Der Mythos von der japanischen Schamkultur

Richtig Rotwerden von Max Scheler bis Ruth Benedict:
Philosophien eines starken Gefühls kritischer befragt

von Thomas Gross (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.04.2011)

Wie gängig die im Begriff der Scham vorgeprägte Verengung auf genitale Scham und Sexualität seit der Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies ist, hat Nobert Elias bestätigt, als er den europäischen Zivilisationsprozess durch die Verringerung von Aggressivität bei gleichzeitiger Erhöhung der Schamgrenzen beschrieb, ebenso der Ethnologe Hans Peter Duerr, der im Widerspruch dazu betonte, der schamhafte Blick auf die Geschlechtsteile sei eine Epochen und Kulturen übergreifende Angelegenheit. Gängig wie diese Verengung einer Empfindung von Andersartigkeit, die nach Sartre "einen Aspekt meines Seins" entdecken und "mich die Situation eines Erblickten" erleben lässt, ist im kulturwissenschaftlichen Kontext die gleichfalls verengende Unterscheidung zwischen Schuld- und Schamkulturen.

Verbunden wurde sie häufig mit der Annahme eines moralisch höheren Wertes sogenannter Schuldkulturen, wo nicht nur die Mitwelt, sondern auch das eigene Gewissen zur Richtschnur des Handelns dient, und einer tendenziellen Fortentwicklung von Scham- zu Schuldkulturen. Erwähnung findet die Unterscheidung erwartungsgemäß auch mehrfach in dem von der evangelischen Theologin Michaela Bauks und dem Philosophen Martin F. Meyer herausgegebenen Band "Zur Kulturgeschichte der Scham" (Archiv für Begriffsgeschichte. Sonderheft 9. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2011). Mit seinen gedanken- und materialreichen, vor allem ideengeschichtlich relevante Standpunkte erörternden Beiträgen, zu Augustinus, Hume, Kant oder Kierkegaard, will dieser zwar keine fertige Theorie liefern, wie die Herausgeber in der Einleitung schreiben, aber Leser doch mit Material zu konkreten Schamerfahrungen und deren theoretischer Reflexion ausstatten, was ihm gewiss gelingt.

Nicht erfunden, aber doch wissenschaftlich populär gemacht hat die erwähnte Unterscheidung die amerikanische Anthropologin Ruth Benedict durch ihr im Jahr 1946 im Original erschienenes Buch "Chrysantheme und Schwert", das sich den Grundmustern der als Schamkultur charakterisierten japanischen Gesellschaft widmete. Als Meisterwerk der "armchair-ethnology" charakterisiert der Soziologe Clemens Albrecht die ebenso erfolg- wie folgenreiche Studie; ihr Unterscheidungsmuster habe eine Eigenlogik entwickelt, "die weniger empirisch als epistemologisch plausibel" sei ("Anthropologie der Verschiedenheit, Anthropologie der Gemeinsamkeit. Zur Wirkungsgeschichte der Unterscheidung von Scham- und Schuldkulturen"). Auf einer im Auftrag der amerikanischen Regierung verfassten Studie aufbauend, verfasste Ruth Benedict ihr Werk nämlich allein auf ´der Grundlage von Interviews mit japanischen Einwanderern und umfangreichem Literaturstudium, besonders japanischer Dichtung, da sie das Land kriegsbedingt nicht bereisen konnte.

Absicht der Studie war es zunächst, den amerikanischen Streitkräften ein besseres Verstehen ihres als grausam empfundenen Feindes zu vermitteln. Ruth Benedict bot etwa ein Erklärungsmuster dafür an, warum japanische Soldaten sich in der Regel selbst töteten, wenn eine Gefangennahme drohte, die dann dennoch Gefangenen aber anscheinend bereitwillig mit den Amerikanern kooperierten, obgleich ihnen das Schamgefühl über die Kapitulation deutlich anzumerken war. Sie begründete es mit einem traditionellen, strengen System gegenseitiger Verpflichtungen, das nicht im Sinne von Tugend oder Morallehre auszulegen sei, sondern als Norm ohne Wertbindung. Die eigene Nichterfüllung einer Verpflichtung werde als beschämend empfunden - wobei diese "Schamkultur" die Sexualität insgesamt weniger beschränkt als die puritanisch geprägte Sexualethik der Vereinigten Staaten. Deshalb seien Japaner auch nicht im westlich-abendländischen Sinne als moralisch verantwortliche Individuen zu charakterisieren, sondern vermöchten beispielsweise absolute Höflichkeit und Gleichgültigkeit gegenüber fremdem Leid, eben Chrysantheme und Schwert, problemlos zu vereinigen.

Albrecht erklärt Ruth Benedicts begriffliche Überbetonung einer kulturellen Differenz mit ihrer eigenen wissenschaftlichen wie weltanschaulichen Position: Als Schülerin von Franz Boas und im Sinne eines Kulturrelativismus, der sich gegen Evolutionismus und wissenschaftlichen Rassismus wendete, betonte sie den Eigenwert verschiedener Kulturen. Und als Humanistin wollte sie das gegenseitige Verständnis befördern. Da mag ein guter Zweck einmal mehr die Mittel heiligen. Die kulturübergreifende Bedeutung der Scham leugnete Benedict ja auch keineswegs. Ihr Relativismus ist nicht eigentlich radikal kulturalistisch, sondern lässt eine Interpretation der Scham als anthropologische Konstante und positive allgemeingültige Form menschlichen Selbstverhältnisses durchaus zu.

In solchem Sinn schreibt, ausgehend von Max Scheler, der Soziologe Axel T. Paul, die Scham sei kein Trennungsschmerz als Folge der Entfremdung von Geist und Leib, "sondern zugleich die Hüterin personaler Identität, insofern sie der Regression eines Menschen auf seine pure Bedürftigkeit einen Riegel vorschiebt" ("Die Gewalt der Scham. Elias, Duerr und das Problem der Historizität menschlicher Gefühle"). Paul beschreibt die Dialektik von Scham und Schamlosigkeit, die für die Gegenwart typisch scheint. Die oft als Provokation gedachte Schamlosigkeit werde gewählt, wenn der zur Scham gehörende Ruf nach Anerkennung nicht mehr gehört werde. Daraus resultierende psychische Konflikte könnten sich auch gewaltsam Ausdruck verschaffen, an deutschen Schulen oder international, wenn etwa muslimische Massen Sturm laufen gegen das, was ihnen an den westlichen Freiheiten als blasphemisch erscheint.

Japaner mögen sich aus anderen Anlässen schämen als Araber, Deutsche oder als Engländer, denen ebenfalls nachgesagt wird, vielerlei Anlässe zu Peinlichkeitsgefühlen zu kennen. Gute, oft diskret verborgene Gründe zur Scham haben indes alle. Und natürlich hat man gute Gründe, um einen engen Zusammenhang von Scham und dem Kontext der Schuld zu betonen. Zumal in christlich-augustinischer Perspektive wird er bereits in Genesis 3 greifbar. Hesiod befand, der Mensch unterscheide sich vom Tier durch Scham und Recht. Und wenn der griechische Epiker diese beiden zusammenbindet, dann betont er in der Sichtweise Martin F. Meyers ("Scham im klassischen griechischen Denken"), dass die Idee des Rechts im Schamgefühl ihre emotionale Wurzel hat. In jüngster Zeit zeigt sich der Zusammenhang etwa in der Auseinandersetzung um die Erinnerung an den Holocaust. In der Diskussion um eine deutsche Kollektivschuld wollte schon der Philosoph Karl Jaspers sie im Sinne eines allgemeinen Bewusstseins der Mitverantwortung - und der Scham verstanden wissen.


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