Das Kanto-Erdbeben von 1923

Erst die Feuerwalze, dann der entfesselte Lynchmob

von Florian Stark (DIE WELT, 01. September 2018)

Links und Anmerkungen: Nikolas Dikigoros

Am 1. September 1923 bebte in Tokio (Anm. Dikigoros: gemeint ist die japanische Hauptstadt Tōkyō) und Yokohama der Boden. Austretendes Gas verwandelte die Städte in ein Flammenmeer. 140.000 Menschen starben. Angehörige verdächtiger Minderheiten wurden gelyncht.

Die vermeintlich Schuldigen waren schnell gefunden. Noch während über Tokio und Yokohama Feuersäulen von den Zerstörung der beiden größten Städte Japans zeugten, rotteten sich Überlebende zusammen. Mit Schwertern und Bambusspeeren machten sie sich auf die Jagd nach Koreanern. Sie wurden erschlagen, geköpft, aufgespießt. Nach offiziellen Angaben fielen mehrere Hundert, nach anderen Schätzungen mehr als 6.000 Koreaner oder Japaner, die das Pech hatten, für solche gehalten zu werden, dem Verbrechen zum Opfer. (Anm.: Man möge Dikigoros nicht für cynisch halten, wenn er schreibt, daß es bei 140.000 Erdbebenopfern Korinthenkackerei ist, darüber zu streiten, ob noch ein paar hundert oder eher ein paar tausend Lynchopfer hinzu kamen.)

Parallelen zu den Judenpogromen in Europa sind nicht zufällig. Denn der Vorwurf, der den Koreanern gemacht wurde, lautete hier wie da: Sie haben die Brunnen vergiftet, die prekäre Wasserversorgung in der Katastrophe, die Hunderttausende getötet und Millionen obdachlos gemacht hat. Das Erdbeben, das am 1. September 1923 gegen 11.58 Uhr über Tokio und Yokohama hereinbrach, erreichte wohl eine Stärke von 7,9 auf der (1935 eingeführten) Richterskala und zählt mit mehr als 140.000 Toten zu den opferreichsten Naturkatastrophen in den vergangenen Jahrhunderten. Da sein Epizentrum auf der Kanto-Ebene auf der japanischen Hauptinsel Honshu lag, ist es als „Großes Kanto-Erdbeben“ (Anm. Dikigoros: "Kantō daishinsai [Kanto-Großbeben]") in die Geschichte eingegangen.

Mehr als 140.000 Menschen verloren ihr Leben, die meisten verbrannten

Etwa zehn Minuten lang wurden die beiden Metropolen von Erdstößen erschüttert. Während die meisten modernen Häuser aus Stein dem nicht standhalten konnten, erwiesen sich die traditionellen Häuser aus Holz und Papier der Wucht durchaus gewachsen. Doch die Erfahrungen vieler Generationen mit einem Leben über dem Pazifischen Feuerring und seinen häufigen Erdbeben wurden von der modernen Infrastruktur zunichte gemacht. Großflächig barsten die Gasleitungen, die Häuser und vor allem Straßenlaternen versorgten. Das Gas entzündete sich, und eine Feuerwalze überrannte die Städte.

Jetzt waren es die Häuser aus Holz, die die Katastrophe vorantrieben. 90% der Gebäude in Yokohama gingen in Flammen auf. In Tokio waren es rund 80%, darunter 7.000 Fabriken, 162 Krankenhäuser, 117 Schulen. Eine halbe Million Menschen wurde verletzt, drei Millionen verloren ihr Heim. Von ganzen Vierteln blieben nur Asche und wenige Trümmer übrig. Und Leichen. Ihren Höhepunkt erreichte die Katastrophe um das Gelände des Militärarsenals Rikugun Honjo Hifukusho unweit der Tokioter Innenstadt. Als die dort gelagerten Munitionsbestände explodierten, verloren mehrere Zehntausend Menschen ihr Leben.

Die Feuerwehr war völlig überfordert. Die Hauptstadt Tokio verfügte gerade über 25 Feuerwachen mit 37 Pumpenwagen. Militär wurde bei der Räumung eingesetzt. Die „Neue Zürcher Zeitung“ berichtete: „Die Truppen sind gegenwärtig damit beschäftigt, die Leichen auf den Straßen wegzuräumen. Sie werden einfach in die noch brennenden Häuser geworfen, was unter den obwaltenden Umständen das einzige Mittel ist, um Epidemien zu verhindern.“

Die Angst davor vertrieb das nicht. Das Beben hatte nicht nur die Gas-, sondern auch die Wasserleitungen zerstört. Um die Brunnen drängten sich die Überlebenden. Deren Panik und Ratlosigkeit schlug um in Hysterie und blinde Wut. Bereits wenige Stunden nach der Katastrophe machten Gerüchte die Runde, die Feuer seien von Ausländern gelegt worden, nun sollten sie auch die Brunnen vergiftet haben.

Ins Visier des Mobs rückten die Koreaner. 1905 hatte Japan Korea zu einem Protektorat und 1910 zu einer Kolonie gemacht. Die Einführung von Plantagen hatte viele Bauern ihrer Existenzgrundlage beraubt, so dass Zehntausende Koreaner nach Japan strömten. In Bergwerken und Fabriken, wo die Arbeit gefährlich war und schlecht entlohnt wurde, fanden sie Anstellungen, wurden damit aber zugleich weiter ausgegrenzt und als „unrein“ stigmatisiert.

Ein ähnliches Image hatten Koreaner aus besseren Kreisen. Als Studenten engagierten sich ihre Kinder oft in nationalistischen oder kommunistischen Gruppierungen, die von der japanischen Polizei mit Argusaugen beobachtet wurden. Umso mehr, nachdem 1919 die „Bewegung des ersten März“ die Unabhängigkeit Koreas proklamiert und eine landesweite Erhebung initiiert hatte, die die Kolonialmacht mit großer Brutalität niederschlug.

Die Infrastruktur war weitgehend zerstört

Das steigerte die Vorbehalte von Polizei und Militär gegen alles, was koreanisch war oder schien. Historiker haben gezeigt, dass die Selbstjustiz nach dem Großen Kanto-Beben durchaus mit Billigung der Ordnungskräfte geschah. Es gab Fälle, in denen sie selbst Jagd auf vermeintliche oder tatsächliche Aufrührer machten, wie andererseits Beispiele überliefert sind, in denen sich Uniformierte dem Mob entgegen stellten. Als eine Folge der Katastrophe wird die Ausbreitung antikoreanischer Aversionen und Vorurteile in der japanischen Gesellschaft diagnostiziert.

Parallel dazu wurde die Verfolgung linksextremer Gruppen intensiviert, aber auch liberale Strömungen gerieten in Misskredit, schreibt der Historiker Gerhard Krebs. Zugleich begann der Einfluss der Militärs, zumal der Armee, auf die Politik zu wachsen.

Am 12. September gab Kronprinz Hirohito, der für seinen erkrankten Vater die Regentschaft führte, seinen Untertanen den Takt für die Zukunft vor: „Tokio soll wie bisher Hauptstadt bleiben; deshalb soll es wiederaufgebaut werden, und dabei gilt es nicht nur, Altes wieder herzustellen, sondern eine neue Ordnung zu schaffen, die eine Entwicklung in die Zukunft ermöglicht.“

In den folgenden sechs Jahren wurden Tokio und Yokohama mit breiten, asphaltierten Straßen, Parks und neuer Kanalisation wieder aufgebaut. Um den Brandschutz zu verbessern, wurden mehr als 10.000 Hydranten installiert und Löschfahrzeuge importiert. Da das von dem US-Architekten Frank Lloyd Wright aus Stahlbeton errichtete Hotel „Imperial“ in Tokio das Beben ohne größere Schäden überstanden hatte, schien ein Wundermittel gegen künftige Katastrophen gefunden.


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