Miteinander - nebeneinander - gegeneinander?

von Ulrich M. Schmid (NZZ, 17. Februar 2003)

Alexander Solschenizyn legt den zweiten Band
seiner Geschichte der russischen Juden vor

Mit seiner umfangreichen Untersuchung zur Geschichte der Juden in Russland rührt Alexander Solschenizyn an ein heikles Thema. Der erste Band, der die Jahre 1795 bis 1916 behandelt, erschien im Frühjahr 2001 und wurde mehrheitlich kritisch aufgenommen. Mittlerweile liegt auch der zweite Band über die Sowjetzeit vor. Im Zentrum steht die Frage nach der jüdischen Beteiligung am Aufbau des Bolschewismus. Es gelingt Solschenizyn indes nicht, seine harmonisierende Generalthese («200 Jahre gemeinsam») mit den historischen Ereignissen zu vermitteln.

Dass mit dem heiklen Thema der russisch-jüdischen Wechselbeziehungen keine Lorbeeren zu holen sind, wusste Alexander Solschenizyn schon 1990, als er mit seinem erklärtermassen letzten publizistischen Grossprojekt begann. Die Vorurteile auf beiden Seiten sind festgefahren: Viele Juden fühlen sich durch einen latenten Antisemitismus in Russland bedroht, und manche Russen neigen dazu, die Juden für jedes Unglück verantwortlich zu machen, das Russland im 20. Jahrhundert widerfahren ist. Solschenizyns Absicht ist eine vermittelnde: Mit den zwei je 500 Seiten starken Bänden, in denen er die Geschichte der Juden in Russland im 19. und 20. Jahrhundert nachzeichnet, will Solschenizyn einer neuen Völkerverständigung den Weg ebnen. Im Vorwort zum ersten Band, der bereits im Frühjahr 2001 in Moskau erschienen ist und mittlerweile auch in einer deutschen Übersetzung vorliegt, schreibt Solschenizyn: «Ich rufe beide Seiten - sowohl die russische wie auch die jüdische - zum geduldigen gegenseitigen Verstehen und zur beiderseitigen Anerkennung ihres Anteils an der Sünde auf.» In diesem Sinne ist auch der programmatische Titel «Zweihundert Jahre gemeinsam» zu deuten - aus Solschenizyns Sicht bilden Russen und Juden eine Schicksalsgemeinschaft, die zwar immer wieder durch Gewaltausbrüche auf die Probe gestellt wurde, grundsätzlich aber von beiden Seiten Respekt einforderte.

Bedenkliche Fehleinschätzungen

Solschenizyn lässt seine Untersuchung im Jahr 1795 beginnen: Nach den polnischen Teilungen fielen (in Solschenizyns grossrussischer Sprachregelung) weite Territorien mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil an Russland. Wenig später wurde der sogenannte Ansiedlungsrayon definiert - ein relativ breiter Streifen im Westen des Zarenreichs, der von Litauen bis ans Schwarze Meer reichte. Es war den russischen Juden mit wenigen Ausnahmen verboten, den Ansiedlungsrayon zu verlassen - dieses diskriminierende Gesetz blieb bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs bestehen. Solschenizyn verschweigt zwar die Probleme nicht, die mit der Einschränkung der jüdischen Bewegungsfreiheit in Russland verbunden waren, er weist aber auf eine Reihe von Erleichterungen hin, die den Juden im Laufe der Jahre eingeräumt wurden.

Allerdings unterlaufen Solschenizyn bei seiner historischen Darstellung einige bedenkliche Fehleinschätzungen. So nennt er etwa den Dichter Derschawin (1743-1816), der in wichtige Regierungspositionen aufstieg, einen «hervorragenden Staatsmann, der einzigartige Beweise seines Wirkens» hinterlassen habe. Als einen dieser «Beweise» führt Solschenizyn ein Memorandum an, in dem Derschawin eigentlich nichts anderes als die Deportation von Juden aus ihren angestammten Gebieten vorschlägt. In Solschenizyns Diktion: «Das Ziel bestand darin, sowohl den weissrussischen Bauern als auch den Juden dadurch Gutes zu tun, dass er sie ökonomisch trennte und die Juden - von denen ein Teil zuallererst in unerschlossenen Gebieten angesiedelt werden sollte - auf eine wirklich produktive Tätigkeit orientierte.» Derschawin ist für Solschenizyn eine russische Lichtgestalt, die in weiser Voraussicht den rückständigen Juden eine paternalistische Förderung angedeihen lässt. Diese Begeisterung für die gloriosen Ideen des politisierenden Dichters wirkt umso befremdender, als bereits 1803 hochrangige Amtskollegen Derschawin als «désorganisateur» bezeichnet hatten.

Bei Solschenizyn lässt sich auch ein Ressentiment gegen das nichtorthodoxe Christentum feststellen. So seien Ritualmordprozesse im Russland des 19. Jahrhunderts «meist auf katholischem Boden» aufgetreten. Mit dieser Argumentationsfigur versucht Solschenizyn den Vorwurf zu entkräften, der berüchtigte Bejlis-Prozess von 1911 stelle eine spezifisch russische Spielart des Antisemitismus dar. Allerdings  vergisst  Solschenizyn zu erwähnen, dass gerade in diesem Prozess die Ritualmordthese durch den orthodoxen Priester Pawel Florenski und den Religionsphilosophen Wasili Rosanow gestützt wurde.

Eine drastische Wendung zum Schlechteren trat für die jüdische Bevölkerung nach der Ermordung des Zaren Alexander II. 1881 ein: Nachdem bekannt geworden war, dass sich unter den Terroristen eine Jüdin befand, brachen in vielen südrussischen Städten Pogrome los. Vom Thronfolger Alexander III. ist das Diktum überliefert: «Ich muss zugeben, dass ich mich freue, wenn man die Juden verprügelt!» Solschenizyn bezeichnet dieses Zitat als «üble Verleumdung», ohne freilich den Nachweis für die Richtigkeit seiner Behauptung führen zu können. Ausserdem verlegt sich Solschenizyn bei der Darstellung der Pogrome auf eine kleinliche Rechenübung und versucht darzulegen, dass die Opferzahlen in jüdischen Publikationen künstlich aufgebauscht worden seien. Wirklich bedenklich ist aber Solschenizyns mystische Historiosophie, die für das Schicksal jedes Volks einen Zusammenhang von Schuld und Sühne postuliert. 1911 wurde der russische Ministerpräsident Stolypin in Kiew von einem jüdischen Terroristen ermordet. Solschenizyn errichtet auf dieser Tatsache eine empörende Spekulation und deutet das Massaker der Nazis an den Kiewer Juden 1941 als metaphysische Strafe für die Ermordung Stolypins.

Die russische und westliche Öffentlichkeit nahm den ersten Band verhalten, bisweilen scharf ablehnend auf. Vorgeworfen wurde Solschenizyn eine mangelhafte Quellenforschung (die meisten Informationen stammen aus Enzyklopädien), eine verharmlosende Darstellung des russischen Antisemitismus und das Auslassen von historischen Fakten, die nicht in seine Gesamtkonzeption passen. Fast noch schlimmer als die offene Kritik war aber für Solschenizyn der Applaus von der falschen Seite. So begrüsste etwa der ultranationale Publizist Wladimir Bondarenko Solschenizyns Buch mit folgenden Worten: «Wir haben gesehen, wie der spanische König die Juden um Verzeihung bat, wir haben gesehen, wie der Papst um Verzeihung bat, ich habe aber in der jüngsten Zeit nicht gesehen, dass die Juden um Verzeihung bitten würden. Das Buch von Alexander Solschenizyn zu verstehen, heisst nichts anderes, als die Schuld der Juden vor den Russen während 200 Jahren anzuerkennen.»

Nach diesen wenig ermunternden Reaktionen zog Solschenizyn es vor, das Erscheinen des zweiten Bandes, der ursprünglich auf Herbst 2001 angekündigt war, um über ein Jahr zu verschieben. In einem Interview mit der Zeitung «Moskowskie Nowosti» wies Solschenizyn darauf hin, dass seine Ehefrau nochmals alle 1500 Fussnoten des zweiten Bandes überprüft habe. In der Tat: Im zweiten Band finden sich viel mehr Zitate aus Originalquellen als im ersten Band. Ausserdem wird an einigen Stellen deutlich, dass Solschenizyn Themen nachschiebt, die eigentlich im ersten Band hätten behandelt werden müssen. Dazu gehören etwa die berüchtigten «Protokolle der Weisen von Zion», die erstmals 1903 in Petersburg veröffentlicht wurden. Dieses Pamphlet berichtet von Plänen zur Errichtung einer jüdischen Weltherrschaft und wurde immer wieder als Beweisstück in antisemitischen Hetzkampagnen eingesetzt - es stellte sich allerdings bald als Fälschung der russischen Geheimpolizei heraus.

Solschenizyn rechtfertigt seine späte Erwähnung dieses Themas mit dem widersprüchlichen Hinweis, dass die «Protokolle» zwar 1905, 1906 und 1911 neu aufgelegt wurden, aber «faktisch keine Verbreitung im vorrevolutionären Russland» fanden. Erst nach 1918 hätten die «Volksmassen» ein «stürmisches» Interesse für die «Protokolle» gezeigt. Die erste Aussage stellt in gleichem Mass eine Untertreibung dar wie die zweite eine Übertreibung.

Antirussische Revolution

An zentraler Stelle diskutiert Solschenizyn im zweiten Band die Frage, ob der bolschewistische Umsturz eine jüdische Initiative gewesen sei. Die Fakten sind klar: Unter den Organisatoren der Oktoberrevolution befanden sich auffallend viele Juden - die berühmtesten Namen sind Trotzki, Kamenew, Sinowjew, Swerdlow. Ebenso klar ist auch die Antwort, die Solschenizyn auf diese heikle Frage gibt. Die russische Revolution sei weder von Russen noch von Juden durchgeführt worden, sondern von «antirussischen Hitzköpfen», die kaum mehr über geistige Verbindungen zum russischen oder jüdischen Volk verfügt hätten. Diese Antwort ist nicht so sehr wegen ihrer scheinbar salomonischen Ausgewogenheit bemerkenswert als vielmehr wegen ihrer impliziten historiosophischen Annahmen. Für Solschenizyn stellen sowohl die Februar- als auch die Oktoberrevolution Katastrophen von biblischem Ausmass dar.

Das ist eine Sicht der Dinge, die man angesichts von Solschenizyns eigener Biographie zwar durchaus nachvollziehen kann, die aber den geschichtlichen Tatsachen kaum gerecht wird. Das zaristische Regime hatte keine Lehren aus den Ereignissen des Jahres 1905 gezogen, war nicht willens, aufstrebende Gesellschaftsklassen am politischen Entscheidungsprozess partizipieren zu lassen, und versank während des Ersten Weltkriegs vollends in Obskurantismus und Handlungsunfähigkeit. Bei Solschenizyn hingegen erscheint das Zarenreich nachgerade als Garant der russischen Nationalidentität, die später von den Sowjets bewusst und systematisch zerstört worden sei. Man kann in Solschenizyns Geschichtsbetrachtung eine Reihe solcher Idiosynkrasien feststellen, die nicht nur politischer, sondern auch ästhetischer Natur sind. Ebenso wenig wie Meierholds avantgardistische Theaterexperimente goutiert er beispielsweise Sergei Eisensteins Filmklassiker «Panzerkreuzer Potjomkin», den er als «verantwortungslose Geschichtsklitterung und Hasstirade auf das alte Russland mit stilisiertem Kinoaccessoire» abqualifiziert.

Privatansichten

Solschenizyns Darstellung der Juden im Gulag bildet das schwächste Kapitel im zweiten Band. Bereits mit seiner kommentarlosen Veröffentlichung der Porträts von neun jüdischen Tschekisten im «Archipel Gulag» hatte sich Solschenizyn den Vorwurf des Antisemitismus eingehandelt. Deshalb argumentiert Solschenizyn von vornherein mit dem Rücken zur Wand. Immer wieder benennt er mögliche Einwände gegen seine Aufzählungen von jüdischen Tätern und rechtfertigt sich damit, dass ein absichtsvolles Verschweigen von Fakten unmoralisch und gefährlich sei. Problematisch an diesem Gulag-Kapitel ist allerdings weniger die Frage nach der Wahrheit als die nach der Repräsentativität der Fakten. Gerade beim Autor des «Archipel Gulag» muss erstaunen, dass er fast ausschliesslich eigene Erinnerungen anführt. So berichtet Solschenizyn von besonders grausamen jüdischen Aufsehern in den Lagern, in denen er selbst inhaftiert war. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass er in seinen literarischen Werken die jüdische Herkunft von negativen Figuren unerwähnt liess. Hinsichtlich seiner jüdischen Mitgefangenen kommt Solschenizyn zum Schluss: «In den Lagern, in denen ich sass, hatten die Juden - soweit man das verallgemeinern kann - ein leichteres Leben als die Übrigen.»

Solche direkten Einschätzungen aus Solschenizyns eigenem Mund finden sich indes relativ selten. Gerade bei weit reichenden Spekulationen versteckt sich Solschenizyn oft hinter einem Berg von Zitaten, die von jüdischen Autoren stammen. So überlässt er es etwa Stefan Zweig und Max Brod, die Juden vor einem prominenten politischen Engagement bei anderen Völkern zu warnen. Und auch die haarsträubende These, der Holocaust stelle eine Strafe für die Sünden der jüdischen Bolschewiki dar, trägt Solschenizyn nur als fremde Rede vor.

Solschenizyn bleibt die Antwort auf eines der schmerzlichsten Probleme innerhalb der sowjetischen Menschenrechtsbewegung schuldig, nämlich die Verbindung zwischen Dissidenz und Antisemitismus. In den siebziger Jahren engagierte sich Igor Schafarewitsch, ein Mathematiker von Weltrang, an Solschenizyns Seite im Protest gegen das Regime - diese Tätigkeit kostete ihn 1975 seine Professur an der Moskauer Universität. 1989 veröffentlichte Schafarewitsch ein antisemitisches Pamphlet mit dem Titel «Russophobia», in dem er die Oktoberrevolution als jüdische Verschwörung gegen das russische Volk deutete. Unter dem Eindruck dieser gehässigen Broschüre verzichtete die Universität Cambridge auf die geplante Verleihung eines Ehrendoktors an Schafarewitsch, und die amerikanische Akademie der Wissenschaften in Washington forderte ihn zum Austritt auf. Solschenizyn verliert über die Affäre Schafarewitsch kein einziges Wort. Dieses Schweigen ist umso auffälliger, als Solschenizyn 1975 in seinen Memoiren Schafarewitsch als engen Freund mit «der gleichen Vorstellung von der russischen Zukunft» bezeichnet hatte.

Faktenlage und Interpretation

Solschenizyns Geschichtswerk präsentiert eine reiche Materialsammlung - die Interpretation läuft aber immer auf dieselbe harmonisierende Generallinie hinaus. Vielleicht fehlt deshalb in diesem Buch ein Kapitel, das die Darstellung (und zu Beginn des 19. Jahrhunderts: die Nichtdarstellung) des Judentums in der russischen Literatur untersuchen würde. Überhaupt nicht erwähnt wird Gogol mit seinen antisemitischen Karikaturen. Dostojewski, der sich mit zahlreichen judenfeindlichen Ausfällen eine zweifelhafte Reputation erworben hat, wird bei Solschenizyn mit einem verzerrenden Zitat zum Fürsprecher dieses «grossen Volks». Auch in der Sowjetliteratur findet man einige Belege, die Solschenizyns Hauptthese widersprechen. Vor allem in der patriotisch engagierten «Dorfprosa» der siebziger Jahre werden antisemitische Stereotypen eingesetzt; Autoren wie Viktor Astafjew, Valentin Rasputin oder Wasili Below haben in öffentlichen Äusserungen immer wieder auf einer historischen Schuld der Juden vor den Russen insistiert.

Solschenizyns Versäumnissen im zweiten Band kommt symptomatischer Wert zu: Während er schon im ersten Band das verbindende Element zwischen Russen und Juden nur unter erheblichem rhetorischem Aufwand ersichtlich machen konnte, spricht er im zweiten Band fast nur noch von «uns» und «ihnen»: Er rechnet auf Zehntelprozentpunkte den jüdischen Anteil am Parteiapparat, an der Geheimpolizei, an der Moskauer Stadtbevölkerung nach und registriert mit Befremden den grossen Exodus der Juden aus der Sowjetunion nach Israel in den neunziger Jahren. Mit solchen diskursiven Verfahren fällt sich Solschenizyn letztlich selbst in den Rücken: Er erhebt den russisch-jüdischen Gegensatz zur entscheidenden Deutungskategorie und vergisst darüber integrative Kulturleistungen wie etwa die Weihnachtsgedichte von Joseph Brodsky (in einem wenig freundlichen Essay hat Solschenizyn kürzlich seine Ablehnung von Brodskys Poetik klar gemacht). Die Lektüre von Solschenizyns Geschichte der Juden in Russland hinterlässt einen widersprüchlichen Eindruck: Die erklärte Absicht des Autors zielt auf eine Darstellung des «Miteinander», die präsentierten Fakten belegen eher ein «Nebeneinander», und die bewussten Auslassungen sprechen schliesslich für ein «Gegeneinander».

Alexander Solschenizyn: Zweihundert Jahre gemeinsam. Die russisch-jüdische Geschichte 1795-1916. Herbig-Verlag, München 2002. 560 S., Fr. 52.70.

Aleksandr Solzenicyn: Dvesti let vmeste (1795-1995). Cast' I. Moskva, Russkij Put' 2001. 512 S., Fr. 42.-.

Aleksandr Solzenicyn: Dvesti let vmeste (1795-1995). Cast' II. Moskva, Russkij Put' 2002. 552 S., Fr. 42.-.


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