Deutsch-Russische Nachbarschaft (1)
Gerhoch Reisegger
Manchmal
könnte man an eine teleologische Gestaltung von Abläufen denken. Aus eher ganz
persönlichen Gründen, der Freundschaft mit einem Slawisten und Leiter eines Ost- und
Süd-osteuropa Institutes, wurde das Interesse für Osteuropa und Rußland entfacht, als
zugleich in diesem Raum die großen Veränderungen stattfanden und immer noch stattfinden.
Mit auffal-lender Häufigkeit fielen uns dann im Laufe der Beschäftigung jeweils jene
Werke oder Hin-weise zufällig in die Hände, die sich exakt auf aktuell
bearbeitete Themen und Personen bezogen, so als hätte man gerade nach diesen gesucht.
Einem ähnlichen Umstand ist die Bekanntschaft mit einem vor ca. 15 Jahren verstorbenen
Philosophen und man kann es wohl mit gewissem Recht sagen
Universalgelehrten, Johannes F. Barnick, zu danken. Sein Hauptwerk, Vom Sinn des
Ganzen Die Logik des Schicksals als Schlüssel zur nachabendländischen Weltzeit
ist ganz aktuell geworden, als wir ja am Rande einer von den USA und Israel ausgelösten
apokalyptischen Entwicklung stehen, deren bisheriger Verlauf sich geradezu als
Bestätigung der Ableitungen aus dem genannten Werk ergibt.
Das früher erschienene
kleinere Büchlein über die Deutsch-Russische Nachbarschaft, es
stammt aus dem Jahr 1959, ist deswegen so faszinierend, weil es Grundlinien einer Politik
aufzeigt, die es uns dem deutschen Volk ermöglichen würde, doch noch einem
scheinbar besiegelten Schicksal, dem Austritt aus der Geschichte und damit dem Ende als
Volk, zu entgehen, wenn wir uns nur dieser fundamentalen Überlegungen erinnerten und sie
befolgten.
Im Zuge der
jüngsten Ereignisse um den 11. September hatte mancher den Eindruck was bei der
doch sehr zentral gesteuerten Desinformation durch westliche Medien nicht ganz
über-rascht -, daß sich merkwürdige Allianzen bilden. Z.B. jene, die der russische
Präsident Putin (u. A.) scheinbar mit den USA
eingegangen ist. Wer nun mit der Beurteilung schließlich recht haben wird, wissen wir
derzeit noch nicht, aber selbst wenn es der nicht recht vorstellbare Fall wäre, daß
Rußland tatsächlich den USA auf den Leim gegangen wäre, so könnte sich das nur um
einen schnell als solchen erkannten politischen und strategischen Irrtum handeln. Wir
wären aber dennoch gut beraten, all jene Elemente einer neuen (alten!) Politik in
Stellung zu bringen, die im auch historisch so bewährten Interesse
Deutschlands und Rußlands liegen.
Es ist daher
ein Anliegen, diese Gedanken, die Barnick vor über 40 Jahren darlegte, in Erinne-rung zu
rufen. Wir wollen das in der Weise tun, daß wir weitgehend wörtlich zitieren und
gelegentlich Bezüge zu den gegenwärtigen Ereignissen herstellen. Manchmal, um nicht zu
lange zu werden haben wir gekürzt, aber dies nicht extra gekennzeichnet. Die an den
Beginn der Absätze gestellten Seitennummern, sie beziehen sich auf die (noch in
Restbeständen verfügbare (2)) Ausgabe von 1959, sollen es dem Leser erleichtern dies
insgesamt nachzulesen.
In einem
anderen Zusammenhang bei der Diskussion ob und inwieweit heute die Deutsche
Burschenschaft noch politisch, ja sich ihrer Wurzeln und Aufgabe überhaupt bewußt ist
haben wir kritisch angemerkt, daß es seit der Gründung 1815 eigentlich nach
dem Ereignis und nicht so sehr auch als dessen nur Mit-Verursacher/-Gestalter, - nämlich
der Überwindung Napoleons -, dem Wartburgfest 1817 und der
Demagogen-Verfolgung nach den Karlsbader Beschlüssen die die
Burschenschaften zu (im Grunde unverdienten) Märtyrern machte, nichts mehr gibt, mit dem
die Deutsche Burschenschaft Geschichte gemacht hätte.
Man
müßte hier viel weiter ausholen, z.B. auch die Philosophen der Tradition: Julius Evola,
Leopold Ziegler, Donoso Cortes, usw. einbeziehen Uns ist seit der Französischen
Revolution der Wahn eingeimpft, daß "Demokratie" (= egalité) ein Ideal wäre. Das ist ein
fundamentaler Irrtum; sie steht sogar in schärfsten Gegensatz zur Freiheit, die aber
heute - auch bei den Burschenschaften - in einer völlig degenerierten Form nur mehr
"erkannt" wird, nämlich als Libertinage, als "Freiheit von" anstelle
von "Freiheit zu". Die traditionale Gesellschaft also auch das deutsche
Volk - war immer eine organische, d.h. gegliederte, mit einem Oben und Unten. Der
preußische Wahlspruch "Suum cuique",
jedem das Seine, ist nicht egalitär, sondern "gerecht" aus der höheren Warte
des organischen Staates, an dessen Spitze ein Monarch, und dessen Adel (= edel) unter dem
Gesetz der Pflicht für Kaiser und Staat stand. Auch der Wehrstand hatte eine
herausgehobene Stellung, womit weitgehend diese gegliederte Struktur eines traditionalen
und sittlichen Staates entstand, der auch heute noch Vorbild wäre, gäbe es ihn noch.
Wir
müßten bei allen unseren Fragen oder Handlungen (nicht nur als volksverbundene
Burschenschafter, diese aber wegen ihres Gründungsprinzips!) eine an
die Spitze stellen: Wie ist die Existenz des deutschen Volkes (3) zu sichern.
Das ist die zentrale Aufgabe überhaupt, hieraus
ergibt sich, was wir heute tun müssen! Die tagespolitischen Sympathien, dieser oder jener
Politschwätzer, kindische Abgrenzungen aus sogenannten "grundsätzlichen"
Erwägun-gen, etc. sind völlig obsolet. Aus dieser einzigen Frage ergibt sich die
Hierarchie nachrangiger Fragen und Aufgaben, die Position die man hierzu nur einnehmen
muß, und daher: was zu tun ist.
Diese
verschiedenen Prioritäten werden nur nicht mehr erkannt, Wichtiges wird von gänzlich
Nebensächlichem zugedeckt, oder man ist überhaupt unfähig geworden, die
Freund-/Feind-Unterscheidung noch zu treffen.
Viele Ältere
sofern sie altersbedingt überhaupt noch die Energie aufbringen sich mit der
politischen Entwicklung zu beschäftigen sind teilweise von den Kriegserlebnissen,
der russischen Gefangenschaft oder Besatzung durch die Rote Armee, u. a. traumatisiert,
die Jüngeren oft von dem primitiven, von der psychologischen Kriegsführung bestimmten
Ost-West-Gegensatz aus der Zeit des Kalten Krieges, von einer ernsthaften Beschäftigung
mit Rußland abgehalten worden. Die vergangen Jahre zeichneten ein Bild des
wirtschaftlichen (und politischen) Niedergangs, und als ob es nicht mehr lohnte, sich mit
Rußland zu beschäf-tigen. Jedenfalls ist die Folge, daß es meist an Grundsätzlichem
und dem (Geo-)Politischen überhaupt mangelt, und man kaum noch Vorstellungen hat, wie
denn tatsächlich die Fundamente einer Ostpolitik, ja unserer deutschen Politik
schlechthin aussehen müßten.
Was die
Deutsche Burschenschaft betrifft, der man ein paar Mystifizierungen nachsehen mag, wie die
(Befreiungs-)kriegsentscheidende Wirkung des Lützow´schen Freikorps u. ä.
Folk-lore-Verbände, so ist die politische und historische Ahnungslosigkeit doch
erstaunlich und tragisch zugleich. Darum eine paar Klarstellungen, die dann aus dem Werk
Barnicks, das in Erinnerung zu rufen uns wichtig ist, detailreiche Ergänzung erfahren
werden.
1. Durch die
von Napoleon erzwungene Niederlegung der Deutschen Kaiserkrone durch Habsburg, entstand
die Österreichische Monarchie als Völkerrechtssubjekt, dessen habsburgischer Kaiser
(Franz Joseph) eine englische Zumutung in eine anti-deutsche Allianz einzutreten mit den
Worten ablehnte: Ich bin ein deutscher Fürst. Die politischen Ideen (der
Großdeutschen) bezüglich Österreichs waren und sind daher nur geo-politische
Träumereien gewesen, d.h. in Wahrheit eine Dummheit. Wie sehr die Zerstörung
Österreichs später auch die totale Niederlage Deutschlands besiegelte, als das
Wegbrechen des starken Pfeilers im Südosten, kann man in Geschichtsbüchern nachlesen.
2. Napoleon
wurde von der Heiligen Allianz, dem Kaiser von Österreich, dem König von Preußen und
dem russischen Zaren, und keiner freiheitlichen, allgemeinen
Volks-erhebung besiegt.
3. Metternich
war entgegen der (bis heute fortdauernden, liberalen!) Greuelpropaganda ein kluger
Neuordner Europas, dem es leider an kongenialen, weitblickenden Partnern fehlte!
(Übrigens schrieben damals wie heute die Sieger die Geschichte! Was
davon zu halten ist, sollte bekannt sein!)
4. Die
Neuordnung, die überhaupt den Aufstieg Deutschlands (unter Preußens Führung)
ermöglichte, fand mit der ausdrücklichen Billigung Rußlands statt.
Den letzten
Punkt wollen wir da er von uns bisher de
facto übersehen wurde oder überhaupt unbekannt ist näher ansehen. Fjodor
Dostojewskij schreibt in seinem Tagebuch eines
Schriftstellers, daß (zu seiner Zeit) die eigentliche geo-strategische Aufgabe
Rußlands, die Orientfrage, d.h. die Befreiung Konstantinopels von den
Türken, gewesen wäre. Ein Ziel, das am sogenannten Europäischen
Gleichgewicht oder dem englischen Imperialismus nur scheitern konnte. Anstatt sich
mit dem militärischen Sieg über Napoleon an der Beresina zu begnügen, habe die
russische Armee Napoleon bis zur völligen Vernichtung von dessen Herrschaft durch Europa
verfolgt; bereits mit scheelen Augen von den europäischen Verbündeten betrachtet. Dazu
schreibt Dostojewskij:
Als wir
im Jahre 1812 Napoleon vertrieben hatten, schlossen wir mit ihm nicht Frieden, wie es
einige wenige weitblickende Russen wünschten, sondern rückten in geschlossener Front
vor, um Europa zu beglücken und es vom Usurpator zu befreien. Das gab natürlich ein
schönes Bild: auf der einen Seite stand der Despot und Usurpator und auf der anderen der
Friedensstifter und Erwecker zu einem neuen Leben.
Aber
unser politisches Glück lag damals durchaus nicht in diesem Bilde, sondern darin, daß
der Usurpator damals gerade in einer solchen Lage war, daß er sich zum ersten mal in
seinem ganzen Leben mit uns aufrichtig und für lange, vielleicht sogar für immer
versöhnt haben würde.
Mit der
Bedingung, daß wir in Europa nicht störten, würde er uns den ganzen Orient abgetreten
haben, und unsere jetzige Orientfrage, der drohendste und unglücklichste Punkt unserer
Gegenwart und Zukunft wäre schon längst gelöst. Der Usurpator hat es später selbst
ausgesprochen und dabei nicht gelogen, denn er hätte nichts Besseres anfangen können,
als sich mit uns zu verbinden mit der Bedingung, daß uns der Osten und ihm der Westen
zufalle.
Mit den
europäischen Völkern wäre er sicher auch damals fertig geworden. Sie alle, England
miteinbegriffen, waren damals viel zu schwach, um uns im Osten zu stören. Napoleon, oder,
nach seinem Tode seine Dynastie, wäre vielleicht später gestürzt, der Orient aber
dennoch uns verbleiben. (Wir hatten damals das Meer und konnten England auch auf dem Meere
entgegentreten.) Aber wir gaben alles für das schöne Bild her. ....
Was machten wir
aber trotz dieser Lektion in den folgenden Jahren des Jahrhunderts und sogar bis zur
jüngsten Zeit? Haben wir nicht etwa die Erstarkung der deutschen Staaten begünstigt,
haben wir nicht selber ihre Macht geschaffen, so daß sie jetzt vielleicht sogar stärker
sind als wir? Jawohl, es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, daß wir ihr Wachstum und
Erstarken gefördert haben. Sind wir nicht auf ihren Ruf hingezogen, um ihre
Bürger-kriege niederzuschlagen, haben wir nicht ihren Rücken gedeckt, als ihnen Unheil
drohte?
Alles
endetet damit, daß jedermann in Europa, jeder Stamm und jedes Volk einen Stein für uns
bereit hält und nur auf den ersten Zusammenstoß wartet. Was haben wir also in Europa
gewonnen? Nichts, nur Haß! ...
Damit hat Dostojewskij
unzweifelhaft und vollkommen recht! Rußland hat Deutschland dazu verholfen, was es
schließlich geworden ist, werden konnte: das mächtigste Volk, die stärkste Nation
Europas. Die Russen wissen das also. England und Frankreich
erst recht; sie, aber auch die kleineren Nationen hätten es niemals
zugelassen, und haben, als sie meinten dies noch einmal rückwärts drehen zu können,
auch 1848, 1870/71, 1914/18 und 1939/45 versucht! (Und selbst die sogenannte
Wiedervereinigung 1989/90 wurde von England und Frankreich massiv bekämpft, und in
Wahrheit auch durch politische Winkelzüge der USA wieder kontakariert: Verhinderung des
wirtschaftlichen Wiederaufbaus in Mitteldeutschland, Einbindung im Weimarer Dreieck, d.h. zwischen Frankreich und
Polen, da es die USA den Franzosen nicht mehr zutrauten die Deutschen allein unter
Kontrolle halten zu können.) Freilich nicht immer ganz erfolgreich und
wunschgemäß, denn Frankreich wurde seither immer von Deutschland besiegt auch
1914/18 und trotz Versailles! und erst recht 1939/40. (Der deutsche Bundeskanzler
Helmut Schmidt gestand seinem französischen Präsidenten-Kollegen immer nur zu auf
der Seite der Sieger gestanden zu haben nicht aber selbst Seiger gewesen zu sein.
Was diesen natürlich immer ziemlich ärgerte.) Und England hat überhaupt alles
verloren: sein Empire und die imperiale Vormachtstellung in der Welt, die es an seine
ehemalige, abtrünnige Kolonie USA abtreten mußte (Frankreich übrigens auch, wenngleich
seine Verluste sich nicht annähend mit jenen Englands vergleichen lassen.)
So stellt sich
heraus, was Fürst Bismarck als einziger schon damals erkannt hatte, daß
nämlich Deutschlands Größe, Macht und Bestand von Rußland abhängig ist! Sein
Ausspruch: Wir haben keine Feinde im Osten verdeckte nur mühsam die
Schlüsselrolle, die Rußland damals wie heute innehatte und -hat. Heute ist
Deutschland materiell und noch mehr geistig am Ende. Aus eigener Kraft ist es unfähig
sich aus dem parfümierten Sumpf des Westens zu ziehen. Rußland ist zwar auch
materiell schwer angeschlagen, laut Prof. Pawlow (4) bzw. Zinoview (5) sind die Verluste,
die der liberale Kapitalismus und die Globalisierung in den vergangenen 10 Jahren Rußland
geschlagen haben, das Zehnfache der Verluste des 2.Welt-krieges und es würde in 50 Jahren
nicht gelingen dies wieder auszugleichen! Dennoch ist Rußland in einer
besseren geistigen Verfassung als Europa und vor allem Deutschland. Deutschland bedarf
heute Rußland mehr denn je, und mehr als umgekehrt Rußland Deutschland benötigte. Es
wäre somit das dringendste Anliegen deutscher Politik Rußland wieder als
selbstbestimmten Faktor der Politik handlungsfähig zu sehen und ein gutes
Nachbarsnachschafts-Verhältnis mit Rußland herzustellen.
Wenden wir uns
damit dem kleinem Büchlein Barnicks zu. Der erste Satz in von so großem
(Erkenntnis-)Wert bringt es auf den Punkt:
(7) Seit dem
Mirakel des Hauses Brandenburg, dem russischen Thron- und Kurswechsel in der
Schicksalsminute des Siebenjährigen Krieges, ging es Preußen und dem preußisch
reorga-nisierten Deutschland immer dann gut, wenn auch die Beziehungen zu Rußland gut,
und dann schlecht, wenn auch diese schlecht waren. (Das war mit dem Tod der Zarin
Elisabeth am 5. Januar 1762 der Fall. ...)
(13) Zar
Alexander I. hatte bezüglich Europas und Preußens konkrete Vorstellungen. - Er ließ
auch keinen Zweifel daran, daß nach Tilsit und Erfurt Preußen in seinem ungeschmälerten
Bestand wiederhergestellt werden sollte. Es war ihm klar, daß für ein in Osteuropa freie
Hand habendes Rußland Preußen der ideale und einzige Partner unter den Westmächten war.
Frankreich hatte in und mit Polen immer Rußlands Interessen gekreuzt und England tat dies
im Orient. (14) Mit Österreich gab es noch nicht die Schwierigkeiten auf dem Balkan, ja
man konnte sogar einträchtig gegen die Türken vorgehen. Der Grund, daß Österreich
übrig blieb, lag mehr daran, daß sich angesichts der Rivalität der
deutschen Großmächte, Rußland nur mit einer von beiden verbünden konnte. Ins Gewicht
fiel auch, daß der katholische Österreich und Polen sich aus russischer Sicht nicht
geheuer ausnahmen. Preußen war hingegen neutral, was die Themen russischer Politik
zwischen Ostsee und Persischem Golf betraf. ... und sperrte durch sein machtvolles Dasein
auch bei nur wohlwollender Neutralität Rußlands Achillesferse, die
Westflanke mit all den allzu grenznah dahintergelegenen Lebenszentren und den hier kaum
vorhandenen Naturhindernissen. Was den Ausfall Preußens für Rußland heraufbeschwört,
sollte napoleon in allernächster Zeit neuartig-drastisch verdeutlichen, ...
(14) im
Spätherbst 1812, als nach dem Brande von Moskau nur noch hilflose Trümmer der Großen
Armee den Njemen erreichten, war unerwartet rasch ... die entscheidende Wendung da.
Alexander zögerte anfangs, ob er nun seinerseits offensiv werden solle. Der
Reichsfreiherr vom Stein, in seinem Aspekten als Russe, Preuße und Stand
förmlich die Inkarnation der russisch-preußischen Schicksalsverflochtenheit gab ... den
Ausschlag. Die Konvention von Tauroggen, zwischen dem russischen General Diebitsch
und dem Preußen Graf York, brachte eine Lawine ins Rollen: Napoleons Macht wurde
endgültig begraben. Tauroggen war, trotz des Mythos, die Ausnahme und nicht die Norm,
weil ja Napoleon auch nicht die Norm europäischer Politik war. Aber es war ein Segen für
beide Völker das ganze Jahrhundert hindurch.
(18)
Zwischenfälle blieben nicht aus. ... Das Jahr 1848 brachte eine Krise der Monarchien, in
Pertersburg herrschte statt Alexander Nikolaus, dem plötzlich Österreich besser gefiel
und Rußland stand mit einem Mal in den deutschen Fragen hinter Österreich.
Preußen war in Europa isoliert wie im Siebenjährigen Krieg, und bequemte sich in der
Olmützer Punktu-ation zu einer kampflosen Niederlage.
(19) Auf
Olmütz folgte der Krimkrieg, auf Preußens diplomatischen Rückzug der blutig erzwungene
Rußlands. Denn isoliert wie eben noch Preußen war nun plötzlich Rußland. Es erntete im
gefährlichen Augenblick keineswegs jenen Dank, den es sich durch eine selbstlos
legitimistische Politik, die Niederwerfung Ungarns, die Zurückweisung Preußens, speziell
vom Hause Habsburg wie allgemein vom konservativen Europa erworben zu haben glaubte. Nur
ausgerechnet Preußen, das eben noch brüskierte, blieb ungerührt von den
Stimmungs-kurven des Westens, den nervösen Wiener Intrigen, den Sirenenklängen aus
London einsichtig und korrekt.
(20) Die
Lektion war unmißverständlich. ... So kam es in den 60-er Jahren zu einer bewußten
Scheitelung der preußisch-russischen Freundschaft. Nun war auch mit Bismarck ein
Mann an der Spitze, der notfalls auch vor dem Äußersten nicht zurückschreckte, Blut und
Eisen. In Bismarcks Scharfsinn kam die deutsche Antwort: Wenn Österreich den nationalen
bestand nicht mehr wirklich zu schützen vermag, so muß es eben den ersten Platz räumen,
damit Preußen das Nötige tun kann! ... und zwar rechtzeitig, nicht erst angesichts eines
neu errichteten Rheinbundes! ... Bismarck wurde zum Erben napoleonischen Wesens, wobei er
die Miene der beleidigten Unschuld aufsetzen und dennoch handeln konnte. Aus dem Bersten
jahrhundertealter Konfliktfurchen rund um Deutschland ergaben und weiteten sich wie von
selbst die Einigungskriege, wie in logischer Deduktion folgte auf Königgrätz Sedan und
auf den Zusammenbruch des französischen Kaisertums die Errichtung des deutschen.
(24) Und wie
sich der französische Revolutionsstaat trotz seiner Gründunglüge und allerdings
unentwegt an ihr krankend immerhin bis heute behauptete, so hätte dies trotz des
gegenteiligen Fehlansatzes Deutsches Reich, was ja auf eine
übernationale Ordnung hinwies, was der tatsächlich zustandegekommene Nationalstaat nicht
war im Prinzip dem Bismarckreich möglich sein müssen. ... (26) Aber die Abkehr
vom Reich, hat nicht von der deutschen Aufgabe weg, sondern zu ihr hingeführt.
(27) Der
späte deutsche Nationalstaat war notwendig kleindeutsch! Bismarck
wußte das. Eine andere Lösung wäre ja nur über die Zerstörung Österreichs möglich
gewesen, eine Monstrosität die Bismarck fern lag. Sein tiefes und realistisches
Lageverständnis triumphierte an diesem Punkte ... über den liberalen Nationalismus der
Pauskirche ... Bismarcks Staat sollte ernstlich ein deutscher, nicht bloß ein größerer
preußischer sein.
(28) Den
Katastrophentrend einer Großmacht kann man nicht auf Schönheitsfehler der Staatsform
oder gar ein historisches Selbstverständnis zurückführen. Es muß etwas
Prinzipi-elleres sein.
Aus nichts
wird nichts! Ex nihilo nihil fit! Der
Ofen wärmt, weil Holz in ihm brennt. Entfällt der Grund, entfällt die Folge. Nach dem
Erlöschen erkaltet er bald. ...
(29) Überall in der
Politik, wo ein Grund als zentral erkannt ist, gilt denn auch zur Sicherung seines
Fortdauerns ungefähr jeder Schritt als erlaubt. Man denke an die ewigen Anschläge des
französischen Einheitsstaates gegen Deutschlands politische Einigung, an die zahllosen
Kriege der hegemonialen britischen Seemacht gegen jedwede Hegemonie auf dem Festland. ..
Man denke an
Deutschland. Seine staatliche Einigung verhielt sich zu der russischen Rücken-deckung ja
nicht anders als zuvor jahrhundertelang Frankreichs Glanz zu der deutschen Zwie-tracht und
Großbritanniens weltweite Seeherrschaft zu der kontinentalen Kleinstaaterei. Nur hielt in
Deutschlands Fall die Bedingung nicht jahrhunderte- oder auch nur jahrzehntelang, ja die Ausweitung der
Gelegenheit zum Prinzip wurde hier nicht einmal versucht. ...
(30) Als
Caprivi auf Holsteins Betreiben den Rückversicherungsvertrag (mit Rußland) nicht
verlängerte wurde nur zum ersten Mal und aus ungeschicktestem Anlaß am
deutsch-russischen Verhältnis der neue Riß sichtbar. Die Fehlentwicklung begann also
keineswegs erst nach Bismarcks Sturz.
(49) Das
maßlos gesteigerte moskowitische Selbstgefühl stand freilich in einem schreienden
Gegensatz zur barbarisch rückständigen Wirklichkeit, zur mehrfach gestuften
Kulturunter-legenheit schon Litauen, und vollends Polen und noch mehr Deutschland
gegenüber. ...
(Das) ...
zwang einerseits zu jenem Ausbau der Westkontakte, der mit dem Eingeständnis der
Kulturunterlegenheit praktisch zusammenfiel. ... (Dies) ging nicht immer ohne Schrammen ab
... und führte zu einem tendenziösen Verklären der eigenen Einfalt. Aber es kam
zwischen Deutschland und Rußland nicht zu jener Nachbarschaft hart im Raum, wie zwischen
Deutschen und Polen. ... So entstand für Rußland auch nie das Dilemma, dem überlegenen
Kultureinfluß nur mittels steriler, rein antithetisch bedingter Kontrastentwicklung
entgehen zu können. Während Polen schließlich zum Kehrbild Preußens entarten sollte,
konnte Rußland das Neue und Fremde ohne Angst um das Alte und Eigene annehmen. ...
(50) Vom 17.
Jhdt. an machte Moskau ... mit dem Sammeln russischer Länder Ernst. Und eben jetzt begann
auch Norddeutschland, von Berlin her, auf die zwiefache schwedische und polnische
Übermacht mit eigenen Anstrengungen zu antworten. In das deutsch-russische
Grundverhältnis begann damit von jenem Sachverhalt her, der bereits als
Nachbarsnachbar-schaft vorgemerkt wurde, eine zusätzlich und wieder günstige Komponente
hineinzuspielen. ...
(51) Seit 1386
der litauische Jagiello die polnische Hedwig geheiratet hatte und also plötzlich in
Osteuropa aus zwei mächtigen Staaten ein gewaltiges Reich entstand, besaßen Deutschland
und Rußland, oder jedenfalls das was man in der zerfallenden Mitte Europas und an dessen
fernsten nordöstlichem Rande bei einigem guten Willen so nennen konnte, einen
gemein-samen Nachbarn: Sie waren Nachbarsnachbarn geworden. Mit seiner östlichen,
litauischen Hälfte stand das Jagiellonenreich tief in Rußland. ...
Im Westen,
nach Deutschland hin, lagen die Dinge nicht ganz so kraß ... Der preußisch-baltische
Ostseestaat hatte de facto zum Reich gehört.
Sein Übergang aus der deutschen in die jagiellonische Machtsphäre war zwar, wie bereits
eingeräumt, nicht als nationale Frage empfunden worden, aber auch nicht einfach als eine
dynastische. ... Immerhin hatte es sich hier nicht zwar um des Reiches, aber um
Deutschlands erste
massive Einbuße vor dem Westfälischen Frieden gehandelt. ...
Auch
miteinander verbündet waren Brandenburg und Moskowien dem Giganten in ihrer Mitte
zunächst ja allzu grotesk unterlegen, als daß der Gedanke eines gemeinsamen Vorgehens
überhaupt hätte kommen können.
(52) Polens
Aufbau war föderalistisch-aristokratisch. Die ungewöhnlichen Rechte des Adels, der
polnischen Schlachta, hatten nicht ihresgleichen in Europa und zogen daher den litauischen
und ruthenischen Adel stark an. Dies bedingte einen zuverlässigeren
Verschmel-zungsprozeß, als ihn jede andere Staatsgewalt hätte erreichen können, der das
Großreich zusammenhielt. Es entstand, was man als polnische Adelsnation zu
bezeichnen pflegte. ... Nicht allein für den Adel ganz Europas, sondern für alles, was
Freiheit liebte, bedeutet es eine Faszination. Wie die deutschen Städte der
Weichselmündung wäre am liebsten auch Nowgorod zu der Jagiellonenmacht übergegangen,
wenn sie es nur vermocht hätte, ... Auch die Verfolgten aus Ost und West, Sektierer und
Verschwörer, kasakierende Leibeigene und vor dem Rekrutendrill flüchtende Bauernsöhne
pflegten das große Reduit der Freiheit jedem anderen Aufenthalt vorzuziehen. Und
vielleicht zeugt gerade dies, diese Anziehungskraft auf das einfache Volk, mehr als alles
sonst für den Rang jener einzigartigen Schöpfung. Die Kosaken am Dnjepr, die längst als
Saporogische Ritterschaft mit undefinierbaren Status irgendwie zwischen Grenzmiliz und
Nation ein kühnes Sonderdasein entwickelt hatten, waren ebenfalls einige Zeit auf dem
besten Wege, sich als ein energischer weiterer Typus polonisierten Kleinadels endgültig
in dem großen Adelsreich staatlich zu etablieren. Die polnische Gegenreformation
vereitelte dies wie manches andere.
(53) ... In
Lublin war 1569 endlich die Realunion zwischen den beiden Staaten, die langersehnte
Einheit unter der polnischen Krone, zustande gekommen. Kurz darauf, nur drei Jahre
später, erlosch das Jagiellonenhaus im Mannesstamm. Polens Wahlkönigtum ... war
plötzlich eine ernsthafte Angelegenheit ... und wegen des Streites am Bekenntnis sich
entzündenden Bürgerkriegskonstellation, eine Sache auf Leben und Tod! In ähnliche
Gefah-ren geriet Frankreich ... Aber Frankreich besaß eine Erbmonarchie und damit einen
Ansatz überparteilicher Selbstvergewisserung, an dem ... die Politiker weiterarbeiteten.
... Polen besaß keinen solchen Zwinger. Das war bisher seine Herrlichkeit und nunmehr
sein Verhäng-nis. ...
(54)
Frankreich war durch die Religionskriege nicht weniger schwer geschädigt, aber hier griff
der reziprok erstarkende Staat sogleich und
allzu gerne kompensierend ein, ... um unter Richelieu dem Rest gesellschaftlich autonomer
Ordnung den Garaus zu machen. In Polen war die Gesellschaft, deren Zerfall der Staat
hätte kompensieren sollen, selbst die Kompensation
für den hier nicht erwünschten Staat. ... So kehrte, als der jesuitisch
durchrationalisierte Katholizismus schließlich mit äußerster Kraft gesiegt hatte, die
Ordnung gleichwohl nicht wieder. ...
(55) In
Frankreich war die (neue) Ordnung ausbalanciert, unbeschadet ihres dogmatisch ein-seitigen
Vorzeichens. Und selbstverständlich trieb auch das wieder katholische Frankreich französische Politik. In Polen fehlte der
unabhängige Staatsgrund ... Polen trieb fortan katholi-sche
Politik, wie sonst nur noch Spanien und Österreich und wie diese heroisch an den eige-nen
Belangen vorbei. Bekanntlich kam Spanien auf diese Weise um seine Stellung als Weltmacht
und Österreich immerhin um die Prärogative in Deutschland.
(56) Seit der
Kirchenunion von Brest 1593 waren die Fronten endgültig klar. Inzwischen hatte in der
Ukraine das große Wählen begonnen, das Schwanken zwischen Freiheit und
Rechtgläu-bigkeit., zwischen dem verdächtig gewordenen Adelsreich und dem nach wie vor
ungeliebten, aber nun fast das kleinere Übel erscheinenden Moskowitertum.
Aufbrechen des nationalen und religiösen und zusätzlich sozialen Gegensatzes (wie in
Irland) - Es kommt zum Krieg zwischen Polen und Rußland und Rußland siegt
überraschenderweise. (57) Im Frieden von Andrussowo 1667 muß Polen zurückweichen und
anerkennt die Autonomie des ukrainischen Hetmanstaates, Kiew kam mit der Metropolie an den
Zaren und ebenso alle Gebiete östlich des Dnjepr einschließlich Smolensk.
Das war der
Anfang vom Ende Polens, trotz der noch immer bestehenden politischen und kulturellen
Unterlegenheit Moskowiens, also Rußlands. - Polen war ja auch noch im Westen in Kriege
verwickelt: mit Gustav Adolf von Schweden und später auch Brandenburg. Schweden empfand
wegen der katholischen Parteinahme Polens den Erbanspruch Johann Kasimirs auf den
Wasa-Thron als Zumutung und bare Unmöglichkeit und quittierte ihn mit einem Angriff, der
weitere Staatskrisen in Polen auslöste.
(58) Hier
machte Brandenburg nun Politik als Fortsetzung des Krieges und verbündete
sich zuerst mit Schweden gegen Polen, dem es die preußische Lehenshoheit abrang, und dann
mit Polen gegen Schweden, was diesem ein Profitieren in ähnlicher Weise nicht erlaubte.
Damit war Bandenburg plötzlich ein eigenmächtiger Staat und Norddeutschland nach der
Ostsee und Osteuropa hin nicht mehr schutzlos. Schweden war auf dem Feld seiner bisher
leichtesten Siege unmißverständlich gestoppt. Es sollte in Deutschland hinfort nicht
mehr vordringen. Zurück aber, und gleichsam die Zeche bezahlen, hatte auch hier nur Polen
gemußt.
(60) Ranke
sprach einmal von dem einer jeden großen Nation speziell zugemessenen
Welt-tag: Der polnische war jetzt zu Ende.
(61) Es gibt
in der Katastrophe noch Rangunterschiede, es gibt in der Politik nicht anders als in der
Strategie neben den Formen des bloßen und völligen Scheiterns auch den Typ des
geordneten, planvoll bemessenen Rückzuges aus unhaltbar gewordener Stellung, man denke an
den Venedigs aus der Levante im 17. Jhdt. oder heute den Großbritanniens aus seinem
Weltreich.
Polens
Auflösung ist selbst in dieser Skala noch ein düsterer Sonderfall. Man hat neuerdings
mehrfach an den in Bausch und Bogen verurteilten Polnischen Teilungen noch erschwerend
gerügt, daß hier nicht etwa bloß ein Land, seines Willens gewaltsam beraubt, den
Besitzer gewechselt habe, ... sondern daß dabei zum ersten Mal in der neuzeitlichen
Geschichte eine historische Landschaft willkürlich zerschnitten und also zu allem
übrigen auch die innere Ordnung des brutalisierten Objektes mißachtet wurde. (Das ist
nach dem WW II mit Deutschland noch brutaler geschehen, und setzt sich heute fort in den
Protektoraten etwa Bosnien-Herzegowinas, oder des Kosovo, usw.)
(64) Die
große polnische Adelsnation war verschwunden, Polen war verschwunden. Was eben noch das
polnische Großreich ausmachte, der weit durch Osteuropa gestreute polnische oder
polonisierte Landadel, trieb jetzt im Chaos als eine politisch hilflose ... Minderheit.
... Der Großraum zwischen Ostsee und Schwarzem Meer enthielt nun ein Mosaik von
Kleinvölkern, die noch kaum Völker waren, mit sich in verschiedenen sozialen Höhenlagen
überschneiden-den Sprach- und Konfessionsgrenzen. Und wie das versunkene Ganze waren nun
auch diese Einzelgebilde entwicklungsmäßig
gekröpft. Sie hatten unter der Adelsnation nicht zu reifen vermocht, hatten kaum irgendwo
ein Bürgertum, eine Sprache, ein nationales Eigenwesen hinreichend entwickeln können.
Alles dies
zusammen bedeutet für Osteuropa eine Universalkatastrophe, wie der Alte Orient sie nach
dem Ende Assyriens durchmachte und der biblische Bericht vom Turmbau zu Babel ewig
widerspiegelt: den Sturz aus hoher Gesamtform in ein rückständiges, politisch hilfloses
Sprach- und Völkergewirr.
(65) ... die
Verwandlung des Volkes in eine herrschende Klasse war im alten Assyrien noch weiter
gegangen als später in Polen. (Das erinnert an die Juden, die als Erfüllung die in ihren
Heiligen Büchern versprochene irdische Weltherrschaft erwarten. Damit ist eo ipso klar, da sie sich als nur mehr herrschende
Kaste sehen, daß sie sich historisch wie alle bisherigen Beispiele
endgültig aus der Geschichte katapultieren werden. Man kann zurecht annehmen, daß dies
niemand bedauern wird, denn der Auserwähltheitswahn und die daraus resultierende Hybris
hatte zu viel Haß zwischen allen Völkern und den Juden gesät.) ... Assyrien muß in dem
letzten, äußerlich größten Jahrhundert hoffnungslos unterwandert gewesen sein. Und es
muß es selbst so gewollt haben. Denn es vollzog ja beide Veränderungen mit
unverkennbarer Absicht. ... Wie es sich selbst vom Volk zur herrschenden Oberschicht, zur
Kriegerkaste, verwandelte, so sorgte es mit kräftigen, härtesten Mitteln für die
Verwandlung anderer, unterworfener Völker in eine einheitliche Unterschicht, ein
strukturloses Völkergemisch. Die Deportation der israelitischen Nordstämme in das
medische Grenzgebiet war eine normale Regierungsmaßnahme: Assyrien förderte die
Unterwanderung, das Einstrudeln an der sozialen Sohle. ... (Das geschieht heute
unter der Regie der USA mit der europäischen Unterwanderung durch Türken und
andere fremdkulturelle Völkerschaften!)
(66) Als die
Meder überraschend siegten, war dies das Ende des Reiches und Volkes
über-haupt: Assyrien verschwand. Seine unfreiwillige Züchtung aber, das kleinasiatische
Völker-chaos, überstand die Katastrophe ... , wie Unterschichten Katastrophen nun einmal
zu über-stehen pflegen.
Nicht ganz unähnlich ist
es in Osteuropa. Großpolen und das Osmanische Reich sind ver-schwunden. Nicht
verschwunden ist das Völkerband, aus dem sich jene Großreiche einstmals aufgebaut
hatten. Es ist innerlich formlos wie das kleinasiatische Völkerchaos. ... Zwischen
Deutschland und Rußland läuft es immer noch ... von der Ostsee zum Schwarzen Meer und
zum Balkan. Es ist wegen seines inneren Zustandes unberechenbar labil, eine Einladung für
jeden äußeren Machtwillen. Man hatte es als osteuropäische Schütterzone
gekennzeichnet, ja geradezu als den Teufelsgürtel Europas ... (Gerade erleben wir wieder
seit Beginn der 90-er Jahre, als Sezessions-Kriege maskiert, wie die einzige
Supermacht USA hier mit ihren üblichen Begründungen Menschenrechte -
eingegriffen hat und von der Öffentlichkeit unbemerkt den größten
Militärstützpunkt außerhalb der USA seit Vietnam aufbaute! Sie sitzen damit am
Lichtschalter Europas und haben außerdem einen weiteren Stützpunkt ihrer
Einkreisungs-Strategie sowohl Rußlands wie auch Deutschlands hinzugefügt.)
(67) Der Erste
wie der Zweite Weltkrieg begann in der osteuropäischen Schütterzone, die damals wie
heute wieder den ernstesten weltpolitischen Krisenherd darstellt. An zweiter Stelle stand
vor dem Ersten Weltkrieg der Nahe Osten, der Raum zwischen Nil und dem Persischen Golf.
... Wer da
neunmalklugerweise glaubt der Raum sei heute nur mehr wegen des Öls strittig, verkennt
die Relation: das
Öl ist wegen des Raumes strittig! Öl auf dem Gebiet der Sowjetunion oder den
Vereinigten Staaten löst bekanntlich derartige Wirkungen nicht aus ...
(Das halten
wir für eine unrichtige Einschätzung. Die Triade (6) braucht für ihre technisierte,
industrialisierte Wirtschaft Energie in steigendem Maße und findest es dort wo es eben
ist. Dies hatte ja inzwischen zur Auflösung der SU geführt, weil damit erst über
pseudo-unabhängige ehemalige Sowjet-Republiken aus dem kaspischen Binnenmeer des
Sowjet-Imperiums eines mit zahlreichen Anrainerstaaten, und ein Zugang über diese für
fremde Mächte die USA - möglich wurde. Daß das Öl der USA aus den gegebenen
Machtver-hältnissen nicht ähnlichen Begehrlichkeiten ausgesetzt ist, legt nur an der
militärischen Stärke der USA, die jede ausländische Interferenz von ihrem Kontinent
fernhalten kann.)
(68) Das
europäische Gleichgewicht bis zum Ersten Weltkrieg, dies größte neuere und durch Rankes
unsterbliche Reflexionen auch geschichtsphilosophisch bedeutsamste Beispiel einer
langfristigen Ausbalancierung, verschied bekanntlich nicht wie einstmals das System der
Diadochenreiche oder der italienischen Renaissancestaaten an einem überlegenen äußeren
Eingriff, sondern an den Schüssen von Sarajewo: am Machtwirbel um den schwächsten Punkt.
Blickt man
zurück, so bemerkt man, daß es in Osteuropa schon immer so war. Dabei meint
immer natürlich nur: solange es die Schütterzone als eine solche überhaupt
gibt. ...
(69)
Bezeichnend ist das zentripetale Gesamtbild ..., das Eindringen fremder Mächte von allen
Seiten (beim großen Nordischen Krieg): Es ist die Schwäche, die sich so verrät. Polen
hatte den Krieg durch einen angriff auf Riga begonnen. Aber gleich darauf sank es zurück
und war fortan nur mehr Walstatt, auf der Schweden, Russen, Kosaken und Türken mit
wechselndem Glücke stritten. Als Karl XII. von Schweden ... nördlich des Dnjepr stand,
schien ein schwe-disch-polnisch-kosakisches Osteuropasystem mit natürlicher Doppelfront
gegen Rußland und Deutschland unmittelbar vor dem Abschluß. Peter der große zerschlug
dieses Projekt durch seinen Sieg bei Poltawa. Der Sultan kam mit seinem Kriegseintritt
gegen Rußland zu spät,... zumal schließlich Preußen umgekehrt eingriff und Schwedens
Niederlage besiegelte. ...
Schweden nahm,
aus eigener Kraft wenigstens, seine alten Projekte nie wieder auf. Aber es kam nun die Zeit der Fragen, der
Polnischen und der Orientalischen ...
Es gab da noch
ein Zwischenspiel: ein widersinniges Bündnis Frankreichs und Rußlands mit Österreich
und Schweden, das allein gegen Preußen realpolitische Gründe hatte ... (70) Als es
vorbei war, stand das Projekt eines schwedisch-polnisch-türkischen Osteuropa für alle
überraschend neu auf der Tagesordnung. Nur ging die Initiative jetzt von Großbritannien
aus. ... Es hätte gerne die Tripelallianz mit Preußen, Holland in den Dienst dieser
Sache gestellt. ... Großbritanniens Absicht ging dahin, das altersschwache Polen durch
eine feste politische Brücke mit Schweden und dem Osmanischen Reich in derselben Weise zu
halten, wie der Zahnarzt einen künstlichen Zahn zwischen zwei gesunden tut. Dieses
Verhältnis sollte durch eine britisch-holländisch-preußische Tripelallianz in ein
festes Verhältnis gebracht werden. Dann hätte es in der Tat möglich sein müssen,
zugleich das in Osteuropa unruhig aktive Rußland und das einer Krise sondergleichen
zutreibende Frankreich erfolgreich in ihre Schranken zu weisen. Nur war Preußen in diesem
Bündnisprojekt die einzige kontinentale Großmacht und damit der nach Last und Risiko
weitaus exponierteste Partner, es hätte ohne rechten Gewinn die Dauerfeindschaft mit
Rußland in Kauf nehmen müssen. Preußen entzog sich dem zurecht.
(71) Die Dinge
kamen aber doch in Fluß. Als der Sultan im Sommer 1787 mit verzweifeltem gegen Rußland
losschlug, während Gustav Adolf III. von Schweden, der Neffe Friedrich des Großen, im
Norden bei demselben Unterfangen fast Petersburg überrumpelt hätte, stand alles noch
einmal auf des Messers Schneide. Freilich wäre Osteuropa, wenn der bei Poltawa
gescheiterte Plan nun doch Erfolg gehabt hätte, einer diesem Raum noch fremderen macht
ausgeliefert worden. Denn daß Schweden und das Osmanische Reich den großpolnischen
Besitzstand ohne britische Hilfe gegen Rußland und etwa noch gegen die deutschen
Großmächte nicht behaupten könnten, war aller Welt klar. Katharinas Expansionspolitik,
so oft als bloße Marotte und Ausweitungsgier verschrieen, wirkte angesichts dieser
drohenden Möglichkeit nur vernünftig. Sie wirkte genauso vernünftig wie das
sinnverwandte deutsche Verhalten, das Zögern Preußens und gar das Eingreifen
Österreichs zugunsten der in Bedrängnis geratenen Russen.
Deutschland
mußte nun einmal wie Rußland darauf bedacht sein, das Pulverfaß dicht vor der Tür
keinem Dritten, noch dazu einem so mächtigen, zu überlassen. ... Rußland wäre in
seinem Drang nach Süden du Westen behindert, und Deutschland umzingelt gewesen, wäre das
von den Briten geplante Osteuropasystem gelungen. ...
Immerhin hatten Preußen und Österreich, hatte jede deutsche Großmacht bereits
einwandfreie Erfahrungen. (72) Tief in die Nationaler-innerung eingegangen war Franz I.
von Frankreich mit seinem berühmt-berüchtigten Türken-bündnis und vollends Richelieu
mit seiner Aktivierung der schwedisch-französischen Nach-barsnachbarschaft gegen
Deutschland. Auch der unentwegte Versuch der Häuser Valois und Bourbon, Polen
dynastisch-verwandtschaftlich einzubeziehen, waren nicht vergessen. Hier überall war nun
Frankreich statt wie jetzt England als der westliche Hauptakteur aufgetreten, ... (Das hat
sich bis heute nicht geändert: der erbitterte Widerstand Frankreichs und Englands gegen
die Teil-Wiedervereinigung, oder, als sie nicht zu verhindern war, die nun mithilfe der
USA erfolgte Umfassung des größeren Deutschland im sogenannten Weimarer Dreieck: ein
besonderes Bündnis innerhalb der EU und NATO zwischen Frankreich und Polen, das
Deutschland sozusagen wie in einem Sandwich in die Mitte nimmt.)
Diese Gefahren
sah Rußland in größter Deutlichkeit, selbst wenn man in Wien und Berlin Gespenster
gesehen hätte. Man erkannte in England und Pitt die Urheber der von den Schweden und
Osmanen begonnen Kriege. Mit Zähigkeit und dem Eingreifen Österreichs schied
Schweden schließlich aus. Nach Erledigung der orientalischen Frage würde für Rußland
die Polnische wieder anstehen, was England verhindern wollte. Die Aufteilung Polens begann
1793 und endete zwei Jahre später, und stand zum Sieg über die Türken in einem engen
Folgeverhältnis. Durch den Gewinn des Küstenstreifens zwischen Bug und Dnjestr gewann es
bessere Ausgangmöglichkeiten Polen anzugreifen. Es fühlte sich auch genötigt, weil es
geschockt war, daß das bei Poltawa begrabene Osteuropaprojekt, mit einer Rückendeckung
aus unangreifbarer Ferne (Englands), so
schnell wieder auferstehen konnte, was eine erschreckende Überraschung für Rußland war.
Rußland reagierte spontan und stieß jählings nach Polen vor, annektierte die
Schütterzone mit Haut und Haar, um einen gefährlichen Sog ein für allemal zu
verhindern. Hier lag ... das sittliche Motiv der Aufteilung vorausgesetzt, daß man
das Selbsterhaltungsprinzip überhaupt für gut heißt, aber unabhängig davon, ob man
auch seine präventive Anwendung billigt: Rußland hatte von den Wirren über
die Nordischen Kriege bis zu den jüngsten britisch-schwedisch-türkischen Interventionen
seine bösen Erfahrungen bereits gemacht. ...
(75) Eine nach
neuzeitlichen Begriffen politisch nicht ausgereifte Nation, mit einer Volks-raum und
Formkraft dämonisch oder grotesk übersteigerten Herrschaftsidee das war keine
Alternative, am wenigsten innerhalb eines notorischen Krisenherdes! So handelte Rußland
nach der zweiten Teilung, einem seinerseits noch gerechten Erwerb, faktisch im Zwang. ...
Polen war nun einmal in einem Zustand, der halbwegs normale Lösungen ausschloß.
Man sagte oft,
Preußen hätte sich von den Teilungen fernhalten sollen, ... Polen hätte Preußen aus
Großmachtskonflikten herausgehalten. Die Zweifrontenkriege, an denen das preußisch
erneuerte Deutschland 1918 und nochmals 1945 zusammenbrach, erscheinen heute als die
logischen Schlußpunkte einer Kausalkette, die geradewegs auf die erste Teilung als die
... folgenschwerste Handlung der preußischen Geschichte zurückgeht. Aber im
Zweifrontenkrieg zwischen Schweden und Frankreich hatte Frankreich schon ein reichliches
Jahrhundert vor der ersten Teilung gestanden, gerade hier lag der mächtige Anreiz zur
Staatwerdung unter dem Großen Kurfürsten. Als dann wirklich das hinter Polen gelegenen
Rußland an die Stelle Schwedens die osteuropäische Vormacht darstellte, war für
Preußen in der entscheidenden Hinsicht nichts anders, nicht jedenfalls besser geworden.
... die Lehren aus dem Sieben-jährigen oder dem großen Nordischen Krieg zeigte, daß
Polen seit langem als Pufferstaat bereits zu schwach geworden war. Da bot die relativ
schmale westpolnische Randzone die Preußen aufgrund der Teilungen in Besitz nehmen
konnte, einen immerhin solideren Schutz. ...
(77) Trotzdem
und trotz mancher anderen ernsten Belastung hielt das System fast ein ganzes Jahrhundert
hindurch. Und nicht nur Deutschland und Rußland speziell, sondern Europa überhaupt, ja
in gewisser Hinsicht die ganze Welt hatte von dieser Eintracht Gewinn. Indem sich die
verbündeten Monarchien auf eine Ordnung geeinigt hatten, die zwischen Rhein und Amur
nirgends mehr eine Lücke ließ. Wo der liberale Westen sein Brechwerkzeug hätte ansetzen können, wuchs von dem kontinentalen Schwerpunkt
her der Welt eine Stabilität zu, die letzten Endes jedem, auch dem Westen, auch dem die
Meere beherrschenden Großbritannien zugute kam, wie umgekehrt das Altern des großen
Jahrhunderts, das Erlöschen der von Europa beleuchteten Weltzeit mit dem Aufhören jener
großen Einigkeit streng zusammenfiel.
Fortsetzung in
einem zweiten Teil.
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(1) Johannes
Barnick, Seewald Verlag, 1959.
(2) Die von den Lesern beim Herausgeber solange vorrätig bestellt werden
können.
(3) Aber
miteingeschlossen sind alle europäische Völker, weil diese unter demselben
Damoklesschwert der liberalen, globalistischen Auflösung leben und in ihrer
Existenz in gleicher Weise bedroht sind.
(4)
Prof. Nikolaj Pawlow; Inst. f. Nationale Reform-Strategien: Der Russische
Holocaust. Anläßlich eines Kongresses der Akademie der Wissenshaften in Moskau vom
14. bis 16. Juni 2001.
(5) Prof. Alexander Zinoview, Globalisierung als eine neue Form des Krieges. Bei
selbigen Kongreß.
(6)
Nordamerika, die Europäische Union und die westlichen Länder Europas die nicht der EU
angehören und Japan.