Okzitanien - eine europäische Region

von Patrick O. Steinkrüger

(Ethnos-Nation 3 [1995] Heft 1, p. 67-77)

(Links & Anmerkungen von Dikigoros)

Am 25. März 1792 traf eine Delegation der Marseiller Jakobiner in Paris ein. Damit ihre Worte von den Anwesenden der Société des Amis de la Constitution verstanden wurden, mußten sie ins Französische gedolmetscht werden. In der Folgezeit bot bei Sitzungen der Nationalversammlung sich des öfteren Graf Mirabeau als Übersetzer an, um die Reden und Schriften seiner Landsleute aus der Provence den französischsprachigen Abgeordneten verständlich zu machen. Der Revolutionspolitiker Abbé Grégoire stellte fest, daß nur etwa ein Drittel der Bevölkerung Frankreichs die französische Sprache beherrsche. Die anderen Sprachen oder patois, wie er sie nannte, müsse man, so Grégoire, »ausrotten«. Doch noch vom Ersten Weltkrieg wird berichtet, daß es Verständigungsschwierigkeiten unter den einfachen Soldaten der französischen Armee gegeben hätte, da diese sich jeweils nur in ihrer jeweiligen Muttersprache verständlich machen konnten.

Es ist offensichtlich: In Frankreich wurden und werden mehrere Sprachen gesprochen, denn neben den Franzosen existieren noch acht weitere Nationalitäten und ethnische Minderheiten innerhalb der Grenzen Frankreichs. Die Regierung in Paris leugnet dies jedoch weiterhin und hat sich bisher geweigert, die Konvention des Europarates zum Schutz ethnischer und nationaler Minderheiten zu unterzeichnen. Diese Volksgruppen sind Bretonen, Basken, deutschsprachige Elsässer und Lothringer, Flamen, Italiener, Katalanen, Korsen und Okzitanen. Als wichtigstes Identifikationsmerkmal dieser ethnischen Minderheiten und Nationalitäten Frankreichs fungiert die eigene Sprache und Sprachtradition.

Unter den aufgezählten autochthonen Minderheiten Frankreichs sind die Okzitanen, von denen in dem folgenden Beitrag die Rede sein wird, die größte Gruppe. Weitere autochthone Minderheiten in Frankreich sind die Juden, die besonders im Elsaß ansässig sind, sowie die Sinti und Roma. Dazu kommen die rezenten Immigrantenminderheiten, von denen die größte die arabische sein dürfte.

Okzitanisch - Renaissance einer Sprache und Identität

Okzitanien gehört zu den großen und traditionsreichen europäischen Regionen, die trotz der Existenz zentralistischer Nationalstaaten eine große kulturelle Vielfalt aufweisen. Der Name »Okzitanien« taucht in keinem Lexikon, auf keiner Landkarte auf. Okzitanien bildet keine politische Einheit und war auch in der Vergangenheit nie ein einheitliches politisches Gebilde. Okzitanien, das ist das andere Frankreich, der Süden. Konkreter ausgedrückt: Okzitanien ist das Gebiet, wo die okzitanische Sprache gesprochen wird. Das Sprachgebiet macht etwa das südliche Drittel Frankreichs (ca. 12 Millionen Einwohner) aus und umfaßt die Genzen der historischen Landschaften Languedoc und Provence, die ehemalige Grafschaft Nizza, das Limousin, die südliche Hälfte der Dauphiné, die Auvergne und Gascogne und den ehemaligen Pyrenäen-Staat Bearn. Außerdem wird Okzitanisch in den Piemontalpen Italiens und in einer Gemeinde Kalabriens (Guardia Piemontese) sowie in einem Tal innerhalb Kataloniens (La Val d'Aran) gesprochen, wo es trotz sehr geringer Sprecherzahl sogar offiziellen Status hat. Dort wurde es von der UNESCO in diesem Jahr zum schützenswerten Kulturgut der Menschheit erklärt.

Wieviele Sprecher des Okzitanischen insgesamt existieren, ist nicht bekannt, da bei den Volkszählungen in Frankreich, wo sich die Mehrzahl der Okzitanischsprecher befindet, die Muttersprache der Staatsbürger nicht berücksichtigt wird. Bei einer vorsichtigen Schätzung kann man von etwas mehr als einer Millionen aktiver Sprecher ausgehen.

Paradoxerweise ist die rechtliche Stellung des Okzitanischen in Spanien weitaus günstiger und besser ausgebaut als in Frankreich. Inzwischen wird aber in Frankreich einiges von offizieller Seite aus für das Okzitanische getan. Vor allem die Regionen und Kommunen fördern heute einen Großteil des okzitanischen Kulturlebens. In den 1960er Jahren nach mehr oder weniger historischen Kriterien von Charles de Gaulle als bloß administrative Einheiten eingerichtet, kommt den Regionen, die seit 1982/83 als Gebietskörperschaften existieren, eine bedeutende Rolle in kultur- und bildungspolitischen, aber auch in wirtschaftlichen Fragen zu. In Aix-en-Provence ist vor kurzem in Zusammenarbeit mit okzitanischen Organisationen und der Stadt ein Kulturzentrum eingerichtet worden. Inzwischen ist es möglich, Okzitanisch als Abiturfach zu wählen. An den Universitäten Pau, Bordeaux, Nizza, Avignon, Montpellier, Toulouse und Aix-en-Provence kann man Okzitanisch studieren, und es werden wissenschaftliche Arbeiten in okzitanischer Sprache verfaßt. Außerdem gibt es eine lebendige okzitanische Literatur, die Romane, Lyrik und Theaterstücke hervorgebracht hat.

Einsprachige Okzitanen gibt es mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nicht, da spätestens ab dem schulpflichtigen Alter die jeweilige Staatssprache zu erlernen ist. In allen okzitanischsprachigen Gebieten herrscht Diglossie, wenn nicht sogar Triglossie. Viele Einwohner Okzitaniens bekennen sich zu einer okzitanischen Identität, obwohl ihre Muttersprache das Französische ist. Das Okzitanische, das wie das Italienische, das Portugiesische usw. eine romanische Sprache ist, hat sich aus dem Latein Südgalliens entwickelt, und es steht sprachlich dem Katalanischen am nächsten. Vom Französischen, das eine Sonderstellung innerhalb der romanischen Sprachfamilie einnimmt, trennen das Okzitanische viele sprachliche Eigenschaften. Die große Nähe des Okzitanischen zum Latein läßt sich durch die längere und intensivere Romanisierung des südlichen Galliens (im Gegensatz zum nördlichen Gallien) erklären. Schon Dante stellte fest, daß man in Okzitanien mit oc bejahte. Er sprach deshalb von der lingua di oc, die sich vom Französischen, der lingua di oil, und dem Italienischen, der lingua di si, unterscheidet.

Der fremde Süden

Auch wenn von Okzitanien oder von Okzitanisch nicht die Rede ist und selbst bei den Okzitanen oft das Bewußtsein für die eigene Kultur fehlt, sind sich die Franzosen durchaus dieser Andersheit des Südens Frankreichs bewußt. Jenseits der Loire beginnt für sie der Midi, wie sie Okzitanien, das französische Baskenland und Nordkatalonien nennen. Bereits der spätrömische Herrscher Diokletian trennte das Gebiet südlich der Loire (Dioecesis Septem Provinciarum) vom restlichen Gallien ab, wozu nur noch das heutige Belgien, Nordfrankreich und die linksrheinischen Diözesen gehörten. Der Nord-Süd-Antagonismus und die damit in Zusammenhang stehende kulturanthropologische Grenze, die ungefähr entlang des Flusses Loire verläuft, stellt seit der Antike ein Kontinuum der westfränkischen und später der französischen Geschichte dar.

Ein Beweis dafür ist die Tatsache, daß bei den Bewohnern nördlich der Loire der Süden oft mit Fremdheit assoziiert wird und vielen unbekannt ist. Einer Umfrage aus dem Jahr 1992 zufolge, kennen 80% der Einwohner von Paris die Hauptstadt der Region Midi-Pyrénées, nämlich Toulouse, nicht. Das kann man sich klarmachen, wenn man bedenkt, daß von Paris aus Frankfurt am Main mit dem Zug schneller zu erreichen ist als Toulouse. Beide Städte liegen etwa 600 km von Paris entfernt. Der französische Historiker Jules Michelet erkannte schon: »Das wahre Frankreich ist das des Nordens«, womit er vollkommen Recht hatte.

Nicht immer positiv sind die Äußerungen über ihre Landsleute aus dem Süden von Intellektuellen aus dem Norden des Hexagons, die oft rassistisch anmutende Töne anschlagen. Hippolyte Taine schrieb über die Provenzalen, daß sie »zu einer sinnlichen, cholerischen und groben Rasse, ohne intellektuelle oder moralische Qualitäten« gehörten. Der Schriftsteller Joris-Karl Huysmans kam zu dem Urteil: »Diese Schokoladenrührer und Knoblauchfresser sind überhaupt keine Franzosen, sondern Spanier oder Italiener«. Prosper Merimée fand, daß die Mädchen aus Nîmes »recht hübsch [seien], aber dumm und unsauber wie alle Provenzalinnen«. Der Arzt und Schriftsteller Louis-Ferdinand Céline formulierte prägnant: »Zone des Südens, bevölkert von degenerierten mediterranen Bastarden, Handlangern, vertrottelten Heimatdichtern, arabischen Parasiten, die Frankreich lieber hätte über Bord werfen sollen. Jenseits der Loire nichts als Fäulnis, Faulenzerei, schmuddelige Vernegerung [...]«. Der Trottel aus dem Süden ist auch ein beliebtes Motiv im schriftstellerischen Werke Alphonse Daudets.

So scharf sind die Töne heute nicht mehr, die aus dem Norden kommen. Am arroganten Überlegenheitsgefühl der Franzosen, vor allem der Einwohner der Hauptstadt Frankreichs, hat sich jedoch nichts geändert.

Trobadoren und Katharer

Die Zeit der Hochblüte okzitanischer Kultur, und damit auch der okzitanischen Sprache und Literatur, war das Mittelalter. Es war die große Epoche der Trobadordichtung und der manichäischen Sekte der Katharer (von griechisch »die Reinen«), die Okzitanien im 12. Jahrhundert zur führenden Kultur des westlichen Abendlandes machte. Die Lyrik der Trobadors war eine der ersten volkssprachlichen Literaturen und hat seit ihrer Enstehungszeit bis zur Gegenwart gewaltigen Einfluß auf die Literaturen Europas ausgeübt. Vor allem die Konzeption der Liebe und die formale Gestaltung der Lyrik hat die Literaten bis in dieses Jahrhundert inspiriert. Von Galicien bis Ungarn, von England bis Sizilien wurde die okzitanische Lyrik rezipiert und diente lange Zeit als literarisches Vorbild in der Dichtung. In Deutschland war das Ergebnis des okzitanischen Einflusses die Dichtung der Minnesänger und in Frankreich dichteten die Trouvères (d.h. die französischen Minnesänger). In Katalonien war die okzitanische Sprache bis ins 15. Jahrhundert die ausschließliche Sprache der Lyrik. In England dichtete Richard Löwenherz okzitanische Verse, und in Italien wurden die Trobadors gelobt und nachgeahmt. (Anm. Dikigoros: Hier irrt der ansonsten vorzüglich informierte Patrick Steinkrüger einmal: Richard Löwenherz verbrachte - wie alle, die den vorigen Link angeklickt haben, wissen - nur wenige Monate seines Lebens in England; er dichtete entweder in seiner geliebten Normandie - er war ja Normanne - oder in seinem Stammland, das nun mal im "Midi" lag - er war als Sohn der Eleonore von Aquitanien dessen Herzog. Daß er das in seiner Muttersprache tat, war ganz normal. In Italien wurden die Trovadors zwar bisweilen gelobt, aber nur selten nachgeahmt; letzteres tat man vielmehr in Frankreich und Deutschland - dort vor allem Wolfram von Eschenbach.)

Die Geschichte der Trobadorlyrik begann Ende des 11. Jahrhunderts mit Wilhelm von Aquitanien. Nach anderthalb Jahrhunderten der Blüte bedeutete das Ende der Trobadorkultur in Okzitanien der Krieg gegen die Albigenser Anfang des 13. Jahrhunderts. Etwa 100 Jahre zuvor tauchte in Mitteleuropa eine Sekte auf, die sich Katharer nannten. Das deutsche Wort »Ketzer« hat seinen Ursprung übrigens im Wort Katharer. Von den Franzosen wurden sie »Albigenser« genannt, da eines ihrer wichtigsten Zentren die Stadt Albi war, wo sich auch ein katharischer Bischofssitz befand. Die Katharer, die sich sehr gut organisierten und viele Sympathisanten unter den südlichen Adligen und Bürgern hatten, wurden zunehmendst eine ernste Gefahr für die katholische Christenheit und damit für die päpstliche Macht. Zunächst versuchte der Papst, mit friedlichen Mitteln die Auseinandersetzung mit den Katharern zu führen und sie zu zum katholischen Glauben zu bekehren. Es wurden Legaten geschickt und Dispute geführt. Doch der Papst verlor bald die Geduld: Im Jahre 1181 wurde die erste militärische Aktion gegen das katharische Bistum Carcassonne unternommen. Als dann auch noch der pästliche Legat in Avignon ermordet wurde und der Papst dem Grafen von Toulouse, der Sympathisant der Katharer und mächtigster Herr des Midi (d.h. des Südens) war, Mittäterschaft vorwarf, war das Faß übergelaufen: Der Papst rief zum Kreuzzug gegen die Ketzer auf.

Für die französische Krone, die die Haupträgerin der militärischen Aktion unter der Führung des Simon de Montfort war, bot sich hiermit die ausgezeichnete Gelegenheit, ihren Machtbereich bis zum Mittelmeer auszudehnen und den König Katalonien-Aragons, der sich mit den okzitanischen Adligen gegen Frankreich verbündet hatte, aus Okzitanien zu verjagen. Mit ungeheurer Grausamkeit wurden die Städte des Südens von den (anglo-)französischen Truppen überfallen. Bei der Belagerung und anschließenden Plünderung von Béziers wurden beispielsweise mehr als 20.000 Menschen ermordet, von denen die Mehrheit jedoch keine Katharer, sondern römische Christen waren.

Die Tötung des katalanischen Königs im Jahr 1213 in der Schlacht von Murèth (Gascogne) brachte eine Wende zugunsten der französischen Zentralmacht. Erst im Jahre 1229 hatte das Gemetzel ein Ende, und die Gebiete des Grafen von Toulouse und der Katalanen fielen an die französische Krone. Ein Großteil Okzitaniens wurde damit Teil Frankreichs, und die französische Sprache begann sich zumindest auf dem schriftlichem Sektor auszubreiten. Bis sich die französische Kultur in Okzitanien verbreiten konnte, sollten jedoch noch viele Jahrhunderte vergehen. Dominierende Alltagssprache blieb mindestens bis zum Ersten Weltkrieg das Okzitanische.

Mit dem Ende der Albigenserkriege erlosch aber der Gesang der Trobadors, der nur noch im benachbarten Italien und Katalonien zu vernehmen war. Dazu trug sicherlich auch das Wirken der Inquisition bei, die nach dem Ende der Albigenserkriege jahrzehntelang in Okzitanien tätig war, bis gegen Mitte des 14. Jahrhunderts die Katharer in Okzitanien verschwunden waren. Doch noch im 20. Jahrhundert waren die Surrealisten fasziniert von der Liebeskonzeption der Trobadors. Es kam nicht von ungefähr, daß einer ihrer bekanntesten Vertreter, nämlich Tristan Tzara, Mitbegründer des Institut d'Estudis Occitans in Toulouse war.

Die »Wiedergeburt« der okzitanischen Kultur

Nach der Niederschlagung der Katharerbewegung und der Entmachtung der regionalen Herrscher konnte sich die politische Macht des französischen Königtums in Okzitanien konsolidieren. Mit dem Ende der Trobadordichtung verlor die okzitanische Sprache ebenfalls an kultureller Bedeutung, auch wenn in den folgenden Jahrhunderten noch einige literarische Meisterwerke entstanden und sich das Französische erst im Laufe des 16. Jahrhundert als Urkundensprache in den meisten Gebieten des Südens durchsetzte.

Erst im 19. Jahrhundert sollte das Okzitanische sein »Comeback« als Literatursprache erleben. Die Erforschung der Trobadorlyrik zur Zeit der deutschen Romantik durch die Gebrüder Schlegel, Friedrich Dietz und andere war der Beginn der deutschen Romanistik. Das Studium der okzitanischen Literatur und Sprache, die damals noch Provenzalisch genannt wurde, war eine Paradedisziplin der Romanistik des 19. Jahrhunderts.

Zur Zeit der Französischen Revolution hatte die okzitanischen Sprache auch als Schriftsprache eine wichtige Bedeutung inne. Die Schriften in okzitanischer Sprache aus der Revolutionszeit wollten eine breite Masse erreichen, die durch das Französische, das zu jener Zeit in Okzitanien kaum jemand beherrschte, nicht erreicht werden konnte und die dadurch vom politischen Geschehen ausgeschlossen gewesen wäre.

Im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Erforschung des Okzitanischen und mit dem Aufkommen der Romantik in Europa ist die Renaissance der okzitanischen Kultur und Sprache und das Enstehen eines okzitanischen Regionalismus und Nationalismus seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts zu sehen. Entscheidend war besonders für die heutige Situation die Tatsache, daß sich nicht ein okzitanischer Nationalismus herausbildete, sondern mehrere regionale Nationalismen, also ein provenzalischer, ein gascognischer usw. Nationalismus, der von der jeweiligen lokalen Elite gestützt wurde. So kam es, daß erst verhältnismäßig spät eine panokzitanische Bewegung entstand.

Das Entstehen eines provenzalischen Nationalismus ließ sich bereits im 18. Jahrhundert beobachten. In der Provence gründeten 1854 junge Okzitanen den Félibrige, eine Vereinigung, die sich die Erhaltung und Förderung der provenzalischen Kultur zur Aufgabe machte. Anfang unseres Jahrhunderts erhielt ihr Kopf, Frédéric Mistral für seinen Epos Mirèio den Nobelpreis für Literatur. Der Félibrige blieb aber eine im wesentlichen apolitische Organisation und vertrat paradoxerweise einen französischen Chauvinismus.

Für die Félibres stand der folkloristische und traditionalistische Effekt im Vordergrund. Für das Okzitanische schufen sie eine Schrift, die sich am Französischen orientierte und überhaupt keine Verbindung zur klassischen Schriftsprache der Trobadors aufwies. Man muß wissen, daß sich die okzitanische Sprache im Laufe der Jahrhunderte kaum verändert hat und daß ein Okzitane von heute durchaus in der Lage ist, einen altokzitanischen Text zu lesen. Außerdem war die Schrift der Félibres auf den Heimatdialekt Mistrals fixiert und deshalb für den restlichen Sprachraum Okzitaniens vollkommen unbrauchbar.

Später spaltete sich der Félibrige wegen sprachlicher und politischer Meinungsverschiedenheiten. Es entstand der Félibrige Rouge, der auch mit der Arbeiterbewegung in Südfrankreich (vor allem Marseille) sympathisierte. Okzitanische Intellektuelle aus den pogressiv-katholischen Kreisen des Languedoc machten sich daran, ein Schriftsystem zu schaffen, das sich an der klassischen Orthographie der Trobadors orientierte und für den gesamten Sprachraum anwendbar sein sollte.

Hintergrund dieses Strebens war der Gedanke einer okzitanischen Kulturnation, die gegenüber Frankreich Eigenständigkeit zeigen müsse. Einer der hervorragendsten Vertreter dieser okzitanischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts war Loís Alibèrt, der Mitte der 1930er Jahre eine okzitanische Grammatik mit einer Schriftnorm mitverfaßte, die heute von einem überwältigenden Teil der Schriftsteller Okzitaniens verwendet wird. Interessanterweise unterhielt Alibèrt Kontakt zu katalanischen Republikanern, während Mistral in Verbindung zu españolistischen Verbänden in València stand.

Die Orthographie des Okzitanischen ist bis heute eine Glaubensfrage geblieben, wobei sich die »Linken« an der klassischen und die »Rechten« an der französisierten Schreibweise orientieren. Deshalb verwundert es auch wenig, wenn der französische Neofaschist LePen (ironischerweise bretonisch »der Kopf«), seine Wahlplakate in der Provence in der Schrift der Félibrige verfaßte: »La Prouvènço ais Prouvençaus«, zu deutsch: »die Provence den Provenzalen«. (Anm. Dikigoros: 20 Jahre, nachdem Steinkrüger das schrieb, konnte die von LePen gegründete Partei "Front National" ironischerweise bei den Regionalwahlen - nicht nur im Languedoc, wo sie im 1. Wahlgang beinahe die absolute Mehrheit gewonnen hätte - nur noch durch eine große Koalition aller anderen Parteien - Kommunisten, Sozialisten, Grüne, Republikaner und Gaullisten - mühsam in Schach gehalten werden; und Dikigoros würde nicht darauf wetten, daß ihnen das bei den nächsten Wahlen noch einmal gelingen wird :-)

Aus dem Kreis der languedokischen Okzitanisten ging nach dem Zweiten Weltkrieg in Toulouse das Institut d'Estudis Occitans hervor, das bis heute neben der Félibrige den bedeutendsten Einfluß auf das okzitanische Kulturleben hat. In der Provence dominiert bis heute der Félibrige. Die moderne Literatur Okzitaniens hat seitdem zahlreiche bedeutende Werke hervorgebracht. Als Beispiele seien nur Max Rouquettes Paradís verd genannt, welches in Teilen sogar ins Deutsche übersetzt wurde, und Robert Lafonts gewaltiger Roman La festa.

Der politische Okzitanismus

Viele der Okzitanisten begnügten sich nicht mit schriftstellerischer Tätigkeit, sondern wollten kulturelle Autonomie gegenüber Paris. Die okzitanische Sprache ist bis heute als offizielle Sprache verboten, und das Sprechen des Okzitanischen an Schulen wurde sogar bis vor wenigen Jahrzehnten mit körperlicher Züchtigung geahndet. Diese Unterdrückung förderte die Politisierung der Bewegung. 1935 wurde in der Provence die PP (Provenzalische Partei) gegründet, die autonomistische Forderungen vertrat und progessistische Gesellschaftstheorien verkündete. Bezeichnenderweise sympathisierten führende Félibres damals mit der klerikalfaschistischen Action Française. Die Rolle einiger Félibres unter dem Vichy-Regime bleibt noch aufzuarbeiten.

1959 wurde die erste panokzitanische Partei PNO gegründet. Sie trat anfangs noch gemäßigt auf, schlug dann aber einen offen separatisitischen Kurs ein und orientierte sich an marxistischem Gedankengut. Ihre politische Bedeutung ist bis heute aber nur von anekdotischem Interesse geblieben. Dennoch gehört ihr ideologischer Kopf François Fontan, der 1979 verstarb, zu den bedeutenden Theoretikern unter den Minderheiten Frankreichs. Er vertrat einen radikalen Ethnismus, dessen politische Umsetzung die Separation von Frankreich bedeuten würde. Dagegen vertreten der Provenzale Robert Lafont und der Bearnese Guy Héraud, ebenfalls wichtige Vordenker der Minderheitenpolitik in Frankreich, einen autonomistischen Föderalismus - eine politische Denkweise, die in Frankreich fast gänzlich unbekannt ist.

Die Okzitanen begannen besonders seit den 1960er Jahren sich wissenschaftlich mit dem Sprachkonflikt in ihrem Land auseinanderzusetzen. Okzitane zu sein, bedeutete, seine eigene Identität zu leugnen und schließlich aufzugeben. Die okzitanische Sprachpolitik und der politische Okzitanismus waren untrennbar geworden.

Spätestens mit der Mai-Revolution 1968 wurde der Okzitanismus zu einem Politikum in Frankreich: Führer der Studentenrevolte und Okzitanisten sowie Vertreter anderer Minderheiten Frankreichs solidarisierten sich. Es tauchte das Schlagwort des »colonialisme intérieur« auf: Die Gebiete der ethnischen Minderheiten Frankreichs, wobei Okzitanien flächenmäßig das größte Gebiet ist, wurden als Opfer des Pariser Zentralismus gesehen, die wirtschaftlich ausgebeutet wurden und werden. »Regionalist« und »Linker« wurden vor allem in den 1970er Jahren fast zu Synonymen.

Um 1970 herum wurden zahlreiche okzitanistische Parteien und Gruppierungen ins Leben gerufen, zum Beispiel die sozialistische Volèm Viure al Païs (dts. »Wir wollen in unserem Land leben«). Sie vertraten einen okzitanischen Regionalismus oder Autonomismus. Zahlreiche Liedermacher und Theatergruppen unterstützten damals den Protest. Jean-Paul Sartre widmete dem Thema des Regionalismus in Frankreich gleich einen Doppelband seiner Zeitschrift Les temps modernes. Der Protest hatte zur Folge, daß den sogenannten Regionalsprachen, also auch dem Okzitanischen, eine gewichtigere Rolle im Unterrichtswesen zukam.

1974 trat Robert Lafont, der Vordenker der okzitanistischen Bewegung, für die Präsidentschaftswahl in Frankreich an. Seine Kandidatur wurde jedoch vom Verfassungsgericht abgelehnt. Dann hofften sämtliche Regionalisten Frankreichs seit jener Zeit auf den Wahlsieg der Sozialisten, die allen Minderheiten Frankreichs Versprechungen in puncto Kulturautonomie machten. Seit dem Wahlsieg der Sozialisten und dem Regierungsantritt Mitterrands 1981 ist es still geworden um den politischen Regionalismus - und das nicht nur in Okzitanien. Viele Regionalisten in Frankreich, die auf Mitterrand hofften, zeigen sich enttäuscht, denn die Versprechungen der Sozialisten hatten sich in ihren Augen als Wahlpropaganda entpuppt. (Anm.: In wessen Augen nicht? Dikigoros würde freilich etwas weniger höflich formulieren und es eine "Wahllüge" nennen.)

In Italien haben autonomistische Parteien der Okzitanen auf lokaler und regionaler Ebene seit den siebziger Jahren begrenzte Erfolge verbuchen können. In der Val d'Aran existiert zwar seit den 19890er Jahren eine aranesische Nationalpartei, die aber kaum von politischer Bedeutung ist. Ein Kind des Okzitanismus ist auch der französische Ökologismus: Ende der 1960er Jahre plante die französische Regierung aus dem Hochplateau des Larzac ein militärisches Übungsgelände zu machen. Linke Okzitanisten organisierten gemeinsam mit den Bauern massive Widerstandsaktionen gegen das Projekt der französischen Regierung, was als Widerstand Okzitaniens gegen Paris interpretiert wurde. Und sie hatten Erfolg: Das Land blieb bei den Bauern. Noch heute sind in Frankreich Ökologismus und Regionalismus eng miteinander verwandt. Nicht zufällig ist der Vorsitzende der französischen Grünen ein Elsässer.

Waldenser, Hugenotten, Camisards

Die Verfolgung religiöser Minderheiten ist ein trauriges Kontinuum der okzitanischen Geschichte: Neben den Katharern existierten noch zwei weitere religiöse Gruppen in Okzitanien: Waldenser und Hugenotten.

Die Waldenser, eine christliche Sekte, die im 12. Jahrhundert von dem Kaufmann Pierre Valdo aus Lyon gegründet worden waren, gewannen sehr viele Anhänger im Süden Frankreichs. Einer der Höhepunkte ihrer Verfolgung war das 16. Jahrhundert: Der französische König versuchte, in Übereinstimung mit dem Papst, die Waldenser mit militärischen Mitteln physisch auszurotten. In der Provence wurden in diesem Zusammenhang von Soldaten des Königs und angeheuerten Banden in den Städten Cabrières und Mérindol 1545 grausame Blutbäder angerichtet.

Viele der Waldenser traten damals zum Calvinismus über oder wanderten massenhaft aus, besonders nach Savoyen. Im 17. Jahrhundert mußten sie auch von dort fliehen, und ein großer Teil zog sich in die piemontesischen Alpen zurück, andere erklärten das Herzogtum Württemberg oder Hessen-Nassau als ihre Wahlheimat. In Württemberg und Hessen pflegten sie ihren Glauben und die okzitanische Sprache bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Noch heute findet man okzitanische Orts- und Flurnamen nordwestlich von Stuttgart.

Die Protestanten (oder Hugenotten), hatten einen ihrer geographischen Schwerpunkte in Südostfrankreich und im Bearn. Viele Protestanten, die damals in der Illegalität lebten und verfolgt wurden, hofften auf Heinrich von Navarra. Mit ihm wurde ein okzitanischer Protestant französischer König, der allerdings kurz nach seiner Thronbesteigung zum Katholizismus übertreten mußte, um allgemeine politische Anerkennung zu erlangen. So kann man es im Roman Heinrich Manns Die Jugend des Henri Quatre lesen. Zunächst verschaffte Heinrich den Protestanten Glaubensfreiheit, doch unter seinen Nachfolgern begann wieder die Verfolgung. Unter den Hugenottenkriegen litt vor allem der Süden Frankreichs. Dem Besucher zeigen sich noch heute die Ruinen der einstmals blühenden Hugenottenstadt Les-Baux-de-Provence (okz. Los Bauces), die von französischen Dragonern dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Der letzte und zäheste Krieg gegen die Protestanten war der Aufstand in den Cevennen, auch Guerre des Camisards genannt. Der deutsche Romantiker Wilhelm Tieck schildert in seinem historischen Roman Der Aufruhr in den Cevennen in eindrucksvoller Weise das Schicksal der Camisards. Von 1702 bis 1710 tobte dieser für beide Seiten verlustreiche Krieg. Bis heute ist das östliche Languedoc, neben dem Elsaß, das Gebiet mit dem höchsten protestantischen Bevölkerungsanteil in Frankreich.

Sozioökonomische Besonderheiten

Abschließend sei noch auf einige wirtschaftliche, politische und kulturelle Traditionen Okzitaniens hingewiesen, die wesentlich zur seiner Individualität beigetragen haben. Im ehemaligen Aquitanien entwickelte sich eine, gegenüber Nordgallien in vieler Hinsicht verschiedene, Wirtschafts- und Sozialstruktur. Dort blühten im Mittelalter, ähnlich wie in Norditalien, die Stadtrepubliken, die von demokratisch (natürlich im damaligen Verständnis) gewählten Stadträten regiert wurden. Auch nach dem Anschluß an Frankreich lebten diese politischen Formen weiter.

Okzitanien hatte im Mittelalter direkte Handelskontakte zum arabisch-islamischen Weltreich. Jüdische und arabisch-islamische Gelehrte unterrichteten an den Universitäten Okzitaniens, von denen die wichtigste Montpellier war. Hier befand sich die renommierteste medizinische Fakultät des Landes, wohin sich auch François Rabelais zum Studium begab.

Bis zur Französischen Revolution behaupteten sich zahlreiche Formen der regionalen Selbstverwaltung. So war beispielsweise die Provence bis zur Revolution ein Ständestaat mit eigener Zollhoheit und einem eigenen gewählten Parlament, das in Aix-en-Provence tagte.

Mit der Französischen Revolution geriet Okzitanien politisch wie wirtschaftlich ins Hintertreffen und verlor den Anschluß an die industrielle Entwicklung. Es wurde zu einem Rohstoff- und Agrarproduktlieferanten für den Norden Frankreichs gemacht. Hier knüpft auch die Kritik der okzitanischen Regionalisten an, die diese Entwicklung als innere Kolonialisierung des französischen Staates interpretieren. Diese Entwicklung hatte zur Folge, daß Monokulturen in großem Ausmaß entstanden. Als Beispiele seien nur der Wein-, Oliven- und Maulbeerenanbau genannt. Maulbeeren galten als Futtermittel für die Raupen der Seidenindustrie in Lyon.

Um die Jahrhundertwende kam es zu einer generellen Krise der Landwirtschaft, die vor allem die Winzer hart traf. Diese wehrten sich gegen die Ausbeutung durch den Norden. Es kam zu Revolten, bei denen auch autonomistische Forderungen gestellt wurden. Wohl zum letzten Mal wurden französische Soldaten in Okzitanien eingesetzt. Viele Tote waren die Bilanz dieser tragischen Tage des Jahres 1907. Durch die Krise der Landwirtschaft waren nun viele Bauern gezwungen, Arbeit in den Städten zu suchen und dies hatte die massive Entvölkerung der ländlichen Gebiete zur Folge.

Seit dem Zweiten Weltkrieg sind die wichtigsten Einnahmequellen der Weinanbau (vor allem aber von Tafelweinen) und der Tourismus. 70% der französischen Weinproduktion stammen aus Okzitanien.

In den 1970er Jahren geriet der Weinanbau wiederholt in schwere Krisen. Es kam zu zahlreichen Winzerprotesten und zu einer breiten Solidarisierung mit dem politischen Okzitanismus. Bei Zusammenstößen mit der französischen Sicherheitspolizei CRS wurden zwei Menschen getötet. Auch 1986, d.h. mit dem Eintritt Spaniens und Portugals in die EG, aus denen noch billigerer Wein bezogen wird, äußerten viele Winzer ihren Unmut mit Protestaktionen.

Der Massentourismus wird vielerorts als zerstörend und entfremdend empfunden. Küstengebiete wurden zerstört und ganze Dörfer sind für wenig Geld verkauft worden.

Aktueller sozialer Konfliktstoff, besonders in den Städten, entstand im Süden Frankreichs in den 1960er Jahren durch die Ansiedlung von Algeriensiedlern, den Pieds Noirs (Schwarzfüsse) und besonders durch die massiven Migrationsbewegungen von Arabern und Berbern aus dem Maghreb. In Städten mit hohem maghrebinischen Bevölkerungsanteil konnte die neofaschistische Front National bisher die meisten Stimmen verbuchen.

Inzwischen hat sich die Infrastruktur verbessert und die südlichen Metropolen haben ein gesundes Eigenbewußtsein gegenüber der nördlichen Hauptstadt Paris entwickelt. In neuester Zeit, so scheint es, werden sogar zahlreiche Anstrengungen unternommen um regionale Traditionen wiederzubeleben. Dem Grand Sud, so die südlichen Regionalpolitiker, gehöre die Zukunft. Die Regionen Languedoc-Roussillon und Midi-Pyrénnées intensivieren ihre Handels- und Kulturkontakte mit Katalonien. Man spricht schon vom vielversprechenden Dreieck Toulouse-Montpellier-Barcelona. Diese drei Städte der neuen »Euro-Region« sollen auch in Zukunft mit dem TGV verbunden werden. Barcelona gerät damit in unmittelbare Nachbarschaft und Paris rückt noch weiter in die Ferne. Jedoch: Grenzen sind Grenzen und Europa läßt auf sich warten.

Patrick O. Steinkrüger (* 1966) ist nach Abschluß eines Studiums der Romanistik, Slawistik und Musikwissenschaft in Frankfurt a.M., Barcelona und Tübingen seit 1993 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Romanischen Seminar der Universität Tübingen. Zur Zeit promoviert er zur katalanischen Sprachgeschichte und zur Sprachwandeltheorie.

Literatur

© Ethnos-Nation