Polenfeldzug 1939: Ein erwarteter "Überfall"

von Wolfgang Greber (Die Presse, 31. August 2014)

Anmerkungen und Links: Nikolas Dikigoros

Am 1. September 1939 griffen deutsche und slowakische Truppen (Polen hatte im Oktober 1938 nach dem Münchner Abkommen Teschen besetzt) Polen an und warfen es zusammen mit den Sowjets binnen fünf Wochen nieder. Der II. Weltkrieg hatte begonnen. Von verbreiteten Irrtümern über die Eroberung Polens und deren Bedeutung in Hitlers Gesamtplan.

Als am 1.September 1939 mit dem Angriff deutscher Truppen auf Polen der Zweite Weltkrieg begann, kam dieser „Überfall“, wie er genannt wird, in Wahrheit nicht überraschend. Der Konflikt zwischen beiden Staaten hatte sich seit Monaten zugespitzt, deutsche Kräfte sammelten sich seit etwa 20. August an der Grenze, auch Polen machte seit spätestens 22. August teilweise mobil.

Als Hitler dann seine erste Angriffsorder – für 26. August – wenige Stunden vor dem Startzeitpunkt zurückzog, waren Dutzende Divisionen in Grenznähe marschbereit, fuhren Voraustrupps zur Grenze. Den Polen blieb das nicht verborgen. Sie warteten schon. Der spätere Generalfeldmarschall Erich von Manstein (1887–1973) schrieb in seinen Memoiren „Verlorene Siege“: „Jetzt konnte von Überraschung des Gegners keine Rede mehr sein. Das Überraschungsmoment war aus der Hand gegeben.“

Kein Spaziergang

Überhaupt war der Feldzug kein „Spaziergang“, wie der Mythos es lehren will. Viele der etwa 59 deutschen und drei slowakischen Divisionen (1,5 Millionen Deutsche, 50.000 Slowaken), die gegen 38 Divisionen und 15 Brigaden zogen (950.000 Mann), hatten arge Probleme: Die Truppe war nervös, die Kraft der Luftwaffe wurde überschätzt. Bei Tschenstochau fuhr die 4. Panzerdivision am ersten Tag in einen Hinterhalt von Kavalleristen. Die schossen mit Kanonen 30 bis 50 Panzer und Dutzende Fahrzeuge ab, machten Gefangene und wichen erst in der Nacht.

Sicher, die deutschen Armeen kamen rasch in Fahrt, umgingen die meist grenznahen Feindarmeen, zersplitterten sie, banden Reste in „Kesseln“ und überrollten die Reserven. Polens Führung floh am 7.9. nach Brest-Litowsk, tags darauf rollten Panzer in Warschaus Vororte. Eine Offensive der Polen an der Bzura nördlich Łódź ab 9.9. gegen die Flanke der 8. deutschen Armee drohte diese zwar zu sprengen, wurde aber bis 19.9. zerschlagen. Polen war gewiss ab 17. September verloren, als im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts sieben Sowjetarmeen mit einer halben Million Mann und 4.000 Panzern ins von Truppen großteils entblößte Ostpolen stießen. Die Polen gaben allmählich auf, am 28. September fiel Warschau. Am 6. Oktober war alles vorbei.

Klar war Polens Niederlage vorbestimmt. Die Wehrmacht war bei Zahl und Material überlegen, ebenso die Luftwaffe (gut 2000 gegenüber 800 Fliegern, von Letzteren angeblich nur 463 einsatzfähig). Viele Armeen der Polen waren zu nah an der Grenze, es mangelte an Flak, PaK und Panzern. Die deutschen Verluste waren indes mit 17.000 Toten gegenüber 70.000 Polen beträchtlich. Noch während des Feldzugs begann das NS-Regime auch mit gezielten Massenerschießungen polnischer Zivilisten. Nach vorbereiteten Fahndungslisten ermordeten eigens aufgestellte Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst bis Ende 1939 etwa 60.000 polnische Staatsbürger, darunter Lehrer, Ärzte, Juristen, katholische Priester und Vertreter von Parteien und Arbeiterbewegung. Auch 7000 polnischen Juden fielen den Massakern zum Opfer. Es war der Auftakt des großen Sterbens, an dessen Ende 65 Millionen Tote standen... (Anm. Dikigoros: Darunter 10 Millionen Deutsche - davon rund die Hälfte Zivilist[inn]en -, zzgl. 10 Millionen nach der Kapitulation vertriebene und/oder ermordete Volksdeutsche aus Osteuropa.)

Polnischer Widerstand

Die meisten deutschen Panzer (Typ I und II, ausgestattet nur mit MGs bzw. 20-mm-Kanonen) waren unterbewaffnet und zu dünn gepanzert.

Vom größeren Panzer III bzw. IV (50- bzw. 75-mm-Kanone) gab's nur gut 300 Stück. (Anm. Dikigorso: Den Panzer IV gab es noch gar nicht; es gab bloß ein paar Panzer III, denen man - probehalber - eine größere Kanone aufmontiert hatte.) Viele Divisionen verloren die Hälfte des Fuhrparks. Und: Die Wehrmacht war nicht besonders motorisiert. Es gab nur sechseinhalb Panzerdivisionen, vier „leichte“ Divisionen (Mix aus Panzern und Infanterie), fünf motorisierte Infanteriedivisionen; die Masse marschierte wie 1914 zu Fuß. (Anm. Dikigoros: Es gab noch nicht genug Benzig. Rumänisches Erdöl floß erst ab 1940, weil die Königin der - angeblich "neutralen" - Niederlande als Hauptaktionärin der Erdölfelder bei Plojest' die Erfüllung des zwischen dem Deutschen Reich und Rumänieni geschlossenen Liefervertrags verhindert hatte.) Die mobilen Truppen waren aber ein Schlüssel zum Erfolg.

Die Polen fochten hart: Der deutsche Feldzug 1940 im Westen dauerte nur eine Woche länger, dabei waren Franzosen, Briten, Belgier und Holländer zusammen überlegen. An Verlustzahlen und Munitionsverbrauch zeigt sich, dass die Zerstörung einer polnischen Division 1939 dreimal teurer kam als 1940 die einer größeren und besser bewaffneten alliierten.

Polen ritten auch nicht zu Pferd gegen Panzer: Der Mythos wurzelt im Gefecht bei Krojanty nahe Danzig, wo am 1.9. ein Ulanenregiment marschierende Infanterie angriff und unerwartet auf Panzer traf, die es niederschossen. Die Reiter der 13 Kavalleriebrigaden pflegten sich nämlich dem Gegner zu Pferd nur zu nähern, um abgesessen zu kämpfen. (Anm. Dikigoros: Es waren also eigentlich keine Kavalleristen, sondern Dragoner. Aber wer mal versucht hat, vom Pferderücken aus - womöglich noch im Galopp - zu schießen - mit einem der alten Gewehre, die noch bis in die 1970er Jahre, d.h. vor Einführung des US-amerikanischen "M 16" und seiner Nachbauten, einen ordentlich Rückstoß hatten, weiß warum. Lediglich die deutsche Reichswehr hatte ihre Kavallerie noch in dieser schwierigen Kunst ausgebildet.)

Und so veraltet war Reiterei 1939 auch nicht: Selbst die USA, Frankreich oder Deutschland hatten noch Kavallerie. Unwahr ist auch, dass Polens Luftwaffe schnell zerstört wurde: Ihr Gros hatte man im August auf geheime Pisten verlegt, so wurden anfangs nur Übungsflugzeuge und defekte Flieger am Boden zerstört. Mehr als zwei Wochen lang beschossen polnische Flugzeuge deutsche Kolonnen.

Polens Führung floh am 18.9. nach Rumänien. Mehr als 100.000 Soldaten schlugen sich ins Ausland durch und verstärkten die Alliierten. Etwa hundert Flugzeuge landeten in Rumänien, wurden beschlagnahmt und in die dortige Luftwaffe übernommen; die polnischen Piloten gingen zur Royal Air Force.

Hitlers Urtrieb „Lebensraum“.

War der Krieg zwingend? Was war sein Platz in Hitlers Plänen? Gestützt auf die Biografie „Hitler“ von Joachim C. Fest von 1973, das Standardwerk „Geschichte des Zweiten Weltkriegs“ des Briten Basil Liddell Hart (1970) und Mansteins Buch von 1955 lässt sich destillieren: Ein großer Krieg war das Letzte, was Hitler wollte. Ja, er ignorierte den Vertrag von Versailles (Anm. Dikigoros: Nein, er ignorierte ihn nicht, sondern kündigte ihn auf), ließ aufrüsten (Anm. Dikigoros: Ja, aber nur ganz wenig, viel weniger als zur gleichen Zeit die Westalliierten und erst recht als die UdSSR), 1936 das entmilitarisierte Rheinland wiederbesetzen, schloss 1938 das Sudetenland und Österreich dem Reich an. (Anm.: Im Einklang mit dem von Wilson lautstark propagierten Selbstbestimmungsrecht der Völker, die genau das wünschten!) In all dem hatte er ob der Passivität der Franzosen und Briten Rückenwind, ja mehr: Hart betont, dass die britischen Regierungen ein Erstarken und eine (mäßige) Expansion Deutschlands nach Süden und Osten guthießen, und Berlin das wusste. Erst die Invasion in die "Rest-Tschechei" im Frühjahr 1939 verärgerte sie nachhaltig.

Freilich ging es Hitler langfristig um den sogenannten „Lebensraum“ für "sein" Volk. Den müsse man spätestens 1943 bis 1945 zu gewinnen beginnen, und zwar primär in der Sowjetunion bei gleichzeitiger Freundschaft zu Großbritannien – das ergibt sich etwa aus „Mein Kampf“, aus einem Gespräch Hitlers mit der Spitze der Reichswehr Anfang 1933 und der „Hoßbach-Niederschrift“: Das sind Notizen über einen Vortrag Hitlers vor den Chefs von Heer, Luftwaffe und Marine sowie dem Kriegs- und Außenminister im November 1937, die Hitlers Heeresadjutant, Oberst Friedrich Hoßbach (1894-1980), anfertigte.

Polen als Hitlers Partner

Polen hätte dabei Deutschlands Partner sein können: Schließlich hatten beide ab 1934 einen Nichtangriffspakt, enge kulturelle und politische Kontakte und trauten Russland nicht. Als aber Berlin ab Herbst 1938 Polen um die Rückgabe des Freistaats Danzig (Anm. Dikigoros: Wieso "Rückgabe"? Danzig gehörte doch völkerrechtlich gar nicht zu Polen!) und eine Verbindung durch den polnischen Landkorridor zwischen Deutschland und Danzig bat (Anm. Dikigoros: Merkwürdige Formulierung. Polen hatte die exterritoriale Eisenbahnlinie nach Ostpreußen, die dem Reich laut Versailler Vertrag zustand, wegen Zahlungsverzugs - das Reich war knapp an Devisen, weil es den Briten für jeden Juden, dessen Auswanderung nach Palästina es nach dem Ha'avara-Abkommen finanzierte, 1.000 Pfund, d.h. 100.000 Goldmark, zahlen mußte -, gesperrt. Hitler bot den Polen an, auf die Eisenbahnlinie zu verzichten, wenn sie statt dessen dem Bau einer exterritorialen Autobahn durch den westpreußíschen "Korridor" - auf deutsche Kosten - zustimmten) schaltete Polen aus nationalistischen und politischen Gründen auf stur; dabei hatte Außenminister Joachim von Ribbentrop Polen im März 1939 sogar den Besitz der Ukraine in Aussicht gestellt.

Als Ende März 1939 Briten-Premier Neville Chamberlain den Polen überraschend einen Militärpakt anbot und die ihn annahmen, war der Kurs auf Krieg gestellt: Hitler wusste nun, dass London seinen Ost-Drang behindern würde und er früher loslegen musste; er konnte bei Danzig nicht nachgeben, ohne sein Gesicht zu verlieren, aber wusste, dass die Briten Polen de facto kaum helfen konnten. So schloss er im August jenen Pakt mit seinem wahren Feind, Josef Stalin, in dem sie Polen aufteilten.

Nachher konnte sich Hitler 1940 ohne Gefahr im Rücken der Revanche an Frankreich widmen, und: Da jetzt Deutschland an die UdSSR grenzte, war das Tor zu Hitlers Lebensraumträumen offen. Dass es aber nicht gelang, die 1940 in Frankreich geschlagenen, doch störrischen Briten zu besiegen oder zum Einlenken zu zwingen, sollte für Hitler zur Zeitbombe werden. Manstein hieß es „die große Fehlentscheidung“, als Hitler im Herbst 1940 die Invasion Englands absagte. (Anm. Dikigoros: Da hatte Manstein wohl Recht.) Und so begann am 22. Juni 1941 jener deutsche Angriff nach Osten, der die Welt veränderte.