Das HA'AVARA-Abkommen

von Axel Meier (Shoa.de, 6.1.2004)

mit einer Nachbemerkung von Nikolas Dikigoros

[Chayim Arlosoroff (1899-1933)] Trotz der Bedrängung durch das NS-Regime war der Wunsch zur Auswanderung unter den deutschen Juden anfänglich nicht sehr ausgeprägt. Neben ihrer Verbundenheit mit Deutschland, waren der Mangel an Ländern, die bereit waren, Juden aufzunehmen und die Beschränkungen bei der Mitnahme des Besitzes die wichtigsten Hinderungsgründe. Das einzige Land, das bereit war, Juden in größerer Zahl aufzunehmen, war Palästina. Die Zionistische Weltorganisation erkannte früh die Notwendigkeit, die Palästinawanderung durch Erleichterungen bei der Mitnahme von Eigentum zu fördern. Ihr Vertreter, Chaim Arlosoroff, führte gemeinsam mit Repräsentanten der Zionistischen Vereinigung für Deutschland im Frühjahr 1933 Verhandlungen mit dem Reichswirtschaftsministerium über eine Regelung, die eine Auswanderung größeren Ausmaßes unter besseren Bedingungen ermöglichen sollte. Im August 1933 schlossen beide Seiten das Haavara (Transfer)-Abkommen, in dem folgender Mechanismus galt: Auswanderungswillige Juden zahlten ihr Vermögen bei einer der Transfer-Banken in Deutschland ein. Von diesem Geld kauften palästinensische Importeure Waren in Deutschland, die sie in Palästina veräußerten. Diese Erträge erhielten die Auswanderer in Palästina nach Abzug von Kosten wieder ausbezahlt. Da andere Formen des Kapitaltransfers ins Ausland von der deutschen Regierung massiv besteuert wurden, war der Haavara-Transfer eine relativ günstige Möglichkeit, jüdischen Besitz auszuführen. Außerdem konnte durch das Abkommen die Auswanderung mittelloser Juden ermöglicht werden, da das für die Einwanderung nach Palästina benötigte "Vorzeigegeld" in Höhe von 1.000 palästinensischen Pfund (ca. 15.000 Reichsmark) durch die Einnahmen des Warentransfers finanziert wurde. Die Vereinbarung war innerhalb der zionistischen Bewegung heftig umstritten. Zionistische Gruppen außerhalb Deutschlands unterstützten den internationalen Wirtschaftsboykott gegen NS-Deutschland und bekämpften das Abkommen, da es den Boykott unterlief und den Nazis, wenn auch in geringem Maße, dringend benötigte Deviseneinnahmen ermöglichte. Das NS-Regime war aus zwei Gründen an dem Abkommen interessiert. Zum einen sollte die Möglichkeit, Besitz mitzunehmen, die jüdische Emigration beschleunigen, zum anderen erhoffte man sich vermehrte Deviseneinnahmen durch den verstärkten Handel mit Palästina und anderen Ländern im Nahen Osten.

Während das Abkommen in den ersten Jahren seiner Existenz von den meisten Institutionen der NS-Regierung und der NSDAP unterstützt wurde, nahm ab 1935 die Kritik an dem Transfermechanismus zu. Die Reichsbank erkannte, daß die deutsche Seite durch Haavara kaum Fremdwährung einnahm, statt dessen aber das "Vorzeigegeld" mit eigenen Devisen finanzieren musste; das Auswärtige Amt stellte fest, daß der Wirtschaftsboykott gegen Deutschland keine Gefahr darstellte; der Sicherheitsdienst des SS befürchtete, daß das Abkommen die Etablierung eines jüdischen Staates in Palästina förderte, welcher den Juden als "Machtbasis" im Kampf gegen Deutschland dienen konnte. Ab 1937 wandten sich die meisten der beteiligten Regierungs- und Parteistellen von der Unterstützung des Transferabkommens ab. Die Modalitäten und der Umfang des Transfers wurden immer weiter beschränkt. Es setzte sich die Haltung durch, daß die Mitnahme von Besitz die jüdische Emigration nicht ausreichend beschleunigte. Statt dessen verstärkte das Regime den Verfolgungsdruck auf die jüdische Bevölkerung, um sie zur Auswanderung zu zwingen. Allein eine persönliche Entscheidung Hitlers, die Anfang 1938 fiel, ermöglichte die Fortsetzung des Abkommens. Offiziell wurde der Haavara-Transfer 1941 eingestellt, seit Kriegsbeginn fand jedoch kein Kapitaltransfer mehr statt. Im Rahmen von Haavara emigrierten bis 1939 mehr als 50.000 deutsche Juden nach Palästina, die Besitz im Wert von ca. 140 Mill. RM mitnahmen.

Literatur:
Avraham Barkai, German Interests in the Haavara-Transfer Agreement 1933-1939, Yearbook of the Leo Baeck Institute 35 (1990), S. 245-266
Werner Feilchenfeld, Dolf Michaelis, Ludwig Pinner, Haavara-Transfer nach Palästina und Einwanderung deutscher Juden 1933-1939, Tübingen 1972
David Yisraeli, "The Third Reich and the Transfer Agreement", in: Journal of Contemporary History 6 (1972), S. 129-148


Nachbemerkung:
Da Axel Meier in seiner Literaturliste ein Buch ausgelassen hat, das Dikigoros für wichtig hält, möchte er es noch nachtragen, nämlich:
Margret Boveri, Vom Minarett zum Bohrturm, Atlantis-Verlag, Zürich 1938

Und da diese Buch zunehmend verdrängt wird - es ist wohl zu neutral, um den streitenden Parteien in ihre jeweilige politische Agenda zu passen - möchte Dikigoros wenigstens ein paar Zeilen daraus vor der Vergessenheit bewahren. Er zitiert im folgenden aus dem [Unter-]Kapitel "Palästina und Transjordanien":

"Mit dem Jahr 1933 (d.h. seit dem Ha'Avara-Abkommen, Anm. Dikigoros) hat sich die Lage in doppelter Weise geändert. Es kommen nicht nur große Scharen jüdischer Einwanderer, es kommt auch eine riesige Menge jüdischen Geldes. Wenn sich bisher der jüdische Aufbau unüberstürzt und planmäßig entwickelt hat, mit ausgedehnter und erfolgreicher Siedelungstätigkeit, so kommt es nun zu einer Bau- und Industriekonjunktur wie in den schlimmten Jahren der Gründerzeit. Das ist nicht nur wirtschaftlich ungesund. [...] Es droht die Machtverhältnisse zu verändern. Die fünfzig- bis sechzigtausend jährlicher jüdischer Einwanderer - gegenüber knapp zehntausend in den früheren Jahren - drohen die Minderheit in absehbarer Zeit in eine Mehrheit zu verwandeln. Noch gefährlicher erscheint den Arabern aber, daß es bei der wachsenden finanziellen und wirtschaftlichen Überlegenheit der Zionisten bald gar keiner jüdischen Mehrheit mehr bedarf, um das jüdische Übergewicht im Land durchzusetzen. Die Macht der arabischen Großgrundbesitzer ist im Schwinden, die Macht der Herren über Banken und Elektrizitätswerke und Fabriken wächst. [...] Transjordanien (das heutige "Jordanien", Anm. Dikigoros) bleibt im wesentlichen in seinem primitiven Zustand. Keine Zionisten kommen herein, um die Wüste und Steppe zu bewässern und fruchtbar zu machen oder um Fabriken zu bauen. [...] Es kommt wieder auf die alte Frage hinaus, die den Zionismus schon von Anfang an gespalten hat: Soll in Palästina ein Staat entstehen, der einen großen Teil des Weltjudentums aufnimmt? Oder soll Palästina nur der symbolische nationale kulturelle und religöse Mittelpunkt für das gläubige Weltjudentum sein, dargestellt in einer Gemeinschaft, die alle Formen menschlichen Lebens erfüllt, vom Ackerbau bis zur Universität? Die praktische Undurchführbarkeit des ersten Traums scheint sich erwiesen zu haben. Aber vielleicht läßt sich die Sehnsucht "Erez Yisroel" in der Selbstbescheidung reiner verwirklichen als in einer Gesellschaftsform, die den Industriestädten von Jaffa und Haifa das Übergewicht gibt."


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