Henry Wirz - "Hängt ihn!"

Vor 150 Jahren endete der amerikanische Bürgerkrieg. Mittendrin:
Der Schweizer Lagerkommandant Henry Wirz. Wer war dieser Mann?

von Simon Marti (DIE ZEIT, 9. April 2015)

Das Morden endete vor genau 150 Jahren. Am 9. April 1865 kapituliert General Robert E. Lee, Oberbefehlshaber der "rebellischen" Südstaaten. Vier Jahre hat der amerikanische Sezessionskrieg gewütet, mehr als 600.000 Menschen sind in diesem blutigsten Ringen der US-Geschichte gestorben. Und mittendrin: ein Schweizer, Heinrich "Henry" Wirz.

Doch es ist nicht der Krieg, der seinem Leben ein Ende setzt, es ist der Frieden, der ihn den Kopf kosten wird. Ihm, dem ersten verurteilten Kriegsverbrecher der Schweiz.

1823 kommt Wirz im Zürcher Niederdorf als Sohn eines Schneidermeisters zur Welt. Er möchte Medizin studieren, doch dazu fehlt der Familie das Geld. So arbeitet Wirz als Kaufmann, verschuldet sich – und wandert ins Gefängnis. Ein Jahr später kommt er frei, doch die Richter verbannen ihn aus seiner Vaterstadt.

Heinrich, 25-jährig, verlässt Frau und Kinder und wandert, wie Zehntausende seiner Landsleute im 19. Jahrhundert, nach Amerika aus. An Bord des Schiffs Sarah Boyd erreicht Heinrich New York. Bald heiratet er wieder, wird erneut Vater – und macht sich mit seiner zweiten Familie auf gen Süden.

Dort liegt der Krieg schon in der Luft. Als Plantagenverwalter in Mississippi und später in Louisiana steht Wirz im Solde vermögender Pflanzer. Er ist nun ein Teil des menschenverachtenden Sklaverei-Systems. Nie stellt er es infrage. Schließlich bietet es ihm ein bescheidenes Auskommen nach Jahren voller Unrast und Demütigung. Doch die Plantagen-Aristokratie ist in Gefahr. Die Nordstaaten lehnen die Sklaverei ab, radikale Politiker wollen sie im ganzen Land verbieten. Als im Herbst 1860 Abraham Lincoln, ein gemäßigter Gegner der Sklaverei, ins Weiße Haus einzieht, kehrt ein Südstaat nach dem anderen der Union den Rücken. Gemeinsam gründen sie einen eigenen Bund, die Konföderierten Staaten von Amerika. Alsbald mobilisieren beide Seiten ihre Heere.

Mit der Bombardierung von Fort Sumter vor der Küste von South Carolina bricht im April 1861 der Bürgerkrieg los. Wirz meldet sich freiwillig zur konföderierten Infanterie. Er will an die Front, in den Kampf für seine neue Heimat und deren Herrscher, die nicht einmal seinen Namen richtig aussprechen können.

Henry ist ein tapferer Soldat. In Virginia zerfetzt ein Granatsplitter seinen rechten Arm. Die Wunde bricht immer wieder auf, lässt ihm keine Ruhe, außer in den kurzen Momenten, in denen er seine Schmerzen mit Laudanum betäubt. Der Kampf an der Front ist für ihn vorbei.

Doch seine Vorgesetzten finden bald eine neue Aufgabe für den strebsamen Schweizer: Er soll helfen, die Abertausenden von Kriegsgefangenen aus dem Norden zu bewachen.

Wirz, inzwischen zum Captain befördert, untersteht General John H. Winder, dem obersten konföderierten Kerkermeister. Winder ist ein brutaler Tyrann, ein widerlicher Zyniker, der von einer menschlichen Behandlung gefangener Feinde nichts wissen will. Ein Herzinfarkt kurz vor Kriegsende erspart ihm das Strafgericht des Nordens und den Gang auf das Schafott.

Winder ernennt Wirz im April 1864 zum Kommandanten des Gefangenenlagers Camp Sumter, nahe dem kleinen Nest Andersonville im Westen von Georgia. Hier, im tiefen Süden, kommandiert der Zürcher nun eines der größten Lager für gefangene Unionssoldaten.

Die hölzernen Palisaden sind noch nicht fertig gebaut, da strömen die ausgemergelten Gestalten schon ins Camp. Bald sind es täglich Hunderte, die sich nach Andersonville schleppen. Feste Unterkünfte gibt es keine, Zelte nur wenige – die konföderierten Nachschuboffiziere schicken die Planen lieber den eigenen Leuten an die Front, statt sie den eingepferchten Yankees zu überlassen. Die Männer hausen in Erdlöchern oder unter freiem Himmel.

Geplant wurde das Lager für maximal 10.000 Gefangene. Doch im August vegetieren hier 33.000 Männer vor sich hin. Je wärmer es wird in dieser heiß-feuchten Gegend, desto tödlicher wird das Lager für seine Insassen. Leichen liegen vor den improvisierten Unterständen, bald nimmt keiner mehr Notiz von den sterbenden Kameraden. Der Tod ist längst zur Gewohnheit geworden in der "Hölle von Andersonville". Und immer mehr Männer strömen ins Lager, denn die Kriegsparteien haben längst aufgehört, ihre Gefangenen auszutauschen.

Die Presse schimpft ihn "deutsche Laus"

Wirz stapft durch dieses Elend. Von Schmerzen geplagt, völlig überfordert mit der Versorgung dieser Verdammten. Eindringlich schildert das Jürg Weibel in seinem dokumentarischen Roman Captain Wirz: Ständig habe der Kommandant geflucht, erinnern sich die Häftlinge. Es scheint, als wollten die Konföderierten möglichst viele ihrer Feinde, die dem Schlachtfeld entronnen waren, doch noch ins Grab befördern. Wirz' Vorgesetzter Winder brüstet sich: "Ich bringe mehr Yankees um als 20 Regimenter in Lees Armee." Die Essensrationen sind viel zu klein und oftmals verdorben. Im Mehl winden sich die Maden. Es fehlt an Pfannen und Töpfen, um die spärlichen Mahlzeiten zu kochen. Durch die eintönige Kost aus Bohnen, Speck und rohen Kartoffeln leiden die Männer an Skorbut und Durchfall. Und passt Wirz das Verhalten seiner Häftlinge nicht, streicht er die Essensausgabe gleich ganz.

Ungeziefer plagt die Soldaten, Schwärme von Moskitos stürzen sich auf ihre ausgezehrten Körper. In kürzester Zeit ist jeder Neuankömmling von Kopf bis Fuß verlaust. Katastrophal auch die Wasserversorgung: Ein einziger Bach dient als Trinkwasserquelle, Kanalisation und Latrine zugleich. "Auf dem Wasser schwimmt ein dicker, grüner Schaum. Alle, die das Wasser ungekocht trinken, werden krank, und ihre Gesichter schwellen so an, dass sie nicht mehr aus den Augen sehen", notiert der gefangene Kavallerist John L. Ransom aus Michigan in seinem Tagebuch.

Hilfe haben die Kranken keine zu erwarten. Eine Handvoll Ärzte ohne Medikamente steht einem Heer von Kranken gegenüber, die, der eine langsam, der andere schneller, jämmerlich verrecken. Von den insgesamt 45.000 Männern, die in Camp Sumter unter Wirz' Augen dahinsiechen, sterben 13.000. "Ich beobachte Männer, die herumliegen und ihren letzten Kampf kämpfen. Andere liegen da wie tote Pferde, mit von der Hitze aufgedunsenen Leibern, alle viere in die Luft streckend. Der Geruch, der von ihnen ausgeht, ist unbeschreiblich", schreibt Ransom. Was die Gefangenen eint, ist der Hass auf ihren obersten Aufseher. Sie machen sich lustig über seine Herkunft und seinen starken Akzent. Die Überlebenden werden ihren Rachedurst nach Kriegsende in den Norden tragen und in den Städten einen Furor entfachen, der die "deutsche Laus", wie die Presse den Schweizer schimpft, verzehren wird.

Wirz versucht sich derweil im Briefeschreiben. Er verfasst Eingaben an Winder, bittet um bessere Rationen und Medikamente. Vergebens. Er schickt sich in seine Aufgabe, ist ganz und gar der willfährige, pflichtbewusste Untergebene. Wenn sein Vorgesetzter nichts für die armen Seelen von Andersonville tun kann, wie sollte dann er, der kleine Kaufmann aus Zürich, etwas ändern? So führt er sein Kommando weiter. Ein pedantischer Verwalter des Leidens und des Todes.

Wirz' größte Sorge ist, dass sich die Gefangenen in ihrer Verzweiflung in eine Massenflucht oder gar einen offenen Aufstand stürzen könnten. Er droht ihnen, im Falle eines Aufruhrs mit Geschützen in die Menge feuern zu lassen. Die Bewacher haben Order, jeden zu erschießen, der die Sicherheitslinie an den Palisaden, die deadline, übertritt. Regelmäßig tun Männer genau dies in voller Absicht – um ihrem Leiden ein Ende zu setzen. Andere übertreten die Linie aus Versehen, worauf die Aufpasser sie ohne Vorwarnung über den Haufen schießen. Flüchtige lässt Wirz mit Hunden jagen; wen sie erwischen, lässt er in Ketten legen.

Doch der Krieg wälzt sich näher und näher an Andersonville heran. Gegen Ende des Jahres 1864 werden mehr und mehr Gefangene in andere Lager verlegt. Als die letzten Männer das Lager verlassen, kehrt Wirz zu seiner Familie zurück. Angst, dass die Sieger an ihm Rache nehmen könnten, hat er keine. Er versucht gar nicht erst, sich zu verstecken. Er habe im Krieg lediglich seine Pflicht getan, ist Wirz überzeugt. Und nun ist dieser Krieg vorbei.

Bereits im Mai 1865 wird er verhaftet. Unter starker Bewachung reist Wirz nach Washington, nicht, weil Fluchtgefahr bestünde, sondern weil die US-Justiz fürchtet, ein Mob könnte Wirz auf der Stelle lynchen. Die Angst ist begründet: Die Presse breitet den Horror von Andersonville täglich neu aus. Es kursieren Fotografien von Überlebenden aus dem Lager, sie zeigen geschundene, bis auf die Knochen abgemagerte Männer. Die Wut der Öffentlichkeit kennt keine Grenzen. Jemand muss für diese Verbrechen büßen. Dass auch in den Lagern der Unions-Armee Tausende Gefangene sterben, interessiert niemanden. Zu schrecklich klingen die Berichte der Überlebenden und jener Hochstapler, die mit ihren erfundenen Schauergeschichten über Wirz ein paar Dollar verdienen wollen. Laut schallt der Ruf durch Washington: "Hang him!"

Die Anklage lautet auf Mord und Verschwörung. Der Prozess ist ein Hohn, wie Historiker Ruedi Studer 2006 in seiner Studie zum Verfahren aufzeigt. Mehrere Zeugen lügen nachweislich oder sind geschmiert. Das Urteil fällt entsprechend aus: Tod durch Erhängen. Wirz scheint außerstande, zu begreifen, was mit ihm geschieht. Das Bild, das Staatsanwalt und Zeugen im Gerichtssaal von ihm zeichnen, erschüttert ihn, der nach seinem eigenen Verständnis doch immer nur seine Befehle befolgt hat, zutiefst. "Ich zweifle, dass ich der Captain Wirz bin, von dem gesprochen wird", schreibt er in seinem Gnadengesuch an Präsident Johnson. Es nützt nichts.

Am 10. November 1865 wird Heinrich "Henry" Wirz aus Zürich in Washington öffentlich gehängt.


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