DIE  RAKETEN  DES  TEUFELS

Vor 60 Jahren stieg die erste „V2“ in Peenemünde auf

von ARNE BOECKER (Süddeutsche Zeitung, 01.10.2002)

(Bild, Links u. Anmerkungen von Nikolas Dikigoros)

Direkt nach dem Eingang stolpert der Besucher in ein Rondell aus Burgerbuden und Nippesläden. Ein Sandstein stellt die gewagte These auf, Jagdflieger seien „die Schrittmacher der Raumfahrt“ gewesen. Zu verdanken ist das Denkmälchen deutschen, österreichischen und Schweizer Kriegspiloten, die es „in Würdigung einer zukunftsweisenden Raumfahrerleistung“ aufstellen ließen. Der Automat nebenan prägt ein Zwei-Cent-Stück unter Geratter zu einem dünnen Plättchen um. Es zeigt eine V2-Rakete über dem Umriss der Insel Usedom.

Am morgigen Mittwoch ist es 60 Jahre her, dass erstmals eine V2-Rakete erfolgreich gezündet wurde – A4 hieß sie ursprünglich, die NS- Propaganda nannte sie dann „Vergeltungswaffe“. Sie stieg am 3. Oktober 1942 vom Peenemünder Haken auf. So heißt Usedoms äußerster Nordwesten, in den die Nationalsozialisten eine Heeresversuchsanstalt geklotzt hatten. Weil die V2 aber nicht nur die „zukunftsweisende Raumfahrerleistung“ darstellte, die die Jagdflieger in den Himmel heben, sondern vielen Menschen den Tod brachte, ist der 3. Oktober ein schwieriger Gedenktag – und Peenemünde ein zwiespältiger Gedenkort.

Die Frau im Mond

Am vergangenen Samstag wurde in Peenemünde das War Requiem von Benjamin Britten aufgeführt. Unter den Gästen: Johannes Rau und Michail Gorbatschow. Am Mittwoch beginnt ein dreitägiges Symposium der Universität Greifswald: „Raketenrüstung und internationale Sicherheit“. Auf dem Areal der ehemaligen Heeresversuchsanstalt steht inzwischen das „Historisch-Technische Informationszentrum Peenemünde“. Hoch ragt der Nachbau einer V2-Rakete in den Himmel, mit schwarzweißem Schachbrettmuster, 14,036 Meter hoch; die Originale wurden durch die Verbrennung einer Mischung aus flüssigem Sauerstoff und Alkohol auf mehr als 4800 Stundenkilometer beschleunigt. Auf der Flanke prangt das Bild einer Blondine, die – nur mit Netzstrümpfen bekleidet – auf einer Mondsichel sitzt. „Die Frau im Mond“ war ein erfolgreicher Film der Ufa“, erzählt ein Guide.

Wernher von Braun, einer der Väter der V2, hatte Adolf Hitler die Jahresproduktion von 5.000 Raketen in Aussicht gestellt; jede werde eine Nutzlast von einer Tonne tragen. 50.000 dieser Raketen brauche er, habe Hitler gebrummt, die Nutzlast müsse bei zehn Tonnen liegen; und Nutzlast war nur ein anderes Wort für Bomben. [Mit je 500 Schnorchel-U-Booten und 500 Düsen-Jägern wäre der Krieg zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch zu gewinnen gewesen, Anm. Dikigoros]

Vom September 1944 bis zum Kriegsende wurden 3800 der 8000 gebauten Raketen von mobilen Rampen abgefeuert; sie töteten vor allem in Belgien und England tausendfach. Aber die V2 kostete auch in Deutschland Menschenleben: Für die Produktion schufteten sich in Harzer Bergwerksstollen Zwangsarbeiter zu Tode. Die „Vergeltungswaffe“ richtete zwar große Schäden an, doch der von den Militärs erhoffte militärische und psychologische Erfolg blieb hinter den Erwartungen zurück – die von der NS-Propaganda verkündete Kriegswende brachte sie schon gar nicht. Hitler lagen zum Schluss Pläne für Raketen vor, die sogar die USA erreicht hätten, sie blieben Papier.

Direkt neben dem Raketennachbau liegt ein Findling, der mit „Stein des Anstoßes – Im Gedenken der Opfer“ beschriftet ist. Unter dreiem Himmel zeigt das Historisch-Technische Informationszentrum in Peenemünde neben den Raketen noch Flugzeuge und Hubschrauber aus den Beständen der Nationalen Volksarmee der DDR. Ein „Feldsalonwagen“ wirbt damit, hier könne man „speisen wie Minister und Generäle vergangener Zeiten“. Unter anderem auf der Karte: „Ukrainische Soljanka“.

Während also das Außengelände in Peenemünde ein Sammelsurium bietet, in dem man sich auf der Suche nach dem Sinn leicht verirrt, leuchtet das Konzept der Ausstellung im Bauch des restaurierten Kraftwerks Peenemünde, erbaut zwischen 1939 und 1942, schnell ein – sie wurde im vergangenen Jahr komplett umgestaltet.

Schneller Aufstieg in den USA

„Was war Peenemünde: Wiege der Weltraumfahrt oder Brutstätte für Terrorwaffen?“ fragen die Ausstellungsmacher und fordern die Besucher auf, ihre eigenen Antworten zu suchen. Neben Wernher von Braun gehörte seinerzeit Walter Dornberger zu den entscheidenden Initiatoren des Programms. Dornberger betreute im Heereswaffenamt der Reichswehr die Entwicklung von Flüssigtreibstoff-Raketen. Wer im Kraftwerk den Spind mit Dornbergers Namen öffnet, stößt unter anderem auf eine Stelle aus seinen Memoiren. Unumwunden gibt er zu, dass seine Arbeit „primär militärische Ziele“ verfolgt habe.

Das Fachwissen des Raketenbauers wusste aber auch der Weltkriegsgegner zu schätzen. Nachdem Dornberger zwei Jahre Kriegsgefangenschaft abgesessen hatte, stieg er in der amerikanischen Rüstungsindustrie schnell auf. Bevor er in den Ruhestand trat und nach Mexiko übersiedelte, amtierte er als Vizepräsident der Bell Aircraft, die Militärraketen entwickelte.

Auf zwei Etagen wird die Geschichte der V2 ständig mit dem verschränkt, was sich aus „einer der folgenreichsten technischen Leistungen unserer Zeit“ ergab. So wäre die Mondlandung im Rahmen der Apollo-Mission nicht möglich gewesen ohne die Vorarbeit der Peenemünder um Wernher von Braun. Das ist die eine Seite. Die andere demonstriert eine Karte jener „Raketen für Rüstung und Raumfahrt“, die im Jahr 2000 auf der Welt stationiert waren; dazu zählen die 7450 strategischen Atomsprengköpfe der USA und die 6240 Russlands.

In dem sehenswerten Halbstunden-Film, der im Kino des Informationszentrums gezeigt wird, sagt einer der damaligen Zwangsarbeiter über die Befehlshaber von Peenemünde: „Sie waren derart interessiert an Raketen, dass sie dafür ihre Seele an den Teufel verkauft haben.“

[Anmerkung Dikigoros: Nur merkwürdig, daß diesen Vorwurf noch niemand gegenüber den Konstrukteuren und Erbauern der alliierten Bombenflugzeuge im Zweiten Weltkrieg erhoben hat. Was soll denn an Raketen verbrecherischer oder gar "teuflischer" gewesen sein als an Flugzeugen, außer daß sie ihre Bombenlast etwas weiter trugen und ohne Einsatz eines Pilotenlebens? Auf die Ladung kam es doch an, und anders als die alliierten Bomber am Ende des Krieges waren die deutschen Raketen nicht mit Atombomben bestückt; insofern ist es geradezu lächerlich, Braun und seinen Kollegen die Urheberschaft für die heutigen Atomraketen zuzuschieben.]


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