DIE  POLITISIERUNG  DER  LUST

Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts

Dagmar Herzog: Keine Prüderie im "Dritten Reich"

(mit einigen Anmerkungen von Nikolas Dikigoros)

Historisch korrekt betrachtet (aber natürlich nicht politisch korrekt, Anm. Dikigoros) waren die Nationalsozialisten sexuell aufgeschlossen. Vorausgesetzt freilich, es handelte sich um gesunde Arier unter sich. Ob diese miteinander verheiratet waren, spielte gar keine so große Rolle. Damit knüpften die Nazis an der sexuellen Freizügigkeit des frühen 20. Jahrhunderts an. Deutschland, so die Autorin, war damals das liberalste Land in Europa.

Dass es im "Dritten Reich" für Arier recht munter zuging, geht aus Primärquellen hervor. Anfangs wurden junge Arier noch heimlich, doch bald ganz offen zu Sex ermutigt.

1934 hatten die Führerinnen im Bund deutscher Mädchen die Anweisung, die ihnen anempfohlenen jungen Mädchen zum vorehelichen Geschlechtsverkehr zu ermutigen, noch mit dem Vermerk "streng geheim" erhalten. Bereits 1935 war es ein offenes Geheimnis, was in einigen BDM-Gruppen ablief. In Dresden vermerkte etwa Viktor Klemperer in seinem Tagebuch: "Annemarie Köhler erzählt verzweifelt, die Krankenhäuser seien übervoll, nicht nur von schwangeren, sondern auch von tripperkranken 15-jährigen Mädchen." (Da hat der Jude V.K. bei der "Nachbearbeitung" seines Tagebuchs zu Publikationszwecken wohl - absichtlich? - "1935" mit "1945" verwechselt, nach der Vergewaltigungswelle durch die alliierten Besatzer Befreier, Anm. Dikigoros)

Prüderie in den 1950er Jahren

Eine gewisse Freizügigkeit hielt sich auch noch die ersten Nachkriegsjahre über. Damit war es ab 1950/1951 vorbei. Der Konservatismus und die Prüderie lassen sich durchaus als frühe Form des Antinazismus interpretieren.

Die Ablehnung dieser Freizügigkeit und die Propagierung einer strikten Prüderie sind jedoch nicht nur eine merkwürdige Bewältigungsform einer Geschichte voller Gräuel. Dahinter habe sich auch, so die Autorin, eine Strategie verborgen: Mit Hilfe der Kirchen vertuschten am Nazismus beteiligte Protestanten und Katholiken ihre vergangene Komplizität, indem sie sich als die neuen Saubermänner aufspielten. Doch einiges von ihrem früheren Nazi-Denken retteten sie dennoch in die Nachkriegszeit.

Man könne dies als Backlash verstehen, meint Dagmar Herzog. Keuschheit und monogame Ehe waren sozusagen der Gegenschlag.

Umkehr in den USA

Die sexuelle Revolution der 1960er Jahre sei nur zum Teil mit der Erfindung der Antibaby-Pille zu erklären, meint Dagmar Herzog. Sie argumentiert mit Michel Foucault, daß Sexualität nicht für sich allein stehe. Über Sex werden auch Machtbeziehungen verhandelt und daher müsse man die moralische Rechtfertigung dieser sexuellen Revolution berücksichtigen.

Die Strategie der 1950er Jahre, durch Umlenkung auf das Thema Sexualität die Vergangenheit unter den Teppich zu kehren, sei derzeit auch in den Vereinigten Staaten zu beobachten, sagt Dagmar Herzog. Die Historikerin recherchiert über die christlichen Rechte in den USA und deren Moralvorstellungen. "Auf einmal ist Teenager-Sex unmoralisch, aber Folter ist ok", so Dagmar Herzog.

Text: Madeleine Amberger


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