DIE MONSTER SIND UNTER UNS

von Maren Peters (DIE WELT online, 21. Februar 2009)

Bilder, Anmerkungen & Links: Nikolas Dikigoros

Fabelwesen, Riesenkraken, Menschenfresser: Historische Seefahrer überbieten sich an Horrorgeschichten. Langsam kommt die Wissenschaft dahinter, dass viele gar kein Seemannsgarn waren

Zäh und scheinbar undurchdringlich hängt der Nebel seit Tagen über dem spiegelglatten Meer. Es herrscht Flaute, die Mannschaft an Bord des kleinen Fischtrawlers ist zur Untätigkeit verdammt. Immer wieder spähen die Männer abwechselnd angestrengt in die grauen Nebelschwaden. Doch ihre Augen finden nichts, woran sie sich festhalten könnten. Plötzlich scheint da doch etwas zu sein, ein dunkler Schatten, eine Bewegung.

Schlechte Sicht durch Nebelbänke ist Seeleuten auch heute noch gut bekannt. Als die Europäer jedoch ab dem 15. Jahrhundert verstärkt begannen, nicht nur die Küstengewässer zu befahren, sondern auch den offenen Ozean, wussten sie kaum, was sich unterhalb der Wasseroberfläche befand. "Unbekanntes wirkt im Allgemeinen Furcht einflößend", sagt Hartmut Schmied, Historiker und Begründer des virtuellen Cryptoneum Legenden-Museums. Und Angst erzeugt schnell Abneigung. Dieser Mechanismus könnte die Erklärung für die Sagen über Seeungeheuer sein. "Doch in jeder Legende steckt ein wahrer Kern", sagt Schmied. Und so manches im Mittelalter beschriebene Ungetüm ging Fischern in den letzten 100 Jahren tatsächlich ins Netz.

Bei seinen Nachforschungen für das Museum stieß der Rostocker Legendenforscher auf viele sich ähnelnde Beschreibungen der unterschiedlichsten Meeresmonster. Besonders oft gab es Berichte über riesige Seeschlangen, wonach diese Tiere im Nordatlantik zu leben scheinen. "Ein prominentes Beispiel ist der sogenannte Cadborosaurus", erzählt Schmied. Verschiedene Personen wollen diese Seeschlange Mitte der 1930er-Jahre immer mal wieder vor British Columbia gesichtet haben. Sie soll etwa 15 Meter lang sein und einen hunde- oder pferdeähnlichen Kopf sowie einen langen Hals und eine auffällige Rückenmähne haben. Diese Merkmale finden sich in den meisten Seeschlangen-Beschreibungen. Die Berichte weisen je nach Ort der Sichtung regionale Unterschiede bei der Kopfform auf. So wird in Skandinavien auch von Seeschlangen mit einem Elch-, weiter südlich von Tieren mit Kamelkopf erzählt. "Einem Ungeheuer werden jeweils die Merkmale zugeschrieben, die der Beobachter aus seinem Alltag kennt - üblicherweise stark übertrieben", erläutert Schmied. Wellen erzeugen zudem leicht den Eindruck einer Auf- und Abbewegung, wie die Menschen sie von einem galoppierenden Pferd kennen. Und aus zwei hintereinander schwimmenden Delfinen, deren Körper rhythmisch aus dem Wasser auftauchen, könnte durch die Dopplung schnell eine vermeintliche Schlange in vertikaler Bewegung erkannt werden.

Aber es gibt auch biologisch handfeste Erklärungen: So könnten Fischer einem Riemenfisch begegnet sein. "Diese Tiere leben im offenen Ozean und gelten mit bis zu zwölf Metern als die längsten existierende Knochenfische", erklärt Hartmut Schmied.

Der Historiker ist vor seinem Studium selbst fünf Jahre lang im Auftrag des Rostocker Instituts für Hochseefischerei zur See gefahren. Der Körper eines Riemenfisches ist durchaus schlangenartig, und die rot gefärbte Rückenflosse zieht sich über die gesamte Länge des Tieres, sodass der Eindruck einer Mähne entstehen kann. Auch infrage kämen an der Oberfläche treibende Teile des Riesentangs sowie große Exemplare von Muränen oder des Seewolfs.

"In den allermeisten Fällen brachten die Seeleute nur mündliche Beschreibungen der Seeungeheuer mit", erklärt Schmied. Manchmal hatten sie jedoch auch noch Teile der Monster mit an Bord, etwa Flossen oder Zähne. Kleinere Exemplare - oft als Jungtiere verkauft - wurden mit offenem Maul präpariert, im Ganzen getrocknet und mit einer entsprechenden Geschichte versehen. "Ein so hergerichteter Seewolf wirkt mit seinem beeindruckenden Gebiss durchaus Furcht einflößend", sagt Schmied.

Hinzu kommt, dass das menschliche Auge auf dem offenen Meer keine Vergleichsgröße für vorbei schwimmende Objekte hat, weshalb vieles größer, ferner oder schneller erscheint. Heiko Hecht, Psychologe am Mainzer Universitätsklinikum und Experte für Sinnestäuschungen: "Die Wahrnehmung einer Situation setzt sich immer aus dem optischen Eindruck einer Sache sowie den Erwartungs- und Aufmerksamkeitseffekten zusammen." Die Psyche verknüpft also während des Sehens das tatsächliche Bild mit bereits gemachten Erfahrungen. Wenn einem Menschen etwas begegnet, mit dem er noch keine Erfahrungen machen konnte, steigt der Unsicherheitsaspekt der wahrgenommenen Information. "Wenn jemand also an etwas glaubt und es unbedingt sehen möchte, dann wird er das bei entsprechend unsicherem optischen Eindruck früher oder später auch tun", sagt Hecht.

Überhaupt funktioniert das Sehen nur auf relativ geringe Distanzen fehlerfrei. "Kommen dann noch beeinflussende Effekte wie Wasserspiegelungen, Lichtreflexe, Wellenbewegungen, Gegenlicht oder sogar Nebel hinzu, dann kann ein Mensch mit ein bisschen Fantasie praktisch alles sehen", erklärt Hecht - nach entsprechenden Schauergeschichten also auch ein Seeungeheuer.

Eine weitere mögliche Erklärung für das Nessie-Phänomen sind die aus dem Wasser ragenden Arme eines anderen früher beschriebenen Ungeheuers, dessen Existenz heute einwandfrei bewiesen ist: der Riesenkalmar. Dieser gigantische Tintenfisch aus der Tiefsee soll den Legenden nach ganze Fischerboote zerquetscht oder mit sich in die Tiefe gerissen haben. "Tatsächlich kommen diese Tiere manchmal an die Oberfläche, sodass es zu Begegnungen mit Schiffen kommen kann", erklärt Volker Miske, Meeresbiologe an der Universität Greifswald. Auch können die Kalmare eine imposante Größe erreichen - nachgewiesen wurde bisher eine Gesamtlänge von etwa 18 Metern. Allerdings sind die Tentakel der Tintenfische sehr dehnbar. "Mit wenig Kraftaufwand könnten Finder daher ein Exemplar fürs Foto ohne Weiteres deutlich verlängern", meint Miske.

Aber warum greift ein Kalmar ein Schiff an? Auch dafür könnte es Erklärungen geben: Will man das Tier fangen, wehrt es sich vermutlich - um Halt zu finden, könnte es sich am Schiffsrumpf festsaugen. Kleine Boote hätte es so zum Kentern gebracht. Außerdem sieht ein Schiff von unten aus wie ein Wal. Der Pottwal ist der Hauptfeind der Riesenkalmare - und so könnten die Tintenfische im Angesicht der vermuteten Bedrohung ihr Heil statt in der Flucht auch mal im Angriff suchen.

Die Holzrümpfe boten einem anderen Wesen eine hervorragende Angriffsfläche - dem sagenumwobenen Schwertfisch. Dieser soll mit seinem Schwert die Boote auf offener See angesägt haben. Als Beweis zeigte so mancher Matrose ein knorpeliges Sägeschwert vor. "Der Fisch, dem diese Waffe tatsächlich zuzuordnen ist, stellt für den Menschen kaum eine Gefahr dar", erläutert Hartmut Schmied. Es handelt sich um das "Rostrum", den verlängerten zahnbesetzten Oberkiefer des Sägerochens. Dieser kann bei einzelnen Tieren zwar lang werden wie ein Fahrrad, dient aber nur der Jagd von kleinen Fischen. "Das Imposante an dem Fisch ist also diese Säge, die bis zu einem Drittel der Körperlänge ausmachen kann", sagt Schmied. Um Eindruck zu schinden, wurde der gruselige Rest einfach dazuerfunden.

So entstand wohl so manche Monstersaga. Vielleicht auch die des Grab- oder Schweinwals, der es im 16. Jahrhundert sogar in das Fisch-Buch des Schweizer Naturforschers Conrad Gesner geschafft hat. Das dort beschriebene Wesen hat einen fischartigen Körper, einen Schweinskopf und vier kräftige Beine, die in mit Krallen bewehrten Flossen enden. "Die indigene Bevölkerung manch neu entdeckter Insel bemerkte schnell, dass die Fremden ein großes Interesse an exotisch geformten Tieren hatten", sagt Harald Gebhardt. Der Biologe beschäftigt sich mit Fabelwesen und ihrer Entstehung - und einige verdanken ihre Geburt offensichtlich ökonomischen Gesichtspunkten. Die Nachfrage scheint auch in diesem Bereich das Angebot geregelt zu haben. Wenn geschäftstüchtige Indigene eine Ungeheuergeschichte aufschnappten, setzten sie das beschriebene Wesen einfach aus unterschiedlichen Tieren zusammen, vernähten die Teile und trockneten die Schimäre. In der verschrumpelten Haut verschwanden die Nähte, und die leichtgläubigen Fremden hatten ihr Monster vor sich.

Die Zeichnungen des Grabwals könnten aber auch auf einen Fisch zurückzuführen sein, der bis zu seiner Wiederentdeckung 1938 im Indischen Ozean als lange ausgestorben galt: Der Quastenflosser wird aufgrund seines teilweise verknöcherten und mit Muskulatur versehenen Skeletts der Brust- und Bauchflossen als Nachfahre der Vorform heutiger Landwirbeltiere eingeordnet. Der Fisch war den Ureinwohnern seiner Heimat durchweg bekannt, weil er aber wenig schmackhaft ist und in Hunderten Metern Tiefe lebt, tauchte er kaum auf den Märkten auf.

Das könnte im Übrigen die Erklärung für viele Monstermythen sein: Der Meeresboden ist weniger erforscht als der Mond. Viele Fabeltiere leben noch immer in den Tiefen der Meere, ohne je in einem zoologischen Wälzer aufzutauchen.


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