Pantürkismus und Turanismus

Interview von Gerhoch Reisegger mit
Professor Dr. Dr. Heinrich P. Koch

[Die Welt der Pantürken]

Der Pantürkismus, auch als Turanismus bezeichnet, strebt nach der Vereinigung aller Türkvölker in einem Staat. Schon 1839 wurde in der Türkei die Turanische Gesellschaft mit dem Ziel eines „Reiches von Turan“ gegründet. 1915 verkündeten die das Osmanische Reich regierenden Jungtürken als Kriegsziel die Vereinigung aller Türkvölker. Auch heute beansprucht die Türkei die Führungsrolle unter allen Türkvölkern, die mit 250 Millionen türksprachigen Menschen bis an die chinesische Grenze und bis nach Sibirien reichen. Professor Dr. Dr. Heinrich P. Koch hat sich intensiv mit dem Turanismus und besonders mit dessen ungarischem Ausläufer auseinandergesetzt. Auch in Ungarn gründete sich nämlich 1918 eine Turanische Gesellschaft mit dem Ziel, alle „Turanier“ zusammenzufassen. Gerhoch Reisegger hat Professor Koch befragt.

Die turanische Idee

Reisegger: Herr Professor Koch, was ist die Grundlage des Turanismus?

Koch: Unter Turanismus versteht man meist nur die pantürkistische Bewegung mit dem Ziel, die Türkvölker zu vereinigen. Der Turanismus im weiteren Sinne ging darüber hinaus: Zugrunde lag die Theorie einer gemeinsamen Abstammung der finno-ugrischen Völker und der Türkvölker von einem einheitlichen Urvolk in Zentralasien, zwischen Ural und Altai etwa. Die Sammelbezeichnung „Turanide“ sollte die weder indogermanischen noch semitischen Völker der Alten Welt zusammenfassen. Zu den Turaniden zählte man außer den osmanischen Türken und den Türkvölkern Asiens – Aserbaidschaner, Ogusen, Tschuwaschen, Turkotataren, Tungusen, Uiguren, Usbeken et cetera – im weitesten Sinne auch die Japaner, Koreaner, Chinesen, Tibeter. Die Sprachen dieser Völker werden noch heute manchmal als „turanische Sprachen“ bezeichnet, obwohl sie in Wirklichkeit wenig gemeinsam haben, so wie auch das Ungarische und das Türkische, außer dass sie zur agglutinierenden Sprachfamilie zählen. Die moderne Sprachwissenschaft hat die Zusammengehörigkeit der so genannten uralaltaischen Sprachen längst widerlegt.

„Land der Türken“

Reisegger: Trotzdem fand der Turanismus während des Ersten Weltkrieges auch in Ungarn eine wachsende Anhängerschaft.

Koch: Ja. Sie erstrebte eine Abkehr Ungarns von Europa, hin zu Asien. Nach der Blütezeit der Germanen und der Slawen sollte die der Turaner kommen – von Ungarn bis Japan, wörtlich „von Theben bis Tokio“. Gemeint war Theben an der Marchmündung. „Turanismus“ ist abgeleitet vom Tiefland von Turan als Gegenstück zum Hochland von Iran, an das es sich in nordöstlicher Richtung anschließt. Eigentlich ist Turan das persische Wort für Turkestan, was soviel heißt wie „Land der Türken“. Das riesige Turan-Gebiet besteht zu vier Fünfteln aus Wüste, aber ist reich an Erdöl- und Erdgasvorkommen. Heute ist der Landstrich aufgeteilt zwischen den Staaten Turkmenistan, Kasachstan und Usbekistan.

Reisegger: Wie bedeutend wurde der Turanismus in Ungarn?

Koch: Erster Vorsitzender der „Turanischen Gesellschaft“ in Ungarn war Graf Pál Teleki, der von sich sagte: „Ich bin ein Asiate und ich bin stolz darauf“. Graf Teleki war zweimal Außenminister und von 1920 bis 1921 sowie von 1939 bis zu seinem Selbstmord 1941 ungarischer Ministerpräsident. Bekanntestes Produkt dieser Geistesrichtung wurden die „Turanischen Lieder“ von Árpád Zempléni. Er nannte die Ungarndeutschen „arische Teufel“ und bereitete damit bereits um 1910 die Vertreibung von 1945 vor. Auch in den 1940er-Jahren war die Idee des Turanismus unter der Intelligenz Ungarns stark verbreitet. Eugen Cholnoky, seit 1941 Präsident der Turanischen Gesellschaft, war bereits in der Zwischenkriegszeit Großwesir des „Turan-Bundes“ gewesen. Es war das eine Erneuerungsbewegung, die sich offen besonders gegen Deutsche, Zigeuner und Juden wandte.

„Verehrung für Hunnenkönig Attila“

Reisegger: Wie konnte die turanische Idee so weit vordringen?

Koch: Schon im 13. Jahrhundert hatte der altungarische Chronist Simon Kézai die asiatischen Hunnen des 5. Jahrhunderts zu direkten Vorfahren der Magyaren erklärte. Noch heute wird dem Hunnenkönig Attila (gest. 453 n.Chr.) in Ungarn Verehrung entgegen gebracht. Im Zeitalter des Barock sah Kardinal Péter Pázmány (gest. 1637) in der heidnischen Bruderschaft von Ungarn und Türken den eigentlichen Grund für die mangelnde Widerstandslust seiner Zeitgenossen gegenüber diesem äußeren Feind. Der chauvinistische Historiker István Horvát verstieg sich sogar dazu, die Magyaren für verwandt mit den Skythen, Assyrern, Pelasgern, Parthern und Arabern des Altertums zu erklären. Die hunnische Abstammung der Ungarn bestätigte er aufs Neue, aber von der tatsächlichen Verwandtschaft mit den Finnen wollte er nichts wissen. Graf István Széchenyi wollte sogar eine Verwandtschaft der alten Magyaren mit den Sumerern, dem ältesten bekannten Kulturvolk in Mesopotamien, entdeckt haben.

„Loslösung vom Abendland“

Reisegger: Die ungarische Königskrone hat Bestandteile vorderasiatischen Ursprungs.

Koch: Angeblich besteht die Stephanskrone aus zwei Teilen. Sie wurde zusammen gesetzt aus jener Krone, die Papst Sylvester II. dem Heiligen Stephan gesandt haben soll, der Corona latina, und jenem zweiten Teil, den König Géza I. vom byzantinischen Kaiser Michael Dukas geschenkt erhielt, der Corona graeca. Die Zusammenfügung der beiden Teile wurde von den Turanern als Symbol des Ost-West-Zwiespaltes der magyarischen Seele entdeckt. Ihn galt es zu beseitigen. Die Loslösung vom Abendland und die Rückkehr zur turanischen Größe sollte zur Grundlage der Erweckung des neuen Nationalbewusstseins werden. Die magyarische Nation sollte die glänzende Verkörperung der turanischen Herrenrasse werden.

Reisegger: Was sagten, von den Türkvölkern einmal abgesehen, andere „Kandidaten“ zum Turanismus?

Koch: Finnen und Esten wehrten sich entschieden dagegen, als Asiaten zu gelten. Japaner, Chinesen oder Koreaner lachten höchstens über ihre Einstufung als Turanier.

„Ungarns Verluste in der Türkenzeit“

Reisegger: Hatte man in Ungarn vergessen, dass türkische Beamte und Krieger im Verlauf der 200 Jahre dauernden Türkenkriege Ungarn systematisch ausgeplündert hatten?

Koch: Ja. Und vergessen war auch, dass die Deutschen im Verein mit dem Haus Habsburg Ungarn vom türkischen Joch befreit haben. Dafür versuchte man, ihnen die Vernichtung großer Teile des ungarischen Volkes während der Türkenherrschaft in die Schuhe zu schieben. Noch 1941 wurde von der 200-jährigen „österreichischen Unterdrückung“ gefaselt, die jener durch die Türken ebenbürtig gewesen sei. Fazit ist jedoch, dass die Bevölkerung Ungarns in der Türkenzeit von 3,2 auf 1,1 Millionen zusammenschmolz, während sie in der habsburgischen Epoche von 1,1 auf 9,2 Millionen anwuchs. Deutsche, Slawen und Juden sollten im turanischen Ungarn keinen Platz haben. Als Ministerpräsident setzte Teleki 1920 das erste neuzeitliche antisemitische Gesetz Europas durch. Nach der deutschen Niederlage bei Stalingrad lebte die turanische Propaganda verstärkt wieder auf. Nach dem Zusammenbruch forderten die „Turáni Vadászok“, zu deutsch: die „Turanischen Jäger“, die „restlose Entfernung aller Schwaben“. Die Forderung nach einer Vertreibung oder Ausrottung der Nichtmagyaren im altungarischen Raum war aber bereits 1939 erhoben worden. Die ungarischen Kommunisten unter Matyás Rákosi lehnten jedoch den überhitzten Rassismus der Turaner ab. Der Turanismus in Ungarn ist vom Deutschenhass, aber auch vom Antisemitismus nicht zu trennen. Traurige Tatsache ist, dass diese abwegigen Gedanken eine nicht unwesentliche Rolle bei der Vertreibung der Volksdeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg aus Ungarn gespielt haben.

Fußnote oder Menetekel?

Reisegger: War die Ausbreitung des Turanismus bis nach Ungarn bloß eine Fußnote der Geschichte?

Koch: Nein, ganz und gar nicht! Er war ein Menetekel, eine neuzeitliche Flammenschrift an der Wand.


zurück zu Reisen die Geschichte[n] machten

heim zu Reisen durch die Vergangenheit