MYTHEN DER VÖLKER

Der Boulevard der Lebenslügen

von Thomas Schmidt (DIE ZEIT, 3.2.2005)

Eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin macht die Unterschiede und die Abgründe in den europäischen Geschichtsbildern sichtbar

Historische Ausstellungen haben nur dann etwas mit der Zukunft zu tun, wenn ihr Befund den Interessen der offiziellen Erinnerungsplaner wenigstens ansatzweise zuwiderläuft. Die Ausstellung über Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen im Deutschen Historischen Museum weist in die Zukunft, und zwar deswegen, weil sie sich noch einmal über Europa, das Kind der Kriege, zu wundern traut, trotz schnurrendem Vereinigungsprozess der europäischen Nationen und trotz aller Stilsicherheit ihrer Regierungen beim öffentlichen Erinnern an Völkermord und Krieg.

In bisher nicht gekannter Vollständigkeit wirft die Ausstellung Schlaglichter auf die nationale Mythenbildung in den am Zweiten Weltkrieg beteiligten Ländern: Wie Sieg oder Niederlage ihre Identitäten formte, wie sich »Meistererzählungen« bildeten, wie mittels Aufklärung oder Staatspropaganda versucht wurde, sich kollektiver Traumata zu entledigen und ein neues Selbstwertgefühl zu erzeugen. Ausgeblendete Konfliktlinien unter dem harmonischen Selbstbild der EU von heute treten dabei zutage. Das Erinnern, das Wachhalten der Vergangenheit folgt nicht überall den gleichen Mustern, vor allem folgt es unterschiedlichen Zielen.

Im Westen Europas konzentriert es sich auf den Zivilisationsbruch des industriellen Judenmords. Im Osten Europas bilden die Sowjetisierung und – seit Gorbatschow – der Kampf um nationale Unabhängigkeit das Zentrum. Dort gibt es Rangeleien um die zentrale Opferrolle, das Thema Kollaboration drängt sich in doppelter Weise auf. Die Geschichte der nationalen Befreiung ist in Osteuropa nicht deckungsgleich mit der Geschichte einer Durchsetzung von Normen im Zeichen von Auschwitz. Eine Verantwortung, die vom Holocaust ihren Ausgang nimmt, wird immer zu einer Politik führen, die über den Nationalstaat, seine Mythologien und Interessen hinausgeht. Aber Völker, die sich aus der postnationalen Zwangsjacke des Ostblocks befreit haben, werden eine Politik der Verantwortung im nationalen Rahmen umreißen.

Das ist das eigentliche, das beunruhigende Resultat dieser Ausstellung: Europa ist keine wohlgeordnete Schule der Geschichte, sondern ein wuseliger Basar kollektiver Träume, Ängste und Besessenheiten, die von der Vergangenheit ausgelöst wurden. Mythen der Nationen kommt nicht als Eventschau daher, auch nicht als treue Präsentation geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse. Im Zentrum stehen die medialen Transmissionsriemen der Großen Erzählungen: Filme, TV-Serien, Denkmäler, Bilder aller Art, Briefmarken, Schulbücher.

Das größte Verdienst dieses Projekts liegt in der Dezentralität seiner Sichtweise(n). Es bindet die Erinnerungskulturen der Länder nicht an die bundesrepublikanische zurück. Deswegen bewertet es auch nicht die Schlüsse, die andere Nationen aus der Vergangenheit gezogen haben. Überhaupt tritt diese Ausstellung nicht mit einer scharf konturierten These hervor. Ihren Zugriff aufs europäische Gedächtnistableau könnte man als »essayistisch« bezeichnen, und darin besteht die geschichtspolitische Pointe dieser Schau. Dass die Pointe bisher wenig Beachtung fand, mag an der Besorgnis liegen, den moralischen Konsens innerhalb der Täternation durch Blicke auf andere Erinnerungskulturen zu gefährden. Aber eine solche Furcht ist unbegründet.

Diese Ausstellung stellt sich auch nicht in den Dienst irgendeiner Revision, sie überschreitet aber mit ihren Mitteln den Horizont nationalstaatlicher Geschichtsschreibung. Für den Mai dieses Jahres, wenn zum 60. Mal des Endes des Zweiten Weltkriegs gedacht wird, ist bereits absehbar, dass die Gedenkkulturen Europas schroff aufeinander prallen und wechselseitige Irritationen auslösen werden. Dass die Mythen der Nationen am 27. Februar schließen, ist daher gar nicht glücklich. Vielleicht sollte man die Schau bis zum Mai verlängern.

Der Historiker Etienne François, neben dem Kunstgeschichtler Horst Bredekamp einer der wissenschaftlichen Begleiter der Ausstellung, arbeitet in seinem Katalogbeitrag die Ungleichzeitigkeit der europäischen Geschichtsbilder heraus. In den westlichen Ländern bildeten sich nach 1945 Gründungsmythen, die vornehmlich um die Fiktion eines Volkes im Widerstand kreisten; in der Bundesrepublik war diese Phase vor allem durch Verdrängen und Beschweigen gekennzeichnet.

François zufolge wurden diese ersten Großerzählungen während der siebziger und achtziger Jahre demontiert – zugunsten eines neuen, emphatischen Zugangs zur Kriegsvergangenheit, der genauer Forschung ebenso Raum gab wie einer moralischen Haltung der Erinnerungspflicht. Dieses »zweite« Gedächtnis ist unheroisch, kritisch gegenüber kollektiven Lebenslügen – und es konzentriert sich auf den Völkermord an den Juden. Im Westen stellte sich eine Kongruenz des Gedenkens her: Es koppelte sich vom Bezug auf nationale Legenden und Mythen ab und verwandelte sich in ein Bekenntnis zu universellen Werten, die einen Genozid künftig verhindern sollen. Die Engführung des historischen Selbstverständnisses der westeuropäischen Nationen im Sinne des Geschichtszeichens Auschwitz wurde politisch begleitet, durch internationale Verrechtlichung, durch Interventionen, etwa im Kosovo, sowie durch eine in staatliche Regie genommene Gedenkpraxis.

Umso fremdartiger wirken einige der Geschichtsdebatten in den ost- und ostmitteleuropäischen Ländern. Sie konnten sich erst in den neunziger Jahren der kommunistischen Lüge entledigen, wonach nur die Rote Armee die vom Faschismus geknechteten Völker befreit habe. Des nationalen Widerstands gegen die Nazis zu gedenken, die eigene Opferrolle zu betonen und die bürgerliche Opposition gegen die Sowjetisierung ins Gedächtnis zurückzurufen, das hat immer noch etwas Atemloses. Dass Länder wie Polen oder Tschechien heute eine Konkurrenz der Opfergruppen zulassen müssen, ist eine ganz neue Erfahrung für sie, ebenso, dass sich Themen wie Kollaboration oder Vertreibung der Deutschen nicht länger abdrängen lassen.

Die Wiedergewinnung der Freiheit ins Zentrum zu stellen reduziert innere Widersprüche im Geschichtsdiskurs. Das hat auch politische Folgen. Als sich die Beitrittsländer vor dem Irak-Krieg plötzlich ins »neue Europa« verwandelten und den Amerikanern folgten, beriefen sie sich gegen Frankreich und Deutschland auf ihre Freiheitsgeschichte. Das Irritierende war, dass damals nicht ethischer Universalismus gegen zählebigen Nationalismus stand, sondern dass Polen und Balten den Wert einer Befreiung von der Tyrannei als einen durchaus universellen Wert in Anspruch nahmen, und zwar mit großem Selbstbewusstsein.

Solcher Art ist also die Fremdheit in Europa. Ist sie legitim? Verschwindet sie eines Tages wieder? Oder muss Europa mit Unterschieden im Gedenken leben lernen? Für die Geschichtshüter ist die Mehrperspektivik der Schau eine doppelte Provokation: Denen, die eine national begrenzte Erinnerungsgemeinschaft für unhintergehbar halten und hinter »Auschwitz« bloß politische Korrektheit wittern, führt sie vor Augen, dass sich historische Diskurse durchaus überlappen können, ohne dass die Differenziertheit der Forschung und der Urteilsbildung darunter leiden. Und allen, die am westdeutschen Gedenkwesen die Welt genesen lassen wollen, zeigt sie souverän, dass jeder Universalismus historische Voraussetzungen und politische Kontexte hat, um sich in Szene zu setzen. Erinnerungspolitische Exklusivität kann im gemeinsamen Europa jedenfalls niemand mehr für sich reklamieren.


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