Wagners "Rienzi" in Berlin
Achsenbruch des Bösen

von Volker Hagedorn

(DIE ZEIT, 27.01.2010)

"Führerbunker", ächzt der Nachbar im Parkett, als der Vorhang aufgeht, "oh nee…", und er ächzt bis zur Pause, danach ist sein Platz frei. Es ist aber weder ein Bunker noch der Führer, den es da zu sehen gibt; es ist ein bisschen komplizierter und sogar ein bisschen komisch. Wir hören Richard Wagners wunderbare Rienzi-Ouvertüre, Eröffnungsmusik der NSDAP-Reichsparteitage wie auch Erkennungsmusik von Spiegel-TV, und blicken mit einer Gestalt, von der zuerst nur eine Hand über den Rand des Chefsessels ragt, auf ein gewaltiges Panoramafenster: beschneite Alpen Marke Obersalzberg. Nur ist Hitlers Hochsitz hier eine imperiale Staatskanzlei, die Bergwelt flimmert wie eine Videoinstallation der Achtziger, und der Mann im Sessel, weiß uniformiert, ist fett wie Göring und wendig wie ein Affe. Er schlägt Rad und tändelt wie Chaplins großer Diktator mit dem Erdball, der irgendwann ins Fenster rutscht.

Vielleicht regen sich während der jüngsten Premiere der Deutschen Oper gerade deswegen so viele auf, weil die Regie sie hinter den Linien der vertrauten Klischees erwischt, die sie gleichwohl anspielt. Die Affinität Hitlers zu Wagner ist so wohlbekannt wie der nationalsozialistische Missbrauch der Wagnerschen Musikdramen, der indessen keineswegs nur einem Missverständnis folgte. Man hat es sich fast schon bequem eingerichtet mit Wagner als Hitlers "bestimmendem Lehrmeister“ (Joachim Fest) und mit einer Achse des Bösen, die sich spätestens 1906 zu drehen beginnt: Da erlebt der 17-jährige Oberösterreicher in Linz eine Produktion des Rienzi, nach der er sich zum Volkstribunen berufen fühlt. So wie der Römer Rienzi will er werden, ein charismatischer Führer, der ein heruntergekommenes Volk zu neuer Stärke "emporführt“, wie es im einschlägigen Jargon heißt. So weit, so schauerlich, so einfach.

Aber so einfach macht es Philipp Stölzl sich und uns eben nicht, auch wenn er später der Sogkraft des Vertrauten zu erliegen droht. Der 42-Jährige, vom Sprechtheaterausstatter über Musikvideos und Filme zum Musiktheaterregisseur geworden, setzt am Klischee an, um es zu zerlegen bis hinein in Dimensionen, von denen wir uns nicht so bequem distanzieren können wie von einem historisch so klar umrissenen wie umgerissenen Bösmenschen. Der "Führer" da ist eine ambivalente Gestalt, den Bewegungen nach eindeutig durchtrainiert, aber clownesk aufgepolstert noch über jenen Leibesumfang hinaus, den er als Vorwegdouble des real singenden Heldentenors Rienzi braucht. Nicht unsympathisch, wie ertappt er reagiert, als eine Ordonnanz mit Kaffeetablett seine Turnereien unterbricht. Und seltsam, wie Wagners Ouvertüre dazu wirkt.

Was das Orchester der Deutschen Oper spielt, hört der Einsame aus einem Grammofon, mitdirigierend. Der dunkle Klang ist größer als die pompös düstere Kanzlei, er wirkt wie ein 19. Jahrhundert als Schoß eines 20. Jahrhunderts. Das geht an diesem Abend über die simple Wagner-Hitler-Abfolge auch deswegen hinaus, weil Rienzi noch gar keine richtige Wagner-Oper ist (der Komponist schrieb sie mit 26, später war sie ihm "sehr unangenehm"), sondern eine grand opéra auf den Spuren Giacomo Meyerbeers. Groß angelegte Tableaus, in denen zwischen Massenszenen und psychologisch wenig differenzierten Privatkonflikten hin und her geschnitten wird. Mit dem Einsatz homogener Massen (der beim späteren Wagner eigentlich nur noch auf der Meistersinger-Festwiese wichtig ist) hat die Oper des 19. Jahrhunderts manch totalitäre Politikinszenierung vorweggenommen.

Man könnte also auch eine Linie von Meyerbeer zu Mussolini ziehen, was bei einem römischen Volkstribun nicht abwegig ist. Seinen ersten librettokonformen Auftritt hat Rienzi inmitten einer Truppe von Schwarzhemden vor einer Kulisse, die der imperialen Strenge des Macht-(T)Raums völlig entgegengesetzt ist: Schräg ineinander gekantete Metropolis-Versatzstücke lassen an Futuristen wie Boccioni denken, und das Volk Roms könnte von George Grosz gemalt sein.

Belcanto-Redundanz verbindet sich verblüffend gut mit Massenmedien

Die halb karikierenden, halb tristen Masken dieser Menschen verweisen auf die Deformationen, die ein Erster Weltkrieg hinterließ. Man trägt Zwanziger-Jahre-Klamotten von verzweifelter Buntheit. Darunter aber liegt als tiefere Schicht schon das schwarz-weiße Outfit der Diktatur. Auch die Widersacher des emporgekommenen Rienzi müssen es später tragen; sie wirken daher nicht wie der arrogante Adel des Originals, eher wie die Verschwörer um Stauffenberg.

Da sind die futuristischen Schrägen längst verschwunden, da bewegt sich Stölzl näher ans "Dritte Reich" heran. Rienzi hält Reden, die in der Wochenschau Das neue Rom übertragen werden, und da verbinden sich späte Belcanto-Redundanz und frühe Massenmedien verblüffend perfekt. Torsten Kerl ist nämlich nicht nur ein Tenor mit ebenso viel Strahlkraft wie Eloquenz, er ist auch ein Darsteller, der bis ins letzte Mundwinkelzucken die mimische Demagogie studiert hat – in Großaufnahme zeigt ihn ein Propagandafilm, dem auch marschierende Jugend und megalomane Kuppelbauten à la Speer nicht fehlen. Das Donnern, das Säuseln, das "Sei mein!" und das "Erzittre!", die Träne des Mitleids im Auge, das eben noch herrisch blitzte: Wie sich diese suggestiven Versatzstücke mit den Gesangsversatzstücken verbinden, die Wagner aus dem Fundus seiner Zeit holt – das lässt sehr tief in beide Quellen blicken. Und beleuchtet die Musik genauer, als es dem Orchester selbst gelingt.

Sebastian Lang-Lessing dirigiert die Partitur, als sei sie ein Selbstläufer. Und was schon für Selbstläufer ein zu bequemes Rezept ist, lässt in diesem kaum vertrauten Werk erst recht Differenzierung, Artikulation, Präzision fehlen, den Sinn für Nahtstellen, für Farbmischungen jenseits der offenkundig exotischen. Das ist der eigentliche Verlust, während die rund zwei Stunden Musik, die aus dem Fünfakter gestrichen wurden, dem Abend wohl mehr Länge als Tiefe gegeben hätten. Es ist nun mal ein Werk des Übergangs von Kalkül zu Profil, und den Rang der Ouvertüre erreicht selbst Rienzis berühmtes Gebet nicht. Diese strapaziöse Nummer hat Wagner geradezu sadistisch spät platziert. Dass der Titelheld da schon fast abgesungen ist, merkt man selbst in der gekürzten Fassung und bei einem Torsten Kerl in Topform. Indessen hängt da auch die Regie durch – ratlos spielt Rienzi mit den Modellen für sein neues Rom.

Stölzl hat mittlerweile den Fokus verengt und doch noch einen richtigen Führerbunker auf die Bühne geholt, womit er in bedrohliche Nähe zu jener plakativen Eindeutigkeit gerät, die er bis dahin so intelligent vermieden hatte. Da beugt sich Rienzi dann mit Untergangs-Parkinson übers Kartenmaterial, während oben schon Bomber durch die Wochenschau fliegen und Versehrte in der zur Halbruine gewordenen Kanzlei kampieren. Platt wird das dennoch nicht, weil hier wirklich alle Sänger, auch die sagenhaft gut vorbereiteten Choristen, zugleich als Darsteller sich ganz auf die Situation einlassen. So wird Rienzis Schwester Irene von Camilla Nylund zu einer tragenden Rolle aufgewertet. Mit so reifem wie lichtem Klang ist sie inzestuöse Geliebte des Diktators und zugleich keusche Vorzeige-Arierin mit festem Schuhwerk. Und sie ist, wie alle hier, eine Gestalt, deren Schicksal einen interessiert – nicht nur eine Figur.

Entscheidend gebrochen wird die Parallele zum realen Führerbunker aber von Wagner selbst. Zum einen durch Irenes Verlobten Adriano – eine Mezzo-Hosenrolle wie aus dem 18. Jahrhundert, Relikt formstrenger Herrscheropern, ein flammendes Bürschlein, das Kate Aldrich mit hinreißender Klarheit singt. Es ist, als hätte sich der Sesto aus Mozarts Titus in die Trümmer moderner Katastrophen verirrt, um mit dem Messer auf den Diktator loszugehen. Zum anderen tut Rienzis Volk, was die Deutschen nicht schafften, es wendet sich selbst gegen seinen "Retter“. Wo er allerdings bei Wagner einen Heldentod in Flammen stirbt, wird hier von empörter Menge ein durchgeknallter Tyrann erschlagen. Per Zeitlupe wird dieser Vorgang ins Artifizielle, Fiktive entrückt. Chor und Statisterie der Deutschen Oper begeben sich so sehr ins veränderte Zeitmaß hinein, dass man auf die Szene blickt wie auf einen anderen Planeten.

Es folgt ein Kampf der Buhs und Bravos. "Wenn man dem Stück nicht traut, soll man’s auch nicht spielen!", ruft wutentbrannt ein Besucher. Vielleicht ist es die größte Stärke dieses Abends, dass er einem hilft, misstrauisch zu sein.


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