Guido Giacomo Preparata

Die Einschwörung Hitlers

Wie Britannien und Amerika das Dritte Reich verursacht haben

(Fortsetzung von Teil I)

Quelle
Conjuring Hitler: How Britain and America Made the Third Reich
Von Guido Giacomo Preparata
Taschenbuch Verlag: Pluto Press (5. August 005)
Sprache: Englisch ISBN-10: 074532181X ISBN-13: 978-0745321813


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Conjuring Hitler: How Britain and America Made the Third Reich
Dt : Die Einschwörung Hitlers: Wie Britannien und Amerika das Dritte Reich verursacht haben [Auszug]

Die Eurasische Annäherung

Die Belagerung Deutschlands im Ersten Weltkrieg 1900-1918 ...

«…Eine kleine königliche Flotte von 60 großen Schiffen oder mehr, aber im Notfall auch weniger, scheinen fast schon einen mathematischen Beweis, der an den gnädigen und mächtigen Schutz Gottes heranreicht, für eine mögliche Politik zu liefern, die dieser siegreichen britischen Monarchie eine herrliche Gewissheit bringen und erhalten wird. Dadurch werden die Einkünfte der Krone Englands und der öffentliche Reichtum sich wunderbar vermehren und gedeihen und dementsprechend lassen sich die Seestreitkräfte dann weiter ausbauen. Und so wird sich der Ruhm, das Ansehen, die Wertschätzung und Liebe, und die Furcht vor diesem Britischen Mikrokosmos über das ganze weite Erdenrund rasch und sicher ausbreiten.»
John Dee, Die Brytish-Monarchie [1577].[1]

Das Zweite Reich: Die Tragödie eines imperialen Neubeginns

Die plötzliche Machtentfaltung des Deutschen Reichs in der zweiten Hälfte des neun-zehnten Jahrhunderts nötigte das britische Commonwealth, mit einem durchgreifenden Manöver gegen die kontinentale Landmasse der Welt vorzugehen. Hauptziel war, vorbeugend eine dauerhafte Allianz zwischen Russland und Deutschland zu verhindern. England ging gegen diese mögliche Vereinigung vor, indem es einer Tripelallianz zwischen Frankreich und Russland beitrat, die das deutsche Reich einkreisen sollte (1907). Nach Ausbruch des Krieges wurde die Operation ausgeweitet, indem man den Beistand der Vereinigten Staaten in einer Phase gewann, als die russische Seite der Tripelallianz einzubrechen drohte (1917). Als sich im Osten eine gefährliche Lücke auftat, beeilte sich Großbritannien, sie dadurch zu schließen, dass es ein liberales Experiment unter einem Strohmann – einem Rechtsanwalt namens Kerensky – ermutigte. Es sollte schon nach wenigen Monaten scheitern. Inzwischen griff man als mögliche Alternative auf revolutionäre Nihilisten, die so genannten Bolschewiken, zurück. Diese standen unter dem Kommando des radikalen Intellektuellen Lenin und wurden durch ein labyrinthisches Netzwerk organisierter Subversion und obskurer ‹Agenten›, wie dem Russen Parvus Helphand, nach Russland gebracht. Man hegte dabei die Erwartung, dass sich aus diesem Zustrom ein despotisches Regime ergeben würde, deren Ausrichtung (Materialismus, Antikirchlichkeit und Antifeudalismus) das Gegenteil der Einstellungen im Deutschen Reich darstellen würde. Die Einbindung der Vereinigten Staaten war Teil einer breiteren Beteiligung. Diese reichte von der militärischen Verstärkung an der Westfront bis zur zionistischen Propaganda für die gemeinsame Besetzung Palästinas (zusammen mit England), das sich als lebenswichtige geopolitische Zone an der Grenze zwischen West und Ost heraus-schälte. Die Niederlage des Reichs am Ende des ersten Weltkriegs (1918) besiegelte die Erste Stufe der Vernichtung Deutschlands. Wenn wir den Aufstieg der Nazi-Ära und den Konflikt zwischen England und dem deutschen Reich verstehen sollen, müssen wir zuerst die internationalen Beziehungen der jungen deutschen Nation ab 1870 untersuchen.

***

Um 1900 war schon alles klar.

So unwahrscheinlich es auch erschienen sein mag, aus dem nachnapoleonischen Morast war das deutsche Reich aufgetaucht. Aus einem Durcheinander zerstrittener Für­stentümern hatte sich schließlich eine Nation zusammengefunden. Sie war durch ‹Blut und Eisen› um den militärischen Kern der streitbarsten Provinz, dem Königreich Preußen zusammen gebacken worden und bot sich in den 1870er Jahren den Augen des Westens als das Zweite Deutsche Reich dar.

Es war ein instabiles Konglomerat, eine Verbindung aus feudalen Bestrebungen und enormen wissenschaftlichen Leistungen. Schließlich handelte es sich um die wunderli­che Ehe zwischen der unbesiegbaren preußischen Armee und der besten Musik, Physik, Chemie, Volkswirtschaft, Historiographie, Philosophie und Philologie, die der Westen zu bieten hatte. Ein furchtbarer Anfang.

Und schon bald weckte dieser deutsche dynastische Staat, der sich seiner Möglichkei­ten bewusst war und vor Selbstvertrauen geradezu platzte, die Neugier des Großen Briti­schen Commonwealth.[2] Anfangs hatte England der deutschen Politik kaum Auf­merksamkeit geschenkt, da Großbritannien zu sehr von der französischen Konkurrenz in Sachen Kolonien und von seinem ‹Großen Spiel› in Zentralasien in Anspruch genommen worden war. In diesem wurden seine militärischen Kräfte durch die Kräfte des zaristi­schen Russlands gebunden.[3]

 Deutschland war zu zersplittert, um etwas von der geopoli­tischen Aufmerksamkeit der britischen Generäle in Anspruch zu nehmen. Nicht dass der deutsche Handel für England unwichtig gewesen wäre: das Gegenteil war der Fall. Doch als die Charakteristik des Handels zwischen England und Deutschland sich unter Leitung des Meistertaktikers und Kanzlers des Reiches, Otto Bismarcks (1870-1890), allmählich umkehrte, das heißt, als Deutschland aufhörte, nur noch der Lieferant von Nahrungsmit­teln für das Vereinigte Königreich und Empfänger seiner Industrieerzeugnisse zu sein, und statt dessen selbst zur wachsenden Industriemacht wurde, begannen das britische Auswärtige Amt und dessen zugehörige Clubs über die Angelegenheit mit einiger Besorg­nis nachzudenken.[4]

Offensichtlich profitierten die Deutschen von den Möglichkeiten der Übernahme. Sie hatten den Vorteil, ihren europäischen Gegenspielern ein breites Spektrum an technolo­gischen Kenntnissen abzugucken. Sie vervollkommneten diese ohne die Belastungen und verlorenen Kosten der Erstentwicklung auf dramatische Weise. Doch auch ohne diese Behinderung bleibt die Industrieproduktion problematisch. Um den Herstellern Profit einzubringen, kann sich das nationale Gewerbe kaum auf die heimischen Märkte verlas­sen. Diese dürften zu eng und zu schnell gesättigt werden. Wo konnte man den Über­schuss, der letztlich den Profit bringt, absetzen? Wo lud England den seinen ab? In seinen Kolonien. Daher drängte auch Deutschland auf ‹einen Platz an der Sonne›.

Die anfallenden nationalen Kosten für die Ausrüstung von Kriegsschiffen und über­seeische Konsulatsverwaltungen, die in der Regel den Geldgewinn der geschützten Kon­zerne weit überwogen, wurden wie immer der Öffentlichkeit aufgehalst. Tatsächlich dienten die Kolonien auch als bequemer Ausgangspunkt für imperiale Intrigen. Obwohl der imperial denkende Kanzler Bismarck es vorgezogen hatte, Deutschlands kontinentale, das heißt, mitteleuropäische Position durch ein Geflecht dauerhafter diplomatischer Abkommen inmitten der anderen ‹großen Spieler› (England, Russland, Österreich-Ungarn und Frankreich) zu festigen, so wirkten die handfesten Interessen der Wirtschaftsunter­nehmen überzeugend genug, um den Eisernen Kanzler umdenken zu lassen, und ihn dazu zu bewegen, den Anspruch des Reichs auf Kolonien abzusegnen. Dies geschah in der ersten Hälfte der 1880er Jahre.

–2 – Wie zu erwarten standen die Kosten für das Vordringen des Reiches in Afrika (Süd­westafrika, Togo, Cameron, ein Teil von Tanganjika), am Pazifik (ein Teil von Neu Gui­nea, der Solomon, Marshall und Carolinen Inseln), und im Fernen Osten (die Handelsnie­derlassung an der Kiao-Chao Bucht, mit seiner damaligen kolonialen Architektur, meis­terhaften Kanalisation und dem modischen Strandurlaubsort von Tsingtau) in keinem Verhältnis zu den Gewinnen aus der Förderung von Rohstoffen und der Erzeugung von Nahrungsmitteln. Deutschland erwarb ‹Kolonialgebiete›, die viermal so groß waren wie es selbst.[5] Trotz erstens der öffentlichen Ausgaben, um den Handel durch ‹die Fahne› abzusichern, zweitens der ernst gemeinten Verpflichtung des Deutschkolonialen Frauen­bunds, das dürftige Corps deutscher Siedler (1914 waren es etwa 25.000, einschließlich der Soldaten) mit deutschen Frauen zu versorgen[6] und drittens des recht raschen Umsatzes deutscher Investitionen in Hanf, Phosphate, Kakao und Gummi, wurden diese territoriale Erwerbungen von den herrschenden Kreisen als ‹traurige Enttäuschung› bewertet.[7] Sie waren zu kostspielig, zu dornig. Den Deutschen fehlten jene imperiale Dreistigkeit im Umgang mit den Eingeborenen, sie kannten nicht jene ruhige Gelassen­heit, mit der sich der britische Sahib (Herr) vor Ort in das ‹Gemüt› der Menschen einnis­tet, um es fest im Griff zu halten.

Natürlich erlebten die Deutschen eine Reihe gewaltsamer Aufstände ihrer einge­borenen Untertanen – sie taten nichts anderes, als diese schonungslos niederzuwerfen. Bismarck wurde ungeduldig, die Berliner Großbanken zeigten kein Interesse an diesen exotischen Experimenten, und inzwischen ärgerte sich das Britische Reich zunehmend über das Vordringen der Deutschen an ihrer Peripherie: Trotz seiner reichen Kultur war das Reich zweifelsohne ein imperialer Neuling in der Welt. Herbert Bismarck, der Sohn des Kanzlers, gestand in seiner Funktion als Insider, dass das Beharren auf der Kolonialpo­litik ‹populär war und gerne übernommen wurde, um [Deutschland] jederzeit in einen Konflikt mit England zu bringen.›[8]

Die Deutschen verlangten Aufmerksamkeit. Sie wollten mit ihren britischen Vettern das Kondominium über die Welt teilen, und schließlich auch mit ihnen zusammensto­ßen, was, wie sie vermuteten, nur ein Zusammenstoß von kurzer Dauer sein würde. Es schien, als würde Deutschland den Wettkampf um seiner selbst willen suchen – einen Wettbewerb, der in der Vorstellung der deutschen Regierenden und genau so der nationa­listischen Intellektuellen, aufgrund der geschichtlichen Entwicklung theoretisch zu einer ‹Wachablösung› zwischen England und Deutschland führen sollte, zu etwas Ähnlichem wie dem Übergang vom spanischen zum britischen Reich im siebzehnten Jahrhundert.

Während Bismarck jun. seine imperialistische Begeisterung nicht verbarg, sollte der spätere Kanzler Bernhard von Bülow (1900-09) Jahre später in seinen Memoiren verächt­lich sagen, die Deutschen hätten überhaupt keine politischen Fähigkeiten.[9] Möglicher­weise war das alles richtig, doch hat es sich nicht gut für Deutschlands nationale Sicher­heit ausgewirkt. Der fähigste Forscher auf dem Gebiet, der norwegisch-amerikanische Sozialwissenschaftler Thorstein Veblen bemerkte dazu 1915:

Zweifellos spielt die Vorliebe für tief greifende Überlegungen in den Gewohnhei­ten der Kulturschaffenden in Deutschland eine große Rolle. Doch will nichts tief­gründiger und penibler überlegt sein als der nächste angemessene Schritt eines Menschen, der nicht mehr weiß, wohin er geht, obwohl er unterwegs ist.[10]

Weil sie nicht wusste, worauf sie letztlich abzielte, konnte die deutsche imperiale Politik für laienhaft gehalten werden, doch für den Beobachter von außen stellten sich die Tatsachen auf Dauer anders dar. Er sah einen gebildeten ‹Ameisenhaufen›, angefüllt mit Verfahren und Vermutung, die auf Expansion aus waren. Und Expansion betrieb man: Trotz seiner Naivität in den Künsten imperialer Intrigen legte das Reich, wo immer es ging, Eisenbahnstrecken an – und zwar höchst entwickelte –, baute ein beneidenswertes Netz aus Handelsniederlassungen aus, führte eine tadellose Verwaltung ein, und hoffte schließlich das alles mit der Ausbreitung seiner unübertroffenen Künste und Wissen­schaften zu krönen. Obwohl politisch nicht so erfahren wie die Briten, war es trotzdem ein Konkurrent von beunruhigender Brillanz. Die Deutschen einzudämmen, herauszu­fordern, und zu besiegen war keine einfache Aufgabe.

Um 1890 war zugegebenermaßen nicht einmal der Meisterstratege Bismarck, der damals vom neuen Kaiser Wilhelm II entlassen wurde, in der Lage, für Deutschland einen ‹neuen Kurs› festzulegen. Er hat klar begriffen, jedenfalls hat er das im Nachhinein betont, wie wichtig es war, sich nicht mit Russland zu verfeinden, obwohl das angesichts der Tatsache, dass Deutschlands nächster Verbündeter, das österreichische Reich, ewig mit Russlands Bestrebungen in Osteuropa im Streit lag, sich als äußerst schwierig erwiesen hat. Daher ist Bismarcks Ziel, eine feste Allianz zwischen den drei kontinenta­len Souveränen (der Dreikaiserbund) niemals verwirklicht worden. So dann wurden die vorsichtigen, ‹freundlichen› Fühler, die er nach England ausstreckte, in London immer nur mit Argwohn aufgenommen. Da sich das Reich seit einiger Zeit dreist als Rivale gegeben hatte, blieb England nur übrig, den Grad der Feindseligkeit des Reiches abzu­schätzen. Aber das war, wie oben erwähnt, für Deutschland selbst eine völlig unklare Angelegenheit.

Sicher war nur, dass Frankreich für Deutschland im Rahmen der wechselnden Allian­zen ein ‹hoffnungsloser› Fall war: 1871 hatte sich das neu ausgerufene Reich, nach dem Deutsch-Französischen Krieg das an Industrie reiche Elsass-Lothringen zurückgenom­men. Von da an bestand ein eingeschworener Hass zwischen den beiden Mächten. Bis zum Zeitpunkt seiner Entlassung hatte Bismarck auch recht wenig unternommen, um das Unbehagen Englands zu beruhigen.

Insgesamt bestand das Wesen all des endlosen diplomatischen Hin und Her in dem ungelösten politischen Minderwertigkeitskomplex der Deutschen gegenüber den Briten. Kaiser Wilhelm II, der Enkel Königin Victorias, Bismarck, Admiral Tirpitz, der künftige Vater der Deutschen Reichsflotte, und eine Großzahl der deutschen Granden sprachen fließend Englisch und waren in der Lebensweise des britischen Oberschicht ausgebildet. Die Anziehungskraft von Mutter England, die Faszination ihrer Machtausübung auf die Deutschen war stark. Doch war das Deutsche Reich insgesamt ein ‹ganz anderes› Geschöpf. Es wünschte sich nur ein etwa gleichstarkes imperiales Händchen, um sich bemerkbar zu machen. Und das versuchte es mit allem, was es hatte - und das war beträchtlich viel, wie die Verbündeten zwei Jahrzehnte später feststellen sollten, aber eben nicht genug.

Nach Bismarcks Entlassung kam mit Wilhelm II. ein neuer Kurs. Aber dieser ‹neue Kurs› war ‹eigentlich› nur die Fortsetzung des alten. Er machte die frühere Ausrichtung nur noch deutlicher und legte seine verschwommenen, mittelfristigen Ziele offen dar. Kurz gesagt, die Auseinandersetzung mit England – eine Auseinandersetzung die durch Flottengeplänkel, mutige Diplomatie und wirtschaftliche und technologische Errungen­schaften gelöst werden sollte.

In dem umfangreichen Strom gelehrter Produktionen, die sich mit dem Zweiten Reich und der Gründerzeit (die ‹Gründungsepoche› der deutschen imperialen Hegemonie im späten neunzehnten Jahrhundert) befassten, wurde viel Aufhebens um Wilhelms II infantile Eskapaden und seiner launische Oberflächlichkeit gemacht. Viele katastrophale Aktivitäten wurden der neurotischen Scham des Kaisers über seine Verwachsungen an der linken Hand und am Unterarm zugeschrieben. Abgesehen von solchen gängigen, psychologischen Erklärungen, die dankenswerter Weise wieder aus der Mode kommen, dürfte die Bemerkung treffender sein, dass die bleibende Tendenz von Deutschlands –4 – neuem Kurs nichts mehr zu sein schien, als dass es auf besorgniserregende Weise seinem Niedergang entgegen trieb. Wie ein deutscher Historiker kürzlich beobachtete, war Wil­helm II nicht der Schöpfer deutscher Hybris, sondern nur einer, der sie am auffälligsten auslebte[11].

Somit spürte Großbritannien am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, wirtschaftlich gesprochen, den heißen Atem Deutschlands und Amerikas im Nacken. Doch die bloße Anerkennung dieser Tatsache auf Seiten Großbritanniens schöpfte die Angelegenheit kaum aus. Amerika sprach ein passables Englisch, konnte sich ‹liberal› gebärden und war, wohl das Wichtigste, wie Großbritannien eine Insel: Amerika konnte also kaum eine Bedrohung darstellen. Dagegen war die deutsche Sprache dem Englischen nur entfernt verwandt, Wilhelmshaven lag nahe bei Dover. Deutschland stand auf dem Kontinent vor seiner Türe. Und da war noch etwas.

Flottengeplänkel...

Ende des Jahrhunderts wurde offenkundig, dass Wilhelm II begeistert das Projekt zur Erweiterung der kaiserlichen Marine unterstützte. Im Inneren warnten natürlich die Kos­mopoliten, Sozialisten und Liberalen, dass ein solcher Kurs sicher eine Auseinanderset­zung mit England bedeuten würde. Ebenso dachten die konservativen Großagrarier: Eine große Flotte bedeutete so etwas wie Freihandel und hohe Steuern. Das Reich brachte die Landbesitzer, die so genannten Junker mit Schutzzöllen zum Schweigen und machte dadurch unter dem Jubel der großen Mehrheit des Landes, der Liberalen, der Katholiken, der Gesamtdeutschen, der reichen Couponschneider und der nicht so reichen sozialisti­schen Unterklasse den Weg für die Flottenbemühungen frei. Sie alle waren auf die eine oder andere Art ‹Nationalisten›. Damals galt es als unschicklich, nicht gemeinsam auf die vielen, erstaunlichen Errungenschaften des jungen Reiches stolz zu sein und das zu zei­gen.

Propaganda, Demonstrationen und als Antwort auf den deutschen Hurrapatriotismus dem durchschnittlichen Briten im patriotischen Taumel einen ‚ordentlichen Hass› ein­zubläuen, war für die britischen Gouverneure und ihre verlässlichen Presseorgane schon zur Routine geworden. Diese Dinge ließen sich bei Bedarf mühelos in Gang bringen[12]. Doch das deutsche Vordringen in die Gewässer der Nordsee und mit der neuen Flotte darüber hinaus, voraussichtlich auf die Ozeane der Erde, weckte, gelinde gesagt, in Groß­britannien eine schwerwiegende Besorgnis. Damit war das Reich zu weit gegangen. Es war an die Werkzeuge zur Handhabung des britischen Empires selbst vorgedrungen, an die heilige ‹Königliche Marine›. Sie war seit den Tagen des prophetischen John Dee im elisabethanischen Großbritannien das Hauptinstrument zur Eroberung der Welt. John Dee war der Astrologe der Königin, ihr Kartograph, Okkultist und Geheimdienstchef.

Die Deutschen verstanden einen Sachverhalt intuitiv nur zu gut. Sie verstanden all­mählich, dass sie, wenn es ihnen gelang, ihre Kontinentalmacht – die sie leicht ausüben konnten, da die preußischen Divisionen im Herz Europas die besten der Welt waren, ­mit einer mächtigen Flotte, ihrer militärischen Force De Frappe zu verbinden, mit Sicher­heit der Großbritanniens überlegen waren.

Damit rückte also die Frage der Allianzen in den Vordergrund. Intuitiv wussten die Deutschen seit Bismarcks Zeit, dass sie sich unmöglich in eine Falle zwischen den ‹hoff­nungslosen› Franzosen und den zweideutigen Russen setzen durften. Ein längerer Zwei­frontenkrieg musste, wenn es schon zum Kampf kommen sollte, vermieden werden. Aus diesem Grund hat Bismarck es immer vermieden, sich mit Russland ganz zu verfeinden. Doch die plumpen, antislawischen Intrigen des österreichischen Partners im Balkan stan­den dem im Weg. Das österreich-ungarische Reich war der weiche Unterleib des Reiches. Der Deutsche Generalstab war sich dieser Belastung bewusst und erfuhr das mit Bedau­ern. ‹Wir sind an eine Leiche gefesselt› sollten Generäle schon im ersten Monat nach –5 –  Kriegsbeginn geklagt haben.[13] Doch zunächst blieb Österreich der natürliche Verbünde­te, weil es die Fortdauer der deutschen Herrschaft über Südosteuropa gewährleistete, und weil zudem die Österreicher gut Deutsch sprachen. Es sei daran erinnert, dass das Wien am Ende des Jahrhunderts, obwohl es vermehrte Anzeichen der Dekadenz aufwies, eine Vorhut, wenn nicht sogar die Vorhut der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten der ‹Deutschen› war – jedenfalls ein Schmelztiegel von außergewöhnlicher Erfindungsgabe, der Paris in nichts nachstand. Das ist hinsichtlich unserer Überlegungen von Gewicht.

Die Österreicher sprachen Deutsch und die Preußen waren überzeugt, sie könnten auf jeden Fall die große europäische Rasse voran bringen. Sie glaubten, sie könnten die beträchtlichen militärischen Unzulänglichkeiten des Habsburger Reiches reichlich wett­machen. Alle diese Erwartungen waren offensichtlich unangemessen. Während das Reich in seinen Unklarheiten schwelgte, verlor Großbritannien keine Zeit.

Um 1900 war den Briten klar geworden, dass Deutschland tatsächlich an ‹ihnen vor­bei ziehen› konnte. Es konnte Großbritannien überholen und eine (für das Reich) vorteil­hafte, aber vorübergehende Lähmung der europäischen Angelegenheiten auslösen. In die­ser Zeit konnte es sich wieder gegen Frankreich wenden, um es ein für alle Mal zu befrie­den und dann seinen Blick auf Russland werfen. Russland könnte vom Reich entweder in eine feste Allianz eingebunden werden, in der die Deutschen offensichtlich die Russen dominieren würden, oder als Alternative dazu könnten die Russen allmählich dazu genö­tigt werden, sich den preußischen Armeen zu unterwerfen. In beiden Fällen würde sich der britische Alptraum bewahrheiten. Wenn Deutschland und Russland sich in der einen oder anderen Form vereinigen würden, würde die Eurasische Annäherung eintreten; das heißt, es würde ein tatsächliches eurasisches Reich im Zentrum der kontinentalen Land­masse entstehen. Dieses könnte sich auf eine riesige slawische Armee und deutsche tech­nologische Meisterschaft stützen. Und so etwas konnte das Britische Empire niemals zulassen, denn es würde seiner Vorherrschaft einen Todesstoß versetzen.



[1] Robert Deacon, John Dee. Scientist, Astrologer & Secret Agent to Elizabeth I (London: FrederickMuller,1968), S. 92, 94.

[2] Thorstein Veblen, Imperial Germany and the Industrial Revolution (London : Macmillan & Co,1915, S. 50 ff

[3] David Fromkin, A Peace to End All Peace. The Fall of the Ottoman Empire and the Creation of theModern Middle East (New York: Avon Books, 1989), S. 27.

[4] Paul M. Kennedy, The Rise of Anglo-German Antagonism, 1860-1914 (London: Ashfield Press1980), S. 41-58.

[5] Michael Balfour, The Kaiser and His Times (New York: W. W. Norton & Co., 1972), S. 54-55.

[6] Paolo Giordani, L'impero coloniale tedesco (Milano: Fratelli Treves, 1915), S. 30, 89 ff.

[7] Balfour, The Kaiser, ebd

[8] Kennedy, Anglo-German Antagonism, S. 110.

[9] Bernhard von Bülow, La Germania Imperiale (Prodenone: Edizioni Studio Tesi, 1994 [1914]), S. 87.

[10] Veblen, Imperial Germany, S. 231-232.

[11] Michael Stürmer, L'impero-Inquieto, 1866-1918 (Das ruhelose Reich, Bologna: Il Mulino, 1993[1983]), S. 326.

[12] Kennedy, Anglo-German Antagonism, S. 362.

[13] S.L.A. Marshall, World War I (Boston: Houghton Mifflin Company, 1992), S. 114.

zur Fortsetzung (Teil 3)