Die verschwundenen Mädchen
Cuba no es libre

Auf Havannas Straßen greift die Polizei willkürlich zu. Es gibt da ein Problem", sagt Carlito - der kleine Carl. Er zieht an einer Zigarre und dreht seinen Kopf so schnell und kräftig, dass es knackt im Genick. "Wenn wir in die Revision gehen, fordert die Staatsanwaltschaft zwei Jahre." - "Aber das Urteil, das wir anfechten, lautet nur ein Jahr", antworte ich. "Glaub mir", sagt Carlito. Das zentimeterkurze Haar des jungen Rechtsanwalts schimmert silbergrau. Er hat bei einsachtzig wenigstens zwanzig Kilo Übergewicht, und an den Fingern trägt er goldene Ringe mit glitzernden Steinen darauf. Obwohl ich ihn gerade erst kennen gelernt habe, glaube ich ihm. Carlitos Mutter schiebt mir ein Tässchen süßen Kaffee hin. Ich sei in ihrer Wohnung, die sie mit Carlito und seiner dritten Ehefrau teilt, willkommen wie ein Sohn, sagt sie. Zum Kaffee rauche ich eine von Carlitos dicken Zigarre der Marke Trinidad. "Geschenk eines Klienten", erklärt Carlitos Mutter. Sie ist Geschichtsprofessorin an der Universität von Havanna. Klebeband hält ihre Brille in der Mitte zusammen, ein oberer Schneidezahn fehlt. Wenn Carlito redet, begleitet sie seine Worte mit passendem Gesichtsausdruck. "Zwei Jahre", sagt Carlito noch einmal, "als eine Art Strafe dafür, in die Revision gegangen zu sein. Deswegen ist die zweite Verhandlung gefährlich. Aber mach dir keine Sorgen", sagt Carlito und fährt flüsternd fort, "ich kenn den Ehemann der Staatsanwältin. Ein Freund von mir. Gegen ein kleines Geschenk bleibt die Anklage bei einem Jahr." "Geschenk?" frage ich. "Wie viel hast du hier?" fragt Carlito. "Sechshundert Dollar." "Gib her", sagt er. "Fünfhundert für die Staatsanwältin. Das reicht. Und hundert für mich."

[Anmerkung Dikigoros: Ihr seid empört, liebe juristisch-halbgebildete Leser, die Ihr - wie unser ostmärkischer Berichterstatter - vielleicht mal was gehört habt vom Verbot der "reformatio in peius", d.h. dem ehernen Grundsatz eines Rechtsstaats, daß jemand, der ein Rechtsmittel einlegt, nicht zu einer höheren Strafe verurteilt werden darf als in der vorigen Instanz? Da seid Ihr aber schief gewickelt. Und damit meint Dikigoros nicht die Fälle des Autofahrers, der falsch geparkt hat oder zu schnell gefahren ist und dafür ein im Volksmund "Knöllchen" genanntes Bußgeld aufgebrummt bekommt. Wer dagegen vorgeht, kann sich im Strafverfahren selbstverständlich mehr einfangen, denn das Verschlechterungsverbot gilt ja nur für das Strafverfahren, nicht für dessen Verhältnis zur voraufgegangenen Ordnungswidrigkeit. Und auch daß jemand, der zuvor für "Diebstahl" zu einer geringen - womöglich zur Bewährung ausgesetzten - Freiheitstrafe verurteilt wurde und dagegen in Berufung oder Revision geht, in nächster Instanz wegen "schweren Diebstahls" zu einer doppelt so langen - und selbstverständlich nicht zur Bewährung ausgesetzten - Freiheitsstrafe verurteilt werden kann (ebenso derjenige, der zuvor wegen fahrlässiger Tötung vielleicht zu 2 Jahren auf Bewährung verurteilt wurde, in 2. Instanz wegen Totschlags und in 3. Instanz wegen Mordes lebenslang bekommen kann); denn das sind ja "unterschiedliche Straftatbestände", wie der Jurist sagt. All das ist vom Gesetzgeber (das sind die rund 600 Parteibonzen, die im Parlament herum sitzen und abnicken, was ihnen aus den Ministerien an Gesetzentwürfen und Verschlimmbesserungen vorgesetzt wird) so gewollt. Und Dikigoros meint auch nicht die "menschlichen" Schwächen der Korruption und der "Freundschaft" zwischen Verteidiger und Staatsanwalt und/oder Richter bzw. deren Ehefrauen - Zechkumpane müssen doch irgendwie zusammen halten, das ist überall so. Nein, Dikigoros meint das inzwischen selbstverständliche Prozedere, mit dem jeder Verurteilte abgeschreckt wird, der es etwa wagen sollte, gegen ein Urteil der unteren Instanzen Rechtsmittel einzulegen. Wenn Ihr mal eine Verhandlung in einem Strafprozeß besucht, liebe Leser, achtet bitte nicht so sehr auf den Anfang und den Mittelteil - schon gar nicht auf die Befragung der Zeugen, denen ausweislich des Protokolls noch jedesmal das Wort im Mund herum gedreht wird -, sondern vielmehr auf den Schluß. Nach der Urteilsverkündung wird der Vorsitzende Richter nur ein kurzes Wort in den Raum werfen: "Rechtsmittelverzicht?" - und dabei den Verteidiger und den Staatsanwalt lauernd anschauen. Das ist für ihn, den Richter, das wichtigste am ganzen Prozeß, denn wenn die so gefragten abnicken, dann braucht er sich mit der Urteilsbegründung weiter keine große Mühe geben: Er nimmt einfach das, was er schon flüchtig auf ein Stück Papier gekritzelt hat, während der Staatsanwalt und der Verteidiger ihre Schlußplädoyers halten (die sich außer den naiven Zuschauern niemand ernsthaft anhört - sie sind tatsächlich nur dazu da, daß der Richter schon mal Zeit hat zu formulieren, was nachher im Urteil steht). Dann schaut der Staatsanwalt den Verteidiger an, und der Verteidiger seinen Mandanten. Wie kann er dem nur klar machen, daß er jetzt auf keinen Fall "nein" sagen darf? Wenn der Verurteilte allzu lange zögert, verliert der Staatsanwalt - der vielleicht noch einen wichtigen Termin in der Kneipe hat - schon mal die Geduld und sagt drohend: "Wenn Sie keinen Rechtsmittelverzicht erklären, dann erkläre ich auch keinen, und wenn Sie dann in Berufung oder Revision gehen, dann gehe ich in Anschlußberufung oder Anschlußrevision." - "Was bedeutet denn das?" fragt der Verurteilte dann seinen Verteidiger, und der sagt, wenn er klug ist - denn das kann er natürlich nicht vor der Öffentlichkeit (wenn denn eine vorhanden ist, in der Regel steht die nur auf dem Papier des Gesetzbuches - auch das gehört zum Gerichtsalltag) so offen aussprechen: "Herr Vorsitzender, ich bitte um eine kurze Pause, um das mit meinem Mandanten zu erörtern." Daraufhin der Vorsitzende: "Na schön, 5 Minuten, aber nicht länger." Das reicht auch, um dem Mandanten zu erklären: "Wenn Sie jetzt nein sagen, dann wird die Staatsanwaltschaft aus Rache dafür, daß Sie ihr einen Haufen zusätzlicher Arbeit machen, in nächster Instanz eine höhere Strafe fordern." - "Ja, aber Sie hatten doch gesagt, Sie kennen den Staatsanwalt, und der ist eigentlich ganz nett?" - "Ja, aber dieser Staatsanwalt hat mit dem Fall überhaupt nichts zu tun, der hat ihn nicht bearbeitet, sondern nur die Terminvertretung gemacht, d.h. er hat Ihre Akte heute morgen zum ersten Mal gesehen; über das weitere Procedere entscheiden ganz andere, die ich nicht kenne; und die reißen meinem Bekannten auch noch den Kopf ab, wenn er keinen Rechtsmittelverzicht unsererseits erreicht - deshalb gibt er sich jetzt etwas bärbeißig." Alles weitere muß der Mandant dann selber entscheiden - ob er va-banque spielt oder besser nicht. Nein, das ist nicht Ausnahme, liebe Leser, das ist die Regel in diesem unserem Rechtsstaat, die nur von ganz wenigen Ausnahmen bestätigt wird. Anmerkung Ende.]

Meine Freundin Odelia ist Kubanerin und sitzt in einem kubanischen Hochsicherheitsgefängnis, wo sie gemäß einem Gerichtsurteil ein Jahr absitzen soll. Ich kam aus New York über Miami und die Bahamas nach Havanna geflogen, einen Tag nachdem ich von ihrer Verhaftung erfahren hatte. Während des geschlossenen Prozesses am nächsten Tag wurde ein Schreiben von mir vorgelesen. Darin stand, dass wir seit 15 Monaten eine Beziehung haben, "stabil und ernst". Der Richter hatte während der Verhandlung meinen Pass auf- und wieder zugeblättert. Sehen wollte er mich nicht. Alberto, Odelias Verteidiger bei der ersten Verhandlung, zog nach dem Richterspruch seine Kutte aus und sagte, Zigarette zwischen den Lippen, dass das doch besser sei als nichts.

Vor einer Woche war Odelia in Havanna in eine Polizeikontrolle geraten. Der Polizist, der sie anhielt, sagte, sie suche nach Touristen, weil sie in der Provinzstadt Camagüey gemeldet sei, und was sonst könne sie in Havanna wollen. Sie suche nicht nach Touristen, antwortete sie, sie habe einen Freund, und ja, der sei Ausländer, doch das sei nicht strafbar, oder? Sie studiere hier, privat, sei eben erst, vor einer Stunde, wieder in Havanna angekommen, nachdem sie die Weihnachtsfeiertage bei ihrer Familie in Camagüey verbracht hatte, und eine Telefonzelle suche sie, um ihre Mutter anzurufen. Von einer Ausgangssperre für junge Frauen wüsste sie nichts. Sie sei eine Jinetera, eine Reiterin, die es mit Touristen für Geld mache, deswegen sei sie aus der Provinzstadt Camagüey nach Havanna gekommen, sagte der Polizist und fing an, einen Strafzettel über 300 Pesos, fünfzig Dollar, zweimal sein eigenes Monatsgehalt, auszuschreiben. Odelia fragte nach seinem Namen und der Dienstnummer. Der Polizist drohte mit Gefängnis. Sie entschuldigte sich. Sie weinte. In dem Augenblick kam eine zivile Streife entlanggefahren. Der Polizist warf den Strafzettel weg und stoppte seine Kollegen.

Um drei Uhr morgens kam Odelia in der Polizeistation Villa Clara am Rande der Stadt an. Vier Tage lang wurde sie verhört, ein Polizist namens Tony versprach ihr am fünften Tag, wenn sie ein Geständnis unterschreibe, das besagt, sie habe andere Verhältnisse mit Ausländern vor ihrer jetzigen Beziehung gehabt, könne sie gehen. Sie sagte, sie habe fünf- oder sechsmal einen Spanier getroffen, das sei bald zwei Jahre her und keine sexuelle Beziehung gewesen, und unterschrieb. Tony sagte, gut, nun haben wir dich, nächsten Dienstag ist dein Prozess. Am Abend konnte sie jemandem einen Zettel mit der Telefonnummer ihrer Mutter und mit meiner Nummer zustecken.

Vier Fälle wurden an diesem Vormittag im zuständigen Stadtgericht, einer alten Villa nahe der Strandpromenade, behandelt, alle wegen Prostitution . Auf der gefliesten Terrasse saßen die Angehörigen. Als der Autobus mit den vier angeklagten jungen Frauen Richtung Seiteneingang einbog, rannten die Angehörigen los. Die Mädchen verließen den Autobus, die Hände auf dem Rücken haltend, als würden sie von Handschellen zusammengehalten. Uniformierte Frauen drängten die Angehörigen zurück. Odelias Gesicht war traurig wie noch nie, und ich wusste, wie ernst die Lage war. Eine Stunde verging. Und noch eine. Kurz nach Mittag holte der Gerichtsdiener die wartenden Familienmitglieder und Freunde schließlich herein. Die vier Rechtsanwälte teilten den Wartenden die Urteile mit.

Im Saal warteten die vier Mädchen auf Holzbänken. Odelia saß auf einer der letzten Bänke. Als würde sie in diesem Moment aufwachen, begann sie auf- und abzuspringen. Sie hüpfte auf dem Fleck, als wollte sie instinktiv wegrennen. Dann begann sie, nach mir und ihrer Mutter zu weinen. Die Frauen in den grünen Uniformen plärrten sie an, sich zusammenzureißen. Um sie herum saßen ihre Mutter, vier Freundinnen und ich. Sie erzählte von den vergangenen Tagen. Nach zwanzig Minuten wurden sie und die drei anderen Frauen zum Aufbruch aufgefordert. Odelia wollte fest gedrückt werden. Die Frauen in den grünen Uniformen protestierten. Man brachte Odelia in das Frauen-Hochsicherheitsgefängnis von Havanna, nach Manto Negro, dem schwarzen Mantel. Eine weinende Mutter sagte, dass den Frauen in Manto Negro als Erstes der Kopf rasiert wird.

Ich brauche einen guten Rechtsanwalt, sagte ich in der österreichischen Botschaft zu dem Botschaftssekretär. Schwierig, sagte der, denn wenn man erstmal drinnen sei im kubanischen Rechtssystem, "wird's duster".

Ein Mann im schmutzigen Unterhemd, als der beste Rechtsanwalt Havannas von einer Bekannten angepriesen, hörte etwas später erst nicht zu und verschwand dann wortlos für eine halbe Stunde ins Nebenzimmer. Eine junge Anwältin blickte auf Fotos von Odelia und mir und wiederholte ein paar Mal, wie traurig das alles sei. Ein dritter Rechtsanwalt erzählte von seinem Vater, der einmal in New York gelebt hatte, bis er für die Revolution zurückkam, und als der Rechtsanwalt gerade seinen Vater anrufen wollte, damit wir ein bisschen über New York plaudern könnten, ging ich.

Carlito war der letzte Rechtsanwalt, mit dem ich am Nachmittag nach der Verhandlung sprach. Er hörte genau zu, und ich glaubte herauszuhören, dass er sein Land sehr mag und die Leute Kubas kennt, das schien mir eine gute Voraussetzung für eine ordentliche Verteidigung bei der Revisionsverhandlung. Hermano, begrüßte mich Carlito am nächsten Tag. In seiner großen Hand lag ein verschrumpelter Brief von Odelia. Es gab wieder süßen Kaffee aus der Thermoskanne. Carlito zwinkerte und sagte, die Staatsanwältin und ihr Ehemann haben das Geschenk akzeptiert. Außerdem war Carlito heute in Manto Negro. Er reichte mir eine Liste, Nahrungsmittel, Unterhosen, eine Zahnbürste, einen Eimer zum Waschen und vor allem Beruhigungsmittel brauche sie, "weil sie nicht schlafen könne. Sie sagt, sie sei stark, aber sie ist es nicht. Sie verträgt das Essen nicht". Carlito versprach, dass Odelia spätestens in vier oder fünf Monaten frei sein wird, "auch wenn wir die Revision verlieren". Untergebracht sei sie in einem Zimmer mit 24 anderen Mädchen. Ich solle ihr Dollarnoten in Brotteig stecken, und auf die Frage, was sie damit im Gefängnis kaufen könne, antwortete Carlito: "Alles."

Ich habe einen Plan. Ich sagte Carlito, dass, wenn Odelia innerhalb der nächsten zwei Wochen ihre Revision hat und wenn sie davor oder danach freikommt, er von mir 3.000 Dollar erhält. Zusätzlich zu allem, was er für seine Arbeit braucht. Ich sagte ihm auch, dass ich für dieses Land keine vernünftigen Antennen besitze, und er mir sagen muss, wann und wem und wie viel ich bezahlen muss. Er habe den Fall nicht wegen des Geldes angenommen, erklärte Carlito, sondern weil es sich um einen groben Fall von Ungerechtigkeit handele. Er würde aber mein Angebot akzeptieren, und er sagte: "In zwei Wochen ist Revision." Und weil er gestern hundert Dollar für sich wollte, bekommt er heute zur Feier des Tages zweihundert.

Am Morgen der Revision hole ich Carlito ab. Carlitos Schuhe sind geputzt, er trägt keine Goldringe. Carlito will mich als Zeugen vorladen. Wir haben eine Erklärung vorbereitet, die ich dem Gericht vorlesen werde. Carlito sagt, wir hätten Pech mit dem Richter, der sei ein Hundesohn. Mit der beisitzenden Richterin allerdings hätten wir Glück, die habe er mal, und er dreht seine Faust auf und ab, als würde er im Standgas sein Motorrad aufheulen lassen.

Das Provinzgericht ist keine alte Villa mehr, sondern ein richtiges Gericht. Danach kommt in der Justizreihenfolge nur noch der oberste Gerichtshof, da könne man gleich direkt zu Fidel gehen, sagt Carlito. Großfamilien warten in der Halle, und vor dem Eingang streckt sich eine Schlange von fünfzig Leuten. Dann werden die Mädchen durch den Wartesaal gebracht, zwölf im Ganzen, der erste Verhandlungsschub, bis Mittag wird der Richter zwölf weitere Fälle behandeln. Ich werde tatsächlich zugelassen, den Verhandlungssaal zu betreten. Carlito flüstert mir zu, der Richter habe aber gesagt, ich dürfte nicht sprechen. Die Mädchen sitzen rechts vorn. Odelia schaut konzentriert. Aus ihren Briefen weiß ich, dass sie diesen Tag für den Tag der Wahrheit hält. Sie glaubt einfach, und ich bin mir nicht sicher, an wen. Ein paar Mal dreht sie den Kopf. Bei seinem letzten Besuch in Manto Negro - Carlito war sieben Mal dort, um mit Odelia ihre Aussage vorzubereiten - hat er ihr gesagt, wenn es nicht gut ausginge bei der Verhandlung, könnte er für uns zwei einen Pavillon im Gefängnis besorgen, gegen ein kleines Geschenk, wo wir die eine oder andere Nacht zusammen verbringen könnten. Was hat sie gesagt, wollte ich wissen. Sie habe ihn nur angesehen, sagt Carlito.

Die Mädchen erheben sich, als der Richter den Saal betritt. Er ruft den ersten Fall auf. Carlito sitzt in einer der hintersten Bänke. Dann kommt Odelia an die Reihe. Mit fester Stimme erklärt sie dem Richter, was passiert ist. Die beisitzende Richterin sichtet das Beweismaterial. Lange schaut sie sich die Fotos von Odelia und mir an. Der Richter fragt, was für eine Art von Beziehung wir hätten. Als ob sie nicht wüsste, was der Richter hören will, zögert sie. "Eine normale", sagt sie schließlich. Dann ist Carlito an der Reihe. Zu seinen Beweisen gehören notariell beglaubigte Erklärungen der Piano- und der Englisch-Professorin, die besagen, dass Odelia bei den Frauen studiere, dazu ein Flugticket, das aufzeigt, dass sie, kurz bevor sie in die Polizeikontrolle geraten ist, in Havanna angekommen war. Zwischenrein wirft Carlito, ich sei ein Liebhaber der kubanischen Revolution, wovon es im Ausland nicht mehr viel gäbe. Der Richter schaut streng. Das Beweismaterial von Carlito liegt in einer Mappe. Die Staatsanwaltschaft hat keine Beweise und braucht auch keine, weil im Zweifel alles für den Staat spricht. Der Richter blättert durch die englischen Grammatikhefte von Odelia. Sieht die Erklärung der Englisch-Professorin an, legt sie wieder weg. Sie ist gefälscht. Als Carlito die Englisch-Lehrerin fragte, ob sie die Erklärung abzugeben bereit sei, sagte sie ja. Am nächsten Tag fürchtete sie sich. Sie könne nicht unterschreiben, und falls der Rechtsanwalt ihren Namen nennt während der Verhandlung, werde sie behaupten, Odelia habe ihr einen Ring und vier Teller gestohlen. Auch das Flugticket ist gefälscht. Odelia fand es nicht mehr, und Carlito hat einen guten Freund bei Cubana Airways.

Odelia war das Einzige von 24 Mädchen, das bei der Verhandlung freikam. Der Richter nahm sich für jede der jungen Frauen etwa zehn Minuten Zeit. Zwei Mädchen wurden während des Prozesses ohnmächtig. Fünf waren erst sechzehn Jahre alt. Eine war siebzehn und hatte eine ein Jahr alte Tochter. Zwischen zwei und acht Jahren werden sie hinter Stacheldraht verbringen, bewacht von bewaffneten Männern, werden sich nicht vernünftig waschen können, weil es in Manto Negro kein fließend Wasser gibt, werden hungrig sein und nur alle zwei Wochen für eine Stunde Besuch empfangen dürfen, doch auch nicht alle, denn ein paar Mädchen konnten nicht einmal ihre Eltern benachrichtigen, sind einfach verschwunden . Jedes der Mädchen war zur falschen Zeit am falschen Ort. Manche mit einem Touristen, andere alleine. Warum Odelia freikam, weiß ich bis heute nicht.

Als Carlito und ich Odelia am Tag nach der Revision im Gefängnis abholen wollen, taucht der Soldat mit den Freilassungspapieren nicht auf. Gegen Mittag war er vom Provinzgericht aufgebrochen. Manto Negro liegt fünfzehn Kilometer entfernt. Eine Frau steht vor dem Gefängnis und schreit "Freiheit für meine Tochter". Niemand beachtet sie. Wir warten bis abends um sieben, dann fährt Carlito auf seinem Motorrad los, den Soldaten zu suchen. Eine Stunde später kommt er mit dem Soldaten zurück. Irgendwo am Straßenrand hat er ihn aufgelesen. Zwei Stunden danach, es ist dunkel, beginnt hinter dem Stacheldraht von Manto Negro ein Gesang: "Odelia vas, Odelia vas, y nunca vas a regresar", singt ein Frauenchor, "Odelia darf gehen, Odelia darf gehen, und sie wird nie wieder zurückkehren." Zwanzig Minuten später läuft Odelia den langen, geteerten Weg von den schlecht beleuchteten Zellen zum Haupteingang mit den massiven Gittern. Ihre Haare sind zu zwei Zöpfen gebunden. Dann beginnt sie zu rennen. So schnell sie kann.

Als die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag Ende der 1960er Jahre das kommunistische Vietnam besuchte, schrieb sie in einem Aufsatz für das Magazin "Esquire", dass sich dort eine "äußerst zivilisierte Gesellschaft bilde, mit einem großen Anspruch an Freundlichkeit und Menschlichkeit". Sie beschrieb, wie die Regierung Prostituierte rehabilitierte, indem die Frauen in schön angelegte Ressorts geschickt wurden. Dort wurden ihnen Märchen vorgelesen und Spiele mit ihnen gespielt, um ihnen das Vertrauen in die Menschheit zurückzureichen. Im Gefängnis von Manto Negro gibt es keine Märchen. Als das siebzehnjährige Mädchen Yasmin sagte, sie wolle keine Sprüche von Fidel mehr auswendig lernen, schließlich sei er schuld daran, dass sie hier sei, musste sie eine Woche lang in Einzelhaft darüber nachdenken, ob sie nicht doch Interesse für ihr Land aufbringen würde.

"Cuba no es libre", hatte ich einen deutschen Touristen eines nachts plärren hören, als ihm seine dunkelhäutige Begleitung vom Arm weg festgenommen und in einen Polizeiwagen gesteckt wurde. Nein, frei ist Kuba nicht, und wäre es frei, würde dieser deutsche Tourist mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mit dieser Frau die Straße heruntergegangen sein, weil sich die Frau etwas besseres vorstellen kann als Socken in Sandalen, Halbglatze und Sonnenbrand. Doch im Augenblick brauchen die Mädchen die Ausländer, so wie das Land den Tourismus braucht. Im Gefängnis, sagt Odelia, habe sie gehört, dass es drei Mietautos in Havanna gäbe, in denen keine Touristen, sondern Polizisten sitzen, die die Mädchen von der Straße einsammeln. Ein blaues, ein rotes und ein weißes Auto. Toyotas. Das würden sie sich merken, die Mädchen von Manto Negro, erzählt Odelia, für die Zukunft, statt der Märchen.

Von Michael Saur/Thomas Schuler erscheint im August im Picus Verlag "Das Leben war ein Pfeifen. Kubanische Fluchten".


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