Psychodarwinismus - die Synthese von Darwin und Freud

Selektion und Schicksal: die Soziobiologen an
der Seite des postmodernen Kapitalismus

von Mark Terkessidis (Tagesspiegel, 14.08.1999)

Es war wie ein mittleres Erdbeben. Mitte der 1970er Jahre erschütterten zwei Bücher die biologische Verhaltensforschung: Edward O. Wilsons Untersuchung "Soziobiologie: Eine neue Synthese" und Richard Dawkins Bestseller und Wissenschaftsthriller "Das egoistische Gen". Mit bemerkenswerter Kühnheit fegten diese Werke bis dahin geltende Vorstellungen der Evolution hinweg: Die Einheit der von Darwin entdeckten natürlichen Selektion gründe sich nicht auf das Individuum und seine Art, sondern ausschließlich auf das einzelne, sich "egoistisch" verhaltende Gen. Die Gene, behaupteten diese Forscher, bestimmten das Verhalten der sozialen Lebewesen, also auch des Menschen.

Seit dieser Initialzündung im Jahr 1975 wird derlei atemberaubender Reduktionismus in einer eigenen Disziplin gepflegt: der Soziobiologie. Im Lauf der Jahre sind die Wissenschaftler dabei - getragen von der Superlativ-Stimmung in der Genforschung und wie auch vom Erfolg des Neoliberalismus - immer selbstgefälliger geworden. Inzwischen hält man in ihren Kreisen die Evolutionsbiologie für die Grundlage sämtlicher Sozialwissenschaften. Angesichts solch unbändiger Großspurigkeit schrecken die Soziobiologen nicht mehr davor zurück, ihre Konkurrenten zu verspeisen. So fällt etwa Sigmund Freuds Psychoanalyse in Christopher Badcocks Buch "Psychodarwinismus" der evolutionsbiologischen Einverleibung zum Opfer. Der Autor lehrt an der London School of Economics und schickt sich an, die genetischen Grundlagen von Ödipuskomplex und Penisneid offenzulegen. Aber zunächst erklärt Badcock noch einmal alle jüngeren Entdeckungen der Evolutionsbiologie - und zwar mit Hilfe der Computersimulation EVOLV-O-MATIC. Eine solche Veranschaulichung wäre eigentlich unnötig gewesen, denn die Simplizität der Theorie ist armselig: Der Welterklärungsanspruch des modernen Darwinismus gründet sich auf wenige Begriffe wie Selektion, Fortpflanzungserfolg, Mutation oder Verwandtschaftsaltruismus. Nichtsdestotrotz hat es der Computer Badcock angetan. Nachdem Darwin aus dem Programm gestiegen ist, wird der MacIntosh selbst zur Verkörperung der Freudschen "Topik" von Es, Ich, Über-Ich: Der "fest verdrahtete" ROM-Bereich etwa soll funktionieren wie das "Es". Letzten Endes aber sind damit die Gene gemeint: "Es" bedeutet nichts anderes als DNS.

Von hier aus startet Badcock zur genetischen Begründung der Psychoanalyse. Am besten gefällt mir dabei seine "Erklärung" für den Narzissmus. Da ja der Organismus als "Träger" der Gene fungiert, will er gut gepflegt sein, um im Kampf mit anderen "Behältern" zu überleben. Deswegen Narzissmus: In der Selbstliebe zeigen meine Gene Interesse an mir. Nun scheinen sich die Gene, wie Badcock feststellt, aber weit mehr für die Körper von Frauen zu interessieren als für jene von Männern: Frauen "sind" bekanntlich narzisstischer. Das hängt, so Badcock, mit der Fortpflanzung zusammen: Die Gene kümmern sich eben mehr um den weiblichen Körper, weil dieser wegen der Schwangerschaft viel mehr vom langfristigen Erfolg bei der Fortpflanzung in Mitleidenschaft gezogen wird als jener des Mannes (der ja nur befruchten braucht).

Dass gerade in Gesellschaften mit traditioneller Rollenverteilung der weibliche Narzissmus nach Heirat und erstem Kind oft dramatisch zurückgeht, während langfristig der Körper des Mannes unter Umständen viel mehr in Mitleidenschaft gezogen wird, weil dieser ja als Ernährer fungiert und deswegen auch gewöhnlich früher stirbt - solche ganz "natürlichen" Unstimmigkeiten kommen Badcock nicht in den Kopf. In seinem Reduktions-Universum ergibt alles perfekten Sinn. Nun existiert jedoch nicht der geringste Beweis dafür, dass Gene irgendein sichtbares Verhalten beeinflussen. Offenbar genügt es, dass man vom Verhalten irgendwie auf Gene zurückschließen kann, um zu beweisen, dass die Gene dafür verantwortlich sind. Wo ein paar Widersprüche bleiben, gibt es viele Hilfsbeispiele aus der unendlichen Welt der Natur. So erfahren wir, dass Homosexuelle sich verhalten wie manch "blaukiemiger Sonnenbarsch", der sich wie ein Weibchen benimmt, um dann überraschend Konkurrenten beim Fortpflanzungsrennen aus dem Feld zu schlagen. Hat nicht, fragt Badcock, die Hälfte aller Schwulen Kinder?

Im Gegensatz zu Badcocks Ego-Gen-Reduktionismus gelten die Thesen von Luigi Luca Cavalli-Sforza als eher moderat. Zudem ist er ein Liebling der Antirassisten, weil er als der Humangenetiker gesehen wird, der dem Rassismus endgültig die Grundlage entzogen hat. In seinem populären Buch "Verschieden und doch gleich", das er vor fünf Jahren zusammen mit seinem Sohn herausbrachte, wies er nach, daß der Begriff "Rasse" in genetischer Hinsicht keinen Sinn macht. Nun ist ein neues Buch des Stanford-Professors erschienen - "Gene, Völker und Sprachen" - ,das nichts Geringeres klären möchte als "die genetischen Grundlagen unserer Zivilisation". Doch wer Cavalli-Sforzas letztes Buch kennt, wird hier wenig Neues finden. Obwohl es definitiv keine "Rassen" gebe, wie er noch einmal betont, würden dennoch genetische Unterschiede zwischen menschlichen "Populationen" existieren - deren Ursprung möchte er nachgehen.

Bei der weiteren Lektüre scheint es, als hätten sich die am Anfang abgelehnten "Rassen" sowie die dazugehörige Forschung durch die Hintertür wieder hineingeschlichen. Denn der Forscher und seine Kollegen sammeln fleißig Blutproben von den Ureinwohnern der verschiedenen Kontinente, messen Genhäufigkeiten und berechnen "genetische Distanzen", sie legen Stammbäume an und vergleichen ihre Daten mit jenen über Hautfarbe und Körperbau. "Landkarten der Gene" werden angelegt, wobei man feststellt, dass der Mensch tatsächlich aus Afrika stammte und dass Sprache und Gene eng zusammenhängen. Während man früher davon ausging, "Reinheit" sei ein Überlebensvorteil, behauptet Cavalli-Sforza heute, eine Auslese begünstige die genetischen Mischungen, die "Hybriden". Die Auserlesensten in dieser Hinsicht sind wie immer die Europäer: eine "Mischlingsrasse", aber heute mit einigen Ausnahmen genetisch recht homogen. In der Zukunft, so Cavalli-Sforza, wird die genetische Entwicklung der Menschen nur noch durch Migration beeinflußt. Sein Verhältnis dazu ist gespalten. In seinem letzten Buch empfahl er noch im Hinblick auf den verstärkten Rassismus, die Einwanderung müsse gestoppt werden. Diesmal hält er es für vorteilhaft, dass die Verringerung von genetischen Unterschieden die Vorwände für Rassismus beseitige. Allerdings, so Cavalli Sforza, verändere sich aufgrund unterschiedlicher Fortpflanzungsraten der Durchschnittstypus: "Blonde, blauäugige Menschen wird es in Zukunft weniger geben."

Ist das eine bedauernde Feststellung oder ein Aufruf zum Handeln? Bei der Lektüre neodarwinistischer Bücher fühlt man sich irgendwann von Genen geradezu umzingelt: Bei Cavalli-Sforza wimmelt es von "genetisch Kaukasoiden" oder "Mongoliden" und "Genflüssen", während bei Badcock die Gene Zuständigkeiten ausbilden wie weiland in der klassischen Verhaltensforschung à la Konrad Lorenz die Triebe: Er spricht vom "Altruismusgen" oder sogar vom "Attraktivitätsgen". Beweise bleiben die Forscher auch hier im Großen und Ganzen schuldig.

Oft beginnen Werke aus der neodarwinistischen Schule mit der Feststellung, niemand zweifle heute noch ernsthaft an Darwins Postulaten. Solche Strategien der Selbstimmunisierung haben den Journalisten Reinhard Eichelbeck derart verärgert, daß er in seinem eben erschienenen Buch vom "Darwin-Komplott" spricht, von einer "großangelegten Verdummungskampagne". Nun ist Eichelbecks Buch sicher nicht die Krönung der Wissenschaft. Nichtsdestotrotz sät es grundsätzliche Zweifel am Modell des Darwinismus. Bei der Lektüre wird deutlich, wie vermessen der Welterklärungsanspruch dieser Theorie daherkommt.

Tatsächlich ist der allgegenwärtige Neodarwinismus keine wissenschaftliche Theorie, sondern eine populäre Weltanschauung - die gut in den derzeitigen Kapitalismus paßt. Im neodarwinistischen Weltbild wechseln Natur und Kultur (der Begriff Gesellschaft ist ohnehin verschwunden) die Plätze. Selbst in konservativen Theorien gab es immer die Vorstellung, die Kultur sei ein Ort der Selbsterfindung des Menschen gegen den chaotischen "Naturzustand". Doch im Neodarwinismus erscheinen Kultur und soziale Welt als schicksalhaft - es handelt sich um "menschliche Umwelt" (Badcock) oder ein "Mittel zur biologischen Anpassung" (Cavalli-Sforza). In der Natur dagegen ist schwer was los. Hier verbirgt sich die Schaltzentrale: "Im Gegensatz zu Hobbes wissen wir heute", schreibt Badcock, "dass sich eine gesellschaftliche Ordnung nur aus Eigeninteresse und durch natürliche Selektion auf der Ebene einzelner Gene spontan entwickeln kann." Gesellschaft ist das natürliche Ergebnis des freien Spiels der Ego-Gene. Sollte der Mensch etwas verändern wollen, dann nur auf der genetischen Ebene. Hier übernehmen die Kollegen aus der Abteilung Gentechnologie.

Christopher Badcock: Psychodarwinismus - Die Synthese von Darwin und Freud. Hanser, München, 1999. 284 S. , 49,80 DM.
Luigi Luca Cavalli-Sforza: Gene, Völker und Sprachen - Die biologischen Grundlagen unserer Zivilisation. Hanser. München, 1999. 251 S. , 45 DM.
Reinhard Eichelbeck: Das Darwin-Komplott. Riemann Verlag. 380 S. , 42 DM.


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