Gründerzeit: Auf den perfekten Boom folgte der große Crash

von Frank Stocker (Die WELT, Januar 2021)

leicht gekürzt, mit Anmerkungen und neuen
Links versehen von Nikolas Dikigoros

Nach Gründung des Deutschen Reiches 1871 folgte ein Börsenboom, der Firmen wie Schering, Hoesch und Continental hervorbrachte – sowie Deutsche Bank und Commerzbank groß machte. Doch die Euphorie endete im Chaos – mit Folgen, die bis heute zu spüren sind.

Ihr ganzer Besitz bestand aus ein paar Droschken. Damit fuhren Ernst und Wilhelm Besckow die Berliner seit einigen Jahren durch die Stadt und lebten wohl mehr schlecht als recht davon. Bis zum Juni 1872. Denn da machten ihnen Investoren ein Angebot, das sie nicht ausschlagen konnten: Sie kauften ihnen ihr Unternehmen zu einem weit überhöhten Preis ab, wandelten es in eine Aktiengesellschaft um, nannten diese „Central-Bazar für Fuhrwesen“ und brachten sie an die Börse. Erlös: 550.000 Taler, umgerechnet rund 1,65 Millionen Mark.

Es war eine der vielen unglaublichen Geschichten jener Zeit. Diese hatte mit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches begonnen, am 18. Januar 1871, vor 150 Jahren. Damals wurde das neue Reich von einer Gründungswelle erfasst, die so genannte "Gründerzeit" nahm ihren Anfang. Deren erste Phase war ein Börsenboom, der irre Übertreibungen hervor brachte – und natürlich unweigerlich in einem großen Crash endete. Wie nach jedem Börsencrash waren die Folgen drastisch, einige davon sind sogar bis heute zu spüren.

Doch all das entfiel nun, jeder, der wollte, konnte quasi aus dem Nichts eine AG gründen und an die Börse bringen, ohne Fesseln, ohne Kontrollen. Hinzu kam, dass das im Krieg besiegte Frankreich Reparationszahlungen in Höhe von fünf Milliarden Francs leisten musste, das entsprach rund 1450 Tonnen Feingold beziehungsweise dem Anderthalbfachen des gesamten Geldumlaufs im Deutschen Reich zu jener Zeit.

Der Staat nutzte das Geld zum Eisenbahnbau, aber auch zur Rückzahlung von Kriegsanleihen. „Insbesondere aus der Schuldentilgung der öffentlichen Haushalte resultierte ein Anlagedruck für die vorherigen Eigentümer der Staatspapiere“, sagt Carsten Burhop, Wirtschaftshistoriker an der Universität Bonn.

Die meisten Neugründungen waren Banken

Die einen suchten also nach Anlagemöglichkeiten, die anderen konnten diese mit einem Fingerschnippen schaffen – die perfekte Gemengelage für einen Börsenboom. Und so folgte dieser denn auch. Bis 1873 wurden im Deutschen Reich 928 Aktiengesellschaften gegründet, mit einem Aktienkapital von rund 2,8 Milliarden Mark. Es entstanden Firmen, die über Jahrzehnte die Wirtschaft Deutschlands beherrschten. Eine davon ist bis heute im Dax: die Caoutchouc- und Gutta-Percha Compagnie, heute schlicht "Continental".

Viele andere sind heute noch bekannte Namen, wie die Actien Gesellschaft für Anilin-Fabrication, kurz AGFA. Andere gingen im Laufe der Jahrzehnte in anderen Firmen auf, wie die Hoesch AG, die Teil von Thyssen-Krupp ist, der Pharmakonzern Schering, der heute zu Bayer gehört, oder die Deutsche Spiegelglas AG, die in die Schott AG überging. Sogar ein ultramodern klingender Konzern wie die Deutsche Real Estate AG hat einen Vorgänger in jener Zeit, konkret in der Geestemünder Bank AG.

Die meisten Neugründungen waren ohnehin Banken. „Ihr einziger Gründungszweck war meist, am Finanzmarkt zu spekulieren“, sagt Burhop. Sie kauften von Alteigentümern, die Kasse machen wollten, Firmen auf und brachten sie dann zu einem Vielfachen des Preises an die Börse. Viele der Protagonisten waren schlicht Gauner und Betrüger, viele der Firmen einfach nur große Luftschlösser.

Eine der schillerndsten Persönlichkeiten in diesem Spiel war Heinrich Quistorp. „Wie Napoleon Bonaparte schuf auch Heinrich Quistorp Alles selber und allein, und gewissermaßen Alles aus – Nichts“, schrieb der Journalist Otto Glagau in einer Retrospektive über den Börsenboom. „Er hatte es verstanden, für sich zu werben, er hatte bis zu den höchsten Kreisen Gönner und Freunde gefunden.“

Dazu hätten sogar Mitglieder der königlichen Familie gehört, die ihm ansehnliche Summe vorgestreckt hätten. Quistorp habe es verstanden, sich dermaßen als „Biedermeier“ aufzuspielen, „daß er nicht nur das Publicum, sondern sogar die Börse berückte – die Börse, welche sonst Niemandem, nicht einmal sich selber traut, glaubte an – Quistorp.“

Er hatte zunächst eine Immobilienentwicklungsgesellschaft gegründet, die das Berliner Westend schuf. Dann gründete er die Vereinsbank und brachte mit dieser innerhalb von zwei Jahren 30 Unternehmen an die Börse: Feilen-, Tabak-, Papier-, Waggon-, Fass- und Werkzeugfabriken und vieles mehr, darunter auch besagten Central-Bazar für Fuhrwesen.

All das geschah in Berlin und an dessen Börse, die sich damals zum Finanzzentrum des Deutschen Reiches entwickelte. Nutznießer davon waren auch die Deutsche Bank und die Commerzbank, die kurz vor dem Boom 1870 gegründet worden waren, sowie die Dresdner Bank, die im November 1872 dazukam. Sie sollten über Jahrzehnte hinweg prägende Kräfte der deutschen Wirtschaft werden.

Im Zentrum des Geschehens stand damals aber noch die Börse selbst. Dort wurde gehandelt, dort gingen die Käufer und Verkäufer ein und aus, und es wurden stetig mehr. Allein 1873 erhöhte sich die Zahl der Börsenbesucher um ein Drittel, besonders die Zahl jener, die weder Mitglied der Berliner Kaufmannschaft waren noch größere Umsätze tätigten, legte kräftig zu – Kleinspekulanten zumeist. Waren es 1871 noch 657, hatte sich die Zahl bis 1873 auf 1418 erhöht und damit mehr als verdoppelt. Natürlich wirkt diese Zahl vor den heutigen Börsenkennziffern mickrig. Doch die Börse war damals die Spielwiese für das Wirtschafts- und Bildungsbürgertum, nicht für die große Masse. Ein Fabrikarbeiter, der vielleicht 700 bis 800 Mark im Jahr verdiente, hatte keine Möglichkeit, daran teilzuhaben. Das Bürgertum spekulierte dafür umso wilder, trieb die Kurse immer höher.

Wie stark sie stiegen, lässt sich schwer bestimmen, es gab damals noch keine Indizes. Der Wirtschaftswissenschaftler Ulrich Ronge hat zwar versucht, nachträglich einen Index zu berechnen, der aus den damals 30 größten notierten Aktiengesellschaften besteht. Dabei ergibt sich ein Kursanstieg zwischen Ende 1870 und November 1872 um rund 65%. Doch diese 30 Firmen waren zum allergrößten Teil alteingesessene, große Unternehmen. Die Masse der Neuemissionen war in diesem künstlichen Index nicht enthalten, doch gerade deren Kurse vervielfachten sich binnen kurzer Zeit. Und gerade sie stürzten ab, als die Blase platzte. Zeitpunkt und Ursache der Gründerkrise sind umstritten. Es kam wohl einiges zusammen. Schon seit November 1872 waren die Börsenkurse stetig gesunken. Im Mai 1873 brachen dann zunächst in Wien die Kurse drastisch ein. Im September schloss Frankreich die Zahlungen der Reparationen ab, der Zufluss frischen Geldes verebbte also.

Viele Bilanzen waren Fantasiegebilde

Im selben Monat begann die New Yorker Börsenkrise, und kurz danach brach schließlich die Vereinsbank von Heinrich Quistorp zusammen. Die Folge waren ein drastischer Kursrückgang an der Berliner Börse und danach eine jahrelange Baisse. Rund 40% jener Firmen, die in den vorangegangenen beiden Jahren an die Börse gegangen waren, gingen binnen fünf Jahren pleite. Jahrelang herrschte Tristesse an der Börse. 15 Jahre lang gab es praktisch keine Neuemissionen mehr. [...]

Zur Verantwortung gezogen wurde niemand. Das preußische Justizministerium versuchte zwar 1874 heraus zu finden, wer die Gründer der vielen Firmen waren, deren Bilanzen sich als Fantasiegebilde heraus stellten, um diese haftbar zu machen. Doch das gelang nicht. Die Behörden reagierten mit Reformen. 1882 wurde die Pflicht für einen Emissionsprospekt beim Börsengang eingeführt, 1884 folgte eine Reform des Aktienrechts, 1896 wurde ein Börsengesetz erlassen, das bis in die 1980er Jahre galt. [...]

Aber auch politisch führte die Gründerkrise zu Veränderungen. Reichskanzler Bismarck wandte sich von den Nationalliberalen als Verbündete ab, schwenkte um zu den Großagrariern und zur Industrie, schloss ein Bündnis aus „Roggen und Eisen“. Damit verbunden war eine Abkehr von einer Wirtschaftspolitik der völlig freien Märkte und des Manchesterkapitalismus. Nun galt das Primat des Staates, der regelte und intervenierte, bis hin zu Schutzzöllen.

Auch wenn es einige für zu kurz gegriffen halten, sehen manche in der Gründerkrise sogar eine Wurzel des Antisemitismus in Deutschland. Tatsächlich waren viele der an dem Börsenboom beteiligten Bankiers Juden.

Doch sie waren schlicht traditionell stark in diesem Wirtschaftszweig vertreten, da ihnen andere Bereiche verschlossen waren. Einige, allen voran der Journalist Otto Glagau, machten sie nun aber zu Sündenböcken. Juden und Liberalismus seien die Ursache für die Krise, schrieb er. Es klingt bedrückend aktuell.

Heinrich Quistorp übrigens verlor alles. Kurz nach dem Konkurs seiner Vereinsbank erschien der Gerichtsvollzieher, beschlagnahmte alles, auch den Weinkeller, wogegen Quistorp protestierte. Dieser sei zur Erhaltung seiner Gesundheit notwendig. Wenige Jahre später verließ ihn auch noch seine Frau. Der Grund: Er könne nicht mehr für einen standesgemäßen Unterhalt der Familie sorgen.


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