GULAG - Die letzten Kreise der Hölle

GULAG - Die letzten Kreise der Hölle

Das stalinistische Lagersystem wirkt bis heute auf traumatische
Weise im kollektiven Bewusstsein des russischen Volkes nach

ANNE APPLEBAUM: DER GULAG. Berlin 2003.

Der Titel des Buches ist lapidar, der Gegenstand gewaltig: Nichts weniger als eine Gesamtdarstellung des sowjetischen Lagersystems hat die einstige Warschaukorrespondentin des Economist und heutige Kolumnistin der Washington Post, Anne Applebaum, vorgelegt. Ihre Darstellung ist geprägt von einer tiefen und kenntnisreichen Empathie für die Opfer. Die Autorin hat mit vielen ehemaligen „Seks“, so der geläufige Jargonausdruck für die Häftlinge, gesprochen, und die umfangreiche Memoirenliteratur studiert. Darüber hat sie hinaus aber auch die einschlägigen wissenschaftlichen Arbeiten russischer Historiker – viele von ihnen aus dem Umkreis der Gesellschaft „Memorial“ – gelesen. Und sie hat in russischen Archiven Akten des GULag (das russische Kürzel steht für „Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager“) und des Politbüros eingesehen, die Aufschluss über die Verwaltung des Lagerimperiums sowie die politischen Grundsatzbeschlüsse geben, die für seine Entstehung und Entwicklung von Bedeutung waren.

Sklaverei für Stalin

Die eigentliche Keimzelle des GULag bildeten die 1923 eingerichteten „Nördlichen Lager zur besonderen Verwendung“ auf den Solowezki-Inseln im Weißen Meer, die der Geheimpolizei OGPU unterstanden. Hier wurden antibolschewistische Sozialisten isoliert, mit deren privilegiertem Status als anerkannte politische Gefangene es bald vorbei war. Hierher verschickte man Weißgardisten und Adlige zusammen mit so genannten Spekulanten oder rebellischen Matrosen der Kronstädter Garnison.

Auf den Solowezki-Inseln wurde erstmals die systematische Ausbeutung der Häftlingsarbeitskraft entwickelt. Die Initiative kam von dem Gefangenen Naftali Frenkel, der daraufhin selbst in die Lagerverwaltung aufstieg. Ein Musterlager, wie es Maxim Gorki nach seinem Besuch 1929 beschrieb, war Solowezki aber keineswegs: Widerständige Gefangene wurden gefesselt und nackt den Myriaden von Mücken ausgesetzt, nicht wenige wurden erschossen oder in den Sekirka-Bergen zu Tode gestürzt.

Ende der 20er Jahre bekam die OGPU den Großteil des notorisch defizitären Strafvollzugs in die Hand. Zur gleichen Zeit setzte Stalin seine „Revolution von oben“ ins Werk, die forcierte Industrialisierung und die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Der innere Zusammenhang von Stalins großem gesellschaftspolitischen Projekt, das die Produktionsziffern und die Quoten der sozialisierten Bauernhöfe ebenso rasant ansteigen ließ wie die Zahl der Zwangsarbeiter, bleibt bei Applebaum im Nebel. Und so kommt sie auch zu keinem klaren Urteil in der Frage, inwieweit die Ausdehnung der Zwangsarbeit durch ökonomische Bedürfnisse induziert war.

Denn der Beginn der Industrialisierung in der Sowjetunion war zugleich der des GULag. Hunderte von Lagerkomplexen mit ihren Tausenden von „Lagerpunkten“ sprenkelten bald die Landkarte der stalinistischen Sowjetunion. Häftlinge konnte man in unwirtliche und unerschlossene Gegenden schicken, und man konnte das letzte aus ihnen herauspressen. Sie bauten in Rekordtempo den Weißmeerkanal, sie wurden ins menschenfeindliche Ostsibirien an die Kolyma geschickt, um dort Gold zu schürfen, und sie gründeten Städte wie etwa die Bergwerkssiedlungen Norilsk oder Workuta.

Dem Großen Terror der Jahre 1937/38 mit seinen 700 000 Erschossenen fielen auch viele Lagerfunktionäre der ersten Generation zum Opfer. Vor allem aber wuchs die Zahl der Häftlinge durch die Massenverhaftungen enorm an. Im Mittelteil, zweifellos dem Herzstück ihres Buches, folgt Anne Applebaum dem Weg dieser Häftlinge. Die typischen Stationen von der Verhaftung über die U-Haft, den Transport, die Ankunft im Lager und die Zuweisung einer Arbeitsstelle beschreibt sie anhand einer Fülle von Zeugenberichten, die dem Leser die physischen Qualen und bedrückenden existentiellen Nöte der Betroffenen eindringlich vor Augen führen. Sie schildert das Barackenleben, die Probleme der Ernährung und Hygiene, Arbeit, Strafen und Belohnungen ebenso wie das Sterben.

Für die so genannten Politischen, die subjektiv zumeist durchaus staatsloyal und manchmal sogar glühende Anhänger Stalins waren, war das Lagerleben besonders schwer. Sie litten unter der Vorherrschaft ebenso gut organisierter wie brutaler Kriminellenzirkel, die auch im Lager raubten und vergewaltigten und von den Bewachern wenig zu fürchten hatten. Erst als nach dem Krieg kampferprobte und organisationsfähige Partisanen des antisowjetischen Widerstands aus der Ukraine und dem Baltikum in die Lager kamen, gelang es, die Macht der Kriminellen zu brechen.

Frauen stellten zwar eine Minderheit der Lagerbevölkerung, hatten es aber besonders schwer – nicht zuletzt, weil sie oft Opfer von Vergewaltigungen wurden. Applebaum berichtet aber auch von Liebesbeziehungen und Lagerehen, in denen die Frauen Protektion suchten, zuweilen auch von echten Romanzen.

Der Krieg bedeutete zunächst einen weiteren Zuwachs an Häftlingen aus den im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts annektierten Gebieten. Besonders schwerwiegende Folgen hatte jedoch der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941 für die Gefangenen: Die Haftzeit der Politischen wurde generell auf die Dauer des Krieges verlängert, während Gefangene, die wegen unbedeutender Vergehen verurteilt waren, aufgrund einer „Amnestie“ direkt in die Rote Armee entlassen wurden. Der Produktionsdruck und die Schärfe des Regiments in den Lagern stieg an, während die Nahrungsmittelversorgung in der Krise war. Im Jahr 1942 starb von den damals 1,4 Millionen Häftlingen jeder vierte.

Die deportierten Völker – Wolgadeutsche, Tschetschenen und andere Kaukasusvölker –, tatsächliche und vor allem vermeintliche Kollaborateure und auch Heimkehrer, ehemalige Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene oder KZ-Häftlinge stellten weitere Kontingente, die den GULag weiter wachsen ließen. Im Grunde wuchs der GULag, solange Stalin lebte, auch wenn die Entlassungen und das Massensterben im Krieg die Häftlingszahl vorübergehend sinken ließen.

Nach dem Tod des Diktators 1953 minderten mehrere Entwicklungen die Bedeutung des Lagersystems: Eine erste Amnestie, die Geheimpolizeichef Berija aus Einsicht in die Unproduktivität der Zwangsarbeit und im Ringen um politische Popularität verfügte, und die Welle von Lageraufständen, die mit Namen wie Norilsk, Workuta, Kengir verbunden ist. Erst nach Chruschtschows antistalinistischer Geheimrede auf dem 20. Parteitag 1956 setzte dann die Massenrehabilitierung ein. Der blinde Terror der Stalin-Jahre hatte ein Ende; abgelöst wurde er von einem System zielgenauer Repression, das sich gegen tatsächliche Abweichler, die sowjetische Dissidenten, richtete. Anne Applebaum nimmt auch diese Entwicklung in den Blick, notgedrungen recht kursorisch.

Achtzehn Millionen in Haft

Keine allzu schwere Aufgabe für ein gründliches wissenschaftliches Lektorat wäre es gewesen, die zu vielen Einzelfehler zu beseitigen, zumal so grobe Schnitzer wie die Behauptung, General Wlassow sei aus der Roten Armee desertiert oder die westalliierten Vertreter beim Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg hätten die sowjetische Legende von der deutschen Täterschaft beim Massaker von Katyn akzeptiert. Schade, dass dieses wirklich bedeutende Buch dem Publikum mit solchen Lackschäden präsentiert wird.

Achtzehn Millionen Menschen sind nach Applebaums Berechnungen in den Fängen des GULag gewesen. Doch in Ost wie West stößt dieses Massenschicksal auf eine weit verbreitete Ignoranz. Zu Recht weist die Autorin darauf hin, dass die vielfach unmenschlichen Zustände im russischen Strafvollzug und die massiven Menschenrechtsverletzungen im Tschetschenienkonflikt auch auf das unaufgearbeitete sowjetische Erbe zurückzuführen sind.

(Süddeutsche Zeitung, 14.02.2004)


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