"MEIN KAMPF - SO EIN BLÖDSINN"

In London entdeckte Mussolini-Tagebücher
entwerfen ein geschöntes Bild des Duce

von Regina Kerner

(Berliner Zeitung Online, 09.07.1994)

Links und Nachwort von Dikigoros

Die Tagebücher des faschistischen italienischen Diktators Benito Mussolini sind 49 Jahre nach seinem Tod in London aufgetaucht - berichtete kürzlich der "Sunday Telegraph". Der mutmaßliche "Jahrhundertfund", der in Wahrheit schon eine lange und dubiose Geschichte hinter sich hat, scheint genau zum passenden Zeitpunkt zu kommen.

Hat Konrad Kujau, der Fälscher der Hitler-Tagebücher, wieder zugeschlagen? Dieses Mal vielleicht sogar im Auftrag der italienischen Neofaschisten, die Mussolini als "größten Staatsmann des Jahrhunderts" rehabilitieren wollen? Wenn es um die angeblich jetzt erst aufgetauchten Notizen des Duce aus den Jahren 1935 bis 1939 geht, könnte sich dieser Gedanke aufdrängen. Denn die fünf Tagebuchbände zeigen Mussolini in einem ganz neuen, unerwarteten Licht: Als einsamen, sensiblen Kriegsgegner und Kritiker Hitlers.

"So ein Blödsinn. Unlesbar." Mit dieser lakonischen Bemerkung kommentiert der Tagebuch-Schreiber im Juni 1934 Hitlers Werk "Mein Kampf". Fünf Jahre später, im April 1939, bemerkt er am verbündeten deutschen Führer "ein Crescendo des Fanatismus". Und am 1. Dezember 1939 steht da mit blauer Tinte in kleiner Krakelschrift: "Wir sind gegen den Krieg, ich persönlich ganz besonders. Ich hege keinen besonderen Groll gegen London."

Sensibler Diktator?

Müssen nun also die Historiker das Bild vom machtbesessenen Diktator und Kriegstreiber Mussolini grundlegend revidieren? Nach Ansicht des führenden Mussolini-Forschers Denis Mack Smith aus Oxford jedenfalls sind die Tagebuch-Manuskripte ohne Zweifel echt. Der Wissenschaftler hatte die alten Notizbücher des italienischen Roten Kreuzes bereits 1983 erstmals in Augenschein genommen - alle Welt war gerade mit den vermeintlichen Hitler-Tagebüchern beschäftigt. Ein bis heute unbekannter italienischer Bauunternehmer hatte die fünf Bände in einem alten Koffer seines Vaters, eines ehemaligen Partisanen, auf dem Dachboden gefunden.

Mack Smith ist sicher: Der Stil und die Beschreibung historischer Zusammenhänge und Details weisen die Aufzeichnungen als authentisch aus. "Es sind Dokumente von wirklich historischer Bedeutung, die veröffentlicht werden müßten - zumindest in Italien", sagt der Wissenschaftler.

Brian Sullivan, Historiker des amerikanischen Pentagon und Autor einer Biographie über die jüdische Geliebte des Duce, glaubt zwar auch an die Echtheit der Tagebücher, über ihre historische Bedeutung ist er allerdings anderer Meinung. Nach eingehenden Recherchen sei er zu der Überzeugung gelangt, daß es zwar Mussolinis Tagebücher seien - daß der sie aber selbst gefälscht habe. Und zwar kurz vor dem Zusammenbruch der faschistischen Republik von Salo, bevor Mussolini in die Schweiz fliehen wollte und von Partisanen aufgegriffen wurde. "Die Tagebücher scheinen für die Nachwelt geschrieben worden zu sein und sind ziemlich langweilig", sagt Sullivan.

Hausfrauen-Fälschung

Und dann gibt es da noch einige merkwürdige Schönheitsfehler. Zum Beispiel, daß der Duce persönlich sein Geburtsdatum um einen Monat verfehlt. Genau hier setzen Skeptiker an: Sie sehen die geistigen Urheber der Faschisten-Memoiren eher in Rosa und Amalia Panvini, zwei Frauen aus dem süditalienischen Vercelli, die 1960 schon einmal wegen Fälschung von Mussolini-Tagebüchern verurteilt worden waren. Sie hatten die krakelige Handschrift des Diktators perfekt imitiert und die Notizen eine halbe Stunde bei schwacher Hitze im Backofen gegart: Danach konnte selbst in wissenschaftlichen Tests nicht mehr nachgewiesen werden, daß die Tinte ganz frisch war.

Wenn es nach dem "Sunday Telegraph" geht, ist die angebliche Entdeckung der Tagebücher, 49 Jahre nach Mussolinis Tod, einer der größten Funde des Jahrhunderts. Vielleicht wiederholt sich aber auch nur einer der größten Satire-Erfolge des Jahrhunderts. Und: Südlich der Alpen bricht nun eine Lawine von Mussolini-Papieren los. Nur drei Tage nach der Meldung aus London entdeckte ein Journalist haufenweise Notizen des Duce in einem Mailänder Archiv. Die Wochenzeitschrift "Epoca" will demnächst Auszüge daraus veröffentlichen.

Italiens Neofaschisten werden sich jedenfalls darüber freuen, daß ihr Führer-Idol rechtzeitig vor seinem 50. Todesjahr 1995 in unverhofft positives Licht gerückt wird.


Nachbemerkung
Das riecht Dikigoros alles so ähnlich wie anno 1983 die Diskussion um die "Hitler-Tagebücher": Was den Politikern - und ihren "Historikern" - inhaltlich nicht in den Kram paßt, das muß gefälscht sein, sonst könnte es ja den "Neo-Nazis" bzw. "Neo-Fascisten" Auftrieb geben! Und wenn die Gerüchte nicht verstummen wollen, daß Mussolini ein Tagebuch geschrieben hat, dann muß halt umgekehrt irgendwann mal eines "gefunden" werden, das politisch korrekt ist und alle Geschichten, pardon Geschichtsschreiber bestätigt. Im Februar 2007 war es endlich so weit: Ein Mussolini-Tagebuch tauchte auf, das zwar alle äußerlichen Merkmale einer plumpen Fälschung aufwies - aber der Inhalt war genau das, was man immer gesucht hatte: Mussolini offenbart darin, daß er eigentlich Anti-fascist (und natürlich Anti-Hitlerist :-) war, und gegen den Weltkrieg sowieso. Man wird es wohl für "echt" erklären; und wer an dieser Echtheit zu zweifeln wagt, den wird man - ähnlich wie beim "Tagebuch der Anne Frank" - in die Nähe eines "Holocaust-Leugners" rücken und kriminalisieren. Wieder ein schönes Beispiel dafür, wie Geschichte "gemacht" wird!


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