Zu Hause im Land der Raubmorde,
Stammesfehden und Hexenjagden

Marodierender Mob, raffgierige Elite, blutige Stammesfehden: Kenia ist aus einem Musterstaat zum Katastrophenland geworden. Am Ende seiner Zeit in Nairobi zieht SPIEGEL-Korrespondent Thilo Thielke Bilanz in einem Staat, der in der mörderischsten Region der letzten Jahrzehnte liegt.

Etwas mehr als fünf Jahre haben wir in Kenia gelebt, zuletzt in einem wunderschönen kolonialen Landhaus neben einer Kaffeeplantage am Stadtrand Nairobis. Meine Frau Bianca und ich haben in Nairobi geheiratet, und unsere Kinder Arthur und Sophie wurden hier geboren. Als wir Ende Dezember 2002 kamen, stand Kenia scheinbar vor einem hoffnungsvollen Neubeginn. Als wir im Frühjahr 2008 gingen, stand es in Flammen.

Über allem steht zweifellos die Frage: Wie konnte die Ordnung in Kenia so schnell zusammenbrechen? Wie war es möglich, dass nach den Präsidentschaftswahlen innerhalb kürzester Zeit weite Teile des Landes verwüstet waren, Straßensperren und Menschen brannten, Marodeure umherzogen und politische Gegner oder Angehörige anderer Ethnien mordeten? Dass ein Land, das mit seinen rund sechs Prozent Wirtschaftswachstum vielen als Musterstaat galt, urplötzlich ökonomisch am Boden lag – ein Trümmerhaufen, den kaum noch ein Tourist besichtigen mag? Es gibt wohl wie immer eine Vielzahl von Gründen, und derzeit sind viele Experten fleißig damit beschäftigt, sie zu gewichten – sie werden wieder einmal zu scheinbar ganz unterschiedlichen Schlüssen kommen; je nachdem, welchem ideologischen Lager sie angehören.

Mir fällt es schwer, eine eindeutige Ursache für die schockierenden Ereignisse auszumachen. Natürlich war das, was wir im Januar und Februar 2008 in Kenia erlebten, ein Stammeskrieg verfeindeter Volksgruppen, die sich aufs Messer bekämpften, und natürlich war es gleichwohl ein politischer Kampf zweier starker Parteien, die beide den Wahlsieg für sich reklamierten. Natürlich war es ein Aufstand der Armen in den Elendsgebieten des Landes, die nicht vom wirtschaftlichen Aufschwung profitierten; natürlich war es auch ein Kampf um Land, und natürlich ist die ungleiche Landverteilung auch ein Erbe des britischen Kolonialismus.

Die ungerechte Landpolitik ist heutzutage aber in erster Linie die Folge des Tribalismus, der in der kenianischen Gesellschaft, Wirtschaft und Politik vorherrscht und das Klima vergiftet. Das Land ist seit 1963 unabhängig.

Wenn die Kenianer es gewollt hätten, hätten sie längst eine Lösung für die Verteilung von Grund und Boden finden können. Offenbar hatten aber zu wenig Menschen daran wirklich Interesse. Zu selbstverliebt ist die politische Klasse, zu chauvinistisch, raffgierig und korrupt. Es rebellierten auch von ihrer Führung zutiefst enttäuschte Kenianer, die jene unseligen Zeiten der Autokraten und Antidemokraten endgültig beendet wissen möchten – Menschen, die, wenn sie überhaupt Arbeit haben, mit rund hundert Dollar im Monat auskommen müssen und in einem "Brei aus Schlamm und Scheiße" leben, wie der kenianische Schriftsteller Meja Mwangi (Nairobi, River Road) schreibt, während ein Abgeordneter rund 17.000 Dollar monatlich einstreicht und in einem Palast residiert. Der offenkundige Wahlbetrug zugunsten der alten Regierung brachte das Fass zum Überlaufen und riss eine Gesellschaft, die hoffnungslos zwischen Moderne und Atavismus hinund hertaumelt, in einen Strudel der Gewalt.

Nagelgespickte Keulen und Designerklamotten

Mir begegneten Krieger, die mit Pfeil und Bogen die Straßen blockierten, und während sie Jagd auf vermeintliche Feinde machten, gleichzeitig mit dem Handy telefonierten. Ich sah Krawallbrüder mit nagelgespickten Keulen und Macheten, die Designerklamotten trugen und innenverspiegelte Sonnenbrillen. Leute, die mit dem Landrover zum Morden gefahren wurden und mittelalterliche Kriegshymnen sangen.

Kenia ist ein Land voller Widersprüche: von den Bankentürmen Nairobis bis zur Chalbi-Halbwüste in der Mondlandschaft Nordkenias, von den eingeölten Touristen am Strand von Mombasa bis zu den zerlumpten Fischern am Victoriasee, von der einfachen Manyatta-Lehmhütte bis zur ökologisch einwandfreien Luxuslodge im Nationalpark. Bisweilen ist Kenia ein Land, das seine Wildtiere sorgsamer hegt als seine Bewohner. Es ist auch ein Land, dessen normaler Alltag schon von Brutalität bestimmt wird. Ein Blick in die lokalen Zeitungen reicht, um das zu erkennen. Kaum ein Tag vergeht ohne Raubmorde, Lynchjustiz, tödliche Hexenjagden oder Viehdiebstähle.

Lange Zeit glaubten die Kenianer, sie seien vor Bürgerkrieg und Genozid gefeit – anders als die vielen Nachbarn in der Region: Somalia, Äthiopien, Eritrea, Sudan, Uganda, Ruanda, Burundi, Ostkongo. Man sollte nicht vergessen: Das Safariland Kenia liegt direkt im Zentrum der wohl mörderischsten Gegend des letzten halben Jahrhunderts. Es war in letzter Zeit sehr damit beschäftigt, die Rolle des Friedensstifters zu spielen – im Sudan oder in Somalia. Ununterbrochen fanden in Nairobi irgendwelche Kongresse oder Gipfeltreffen statt. Darüber geriet wohl in Vergessenheit, dass das Land selber tief gespalten ist. Es wurde nicht erkannt, dass sich da etwas zusammenbraute.

Nach mörderischen Wochen, die vermutlich einigen Tausend Menschen das Leben gekostet haben, einigten sich die verfeindeten Lager auf eine gemeinsame Regierung und bildeten ein monströses Kabinett mit vierundneunzig Ministern und stellvertretenden Ministern. Diese neue Regierungsmannschaft reißt nun ein tiefes Loch in die leere Staatskasse, und vermutlich springen jetzt wieder irgendwelche europäische Entwicklungshilfe-MinisterInnen ein und zahlen die Zeche. Sie werden damit keine Probleme lösen.

Sie haben ohnehin selten Probleme in Afrika gelöst, statt dessen aber viel Misswirtschaft und Korruption gefördert und durch die Finanzierung vderkommener Regimes diese letztlich auch legitimiert. Kenia ist ein Pulverfass.

Es kann jederzeit in die Luft fliegen.


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