil es doch so schön ist, dass der heute teuerste Maler aller Zeiten (135 Millionen Mark für ein Gemälde) zu Lebzeiten eigentlich völlig verkannt war, selbst überhaupt kein Interesse am Erfolg gehabt haben soll und sich dann auch noch erst das Ohr abschneidet und sich schließlich selbst umbringt.

Der zweite Punkt ist der, dass offensichtlich unsere Kollegen Schriftsteller, Journalisten, Kunstkritiker in den letzten 80, 90 Jahren sehr bequem gewesen sind. Es lässt sich sehr gut nachvollziehen, wenn man in Büchern über van Gogh nachliest seit der Jahrhundertwende, wie da der eine von anderen abgeschrieben hat und wie diese Legenden und Mythen, die irgendjemand aufbringt und die dann verstärkt werden, bis sich so etwas dann schließlich in den Köpfen festgesetzt hat.

Ein weiterer Grund: Anfang des Jahrhunderts findet alles nur über die Schrift statt. Es gibt Artikel, es gibt Bücher über van Gogh. 1956 aber kommt dann der berühmte Film mit Kirk Douglas als Vincent van Gogh und Anthony Quinn als Paul Gauguin ins Fernsehen. Und spätestens ab diesem Moment, da bekommt der Mythos Bilder. Bilder, die sich ins kollektive Bildergedächtnis eingegraben haben: Seitdem glauben wir ja alle dabei gewesen zu sein, als sich van Gogh das Ohr abschnitt, als er in wildem Taumel vor der Leinwand steht, als er sich dann schließlich in wogendem Kornfeld selbst erschießt - gegen so etwas anzuarbeiten ist natürlich auch nicht ganz einfach.

wdr.de: Sie widerlegen in Ihrem Buch ein Dutzend Legenden über den Maler: Welches ist die hartnäckigste, welche die ihrer Meinung nach absurdeste?

Stefan Koldehoff: Wenn man heute in die Bibliothek geht und dort drei Bände heraus greift, dann sind die ersten drei Sätze über van Gogh jeweils: "Er hat zu Lebzeiten nur ein Bild verkauft", "Er hat sich das Ohr abgeschnitten" und "Er ist wahnsinnig geworden". Ich finde fast noch schöner die Vorstellung, er soll mit Kerzen auf dem Strohhut gemalt haben. Das ist eine so absurde Vorstellung - übrigens auch entstanden in dem Film von 1956. Das würd' ich gern selbst mal ausprobieren.

"Nehmt ihn doch bitte wieder als Künstler ernst!"

wdr.de: Julius Meyer, Kunstschriftsteller und erster Van Gogh-Biograf, schürte die Legendenbildung in seinen Werken - nicht zuletzt aus Marketinggründen. Der Wert von van Goghs Bildern schnellte so bereits kurz nach seinem Tod in die Höhe. Wenn dieser Mythos nun "verschwindet", sinkt dann van Goghs Marktwert?

Stefan Koldehoff: Nein, nein! Das alles ändert ja überhaupt nichts an der enormen, an der exorbitanten Qualität, die van Goghs Werke nach wie vor haben. Und wer wäre ich kleiner Kunstschriftsteller, dass ich den großen van Gogh vom Podest stoßen könnte, das will ich auch überhaupt nicht!
Mir ging es nur drum, darauf hinzuweisen: Nehmt ihn doch bitte wieder als Künstler ernst. Leitet nicht seine gesamte Kunst aus einem Leben ab, das überhaupt nicht so war, wie es immer dargestellt wird. Dass er Bilder aus eigener Kraft geschaffen hat, um seine Motive gerungen hat, dass er nicht genialisch mal eben etwas auf die Leinwand hingeworfen hat, sondern - wie man auf Röntgenbildern sieht - mit Dutzenden von Vorzeichnungen gearbeitet hat, seine Motive immer wieder verändert hat.

Ein Wunsch zum 150. Geburtstag

wdr.de: "Menschen wie er sterben nicht ganz. Er hinterlässt einen Körper von Bildern, der Teil von ihm ist, und der eines Tages [...] dafür sorgt, dass sein Leben für die Ewigkeit wieder leben wird." Das sagte ein Kritiker in seiner Beileidsbekundung zum Tod von Vincent van Gogh am 30.03.1853. Gibt es so etwas wie einen Wunsch, den Sie zum 150. Geburtstag für den Künstler haben?

Stefan Koldehoff: Dass er durch seine Arbeit unsterblich geworden ist, muss man ihm nicht mehr wünschen, das hat er längst erreicht. Was man ihm wünschen kann ist, dass man anerkennt, welche große intellektuelle Leistung hinter seiner Kunst steckt. Und dass es eben kein Zufallsprodukt und nicht das Glück eines Wahnsinnigen gewesen ist, sondern tatsächlich Anstrengung, harte Arbeit und Selbstschulung.