Gedanken über Erziehung

Und Messala sagte: "Du fragst nicht nach verborgenen Gründen (Maternus) und auch nicht nach solchen, die dir selbst oder Secundus oder Aper unbekannt sind, auch wenn ihr mir die Rolle zugewiesen habt, vorzutragen, was wir alle meinen. Denn wer weiß nicht, dass sowohl die Redekunst als auch die übrigen Künste von jenem alten Ruhm gewichen sind, nicht aufgrund der Unfähigkeit der Menschen, sondern wegen der Faulhaut der Jugend, der Nachlässigkeit der Eltern, der Unwissenheit der Lehrer und das Vergessen der alten Sitte. Diese Übel sind zuerst in Rom entstanden, haben sich dann über Italien ausgebreitet, und greifen schon auf die Provinzen über. Allerdings sind die Zustände bei euch euch (besser) bekannt; ich werde von Rom und diesen eigentümlichen und bodenständigen Lastern sprechen, die die Kinder [bald nach der Geburt] sofort befallen, und die sich durch die einzelnen Abschnitte des Lebens noch anhäufen, wenn ich zuerst von der Strenge und Disziplin der Vorfahren bei der Erziehung und Bildung der Kinder ein wenig gesagt habe. Denn vor langer Zeit wurde das Kind (der Sohn) eines jeden, nachdem es von einer tugendhaften Mutter geboren worden war, nicht in der Kammer einer bezahlten Amme, sondern im Schoß und der Brust der Mutter erzogen, dessen besonderes Lob es war, dass das Haus zu bewahren und für die Kinder da zu sein. Es wurde aber irgendeine ältere Verwandte ausgewählt, deren erprobten und bewährteren Sitten/Charakter der gesamte Nachwuchs derselben Familie anvertraut wurde. In ihrer Gegenwart war es weder Recht zu sprechen, was schimpflich zu sagen ist, noch zu machen, was unehrenhaft zu tun schien. Und sie lenkte nicht nur die Studien und die Beschäftigungen sondern auch die Freizeit und die Spiele der Kinder (Buben) mit einer gewissen Heiligkeit/Sittenreinheit und Zurückhaltung. Wir haben gehört, dass so die Cornelia, Mutter der Grachen, dass Aurelia, die Mutter Caesars, und dass so Atia, die Mutter Augustus, die Erziehung gelenkt haben und Kinder hervorgebracht haben, die führende Stellung einnehmen sollten. Diese Disziplin und diese Strenge zielten darauf hin, dass das reine und unverdorbene und durch keine Schändlichkeiten entstellte Wesen eines jeden sofort mit ganzem Herzen die edlen Fähigkeiten aufnimmt und sei es, dass es sich für Kriegsangelegenheiten, oder zur Rechtswissenschaft oder zum Studium der Rhetorik sich hingezogen fühlt, und nur das alleine tut und das gänzlich aufnimmt.

Aber nun wird das neugeborene Kind irgendeiner griechischen Magd überlassen, der der eine oder andere aus der Masse der Sklaven zur Seite gestellt wird, meistens der Billigste/Wertloseste, der für keine ernsthafte Arbeit geeignet ist. Die jungen und noch ungebildeten Seelen wurden sofort durch deren Geschwätz und deren Irrtümer befüllt, und keiner im ganzen Haus achtet darauf, was er in Gegenwart der kleinen Herrn entweder sagte oder sagen sollte. Ja sogar die Eltern selbst, gewöhnen die ganz kleinen Kinder nicht an die Rechtschaffenheit und an die Bescheidenheit, sondern an Zügellosigkeit und freches Wesen wodurch sich allmählich die Schamlosigkeit einschleicht und eine Geringschätzung des eigenen und fremdes Besitzes. Aber die eigentümlichen und typischen Laster dieser Stadt scheinen mir schon beinahe im Bauch der Mutter empfangen zu werden, die Vorliebe für Schauspieler und die Begeisterung für Gladiatoren und Pferde; wie wenig (an) Platz läßt ein von diesen Dingen besessener und mit diesen Dingen beschäftigter Geist die guten Eigenschaften. Wie wenige wirst du finden, die zu Hause irgend etwas anderes besprechen? Welche anderen Gespräche junger Leute hören wir, wenn wir irgendwann Hörsäle betreten haben? Nicht einmal die Lehrer führen mit ihren Zuhörern irgendwelche zahlreiche Gespräche; sie versammeln nämlich die Schüler um sich nicht durch die Strenge ihrer Disziplin und auch nicht nach der Probe ihres Geistes, sondern durch eine Bewerbung die in Morgenbesuchen besteht und durch die Verlockungen der Schmeichelei.

Ich übergehe die ersten Gegenstände der Lernenden, in welchen selbst zuwenig gearbeitet wird: weder im Kennenlernen der Autoren noch in beim Studium der Alten noch bei der Kenntnis von Dingen, Menschen oder Geschichte wendet man genügend Mühe auf. Sondern man sucht die auf, die man Rhetoren nennt.

[34] Also wurde bei unseren Vorfahren jener junge Mann, der für das Forum und für die Redekunst vorbereitet wurde, schon geprägt von der häuslichen Disziplin, vollgestopft mit ehrenhaften Studien, vom Vater oder von den Verwandten zu dem Redner geführt, der den ersten Platz in der Bürgerschaft innehatte. Er gewöhnt sich daran, diesen zu folgen, diesen zu begleiten, bei all seinen Ausführungen anwesend zu sein, sei in Prozessen, sei auf Volksversammlungen, so, dass er auch Wortgefechte mitbekam und an Streitgesprächen teilnahm und dass er sozusagen im Kampf zu kämpfen lernt. Aus diesen heraus/Infolgedessen wurde den jungen Männer sofort Erfahrung, viel Sicherheit und sehr viel Urteilsvermögen zuteil, wenn sie mitten im Licht lernten und in den Gefahren selbst, wo niemand ungestraft etwas Dummes oder nicht Zweckmäßiges sagt, ohne dass der Richter etwas entgegnet und der Gegner es tadelt und schließlich die Beistände selbst es tadeln/kritisieren. Daher wurden sie sofort von der wahren und unverdorbenen Beredsamkeit geprägt; obwohl sie nur einem folgten, lernten sie dennoch alle Anwälte derselben Zeit in sehr vielen Rechtsfällen und Prozessen kennen. Sie hatten eine Menge von verschiedenen Zuhörern aus dem Volk selbst, von der sie leicht verstehen konnten, was bei jedem Redner entweder gebilligt oder was mißfiel.

reconditus3: versteckt, verborgen, entlegen, selten, veraltet
eloquentia/ae: Beredsamkeit, Redegewandtheit
neglegantia/ae: Nachlässigkeit, Vernachlässigung
pridem: vor langer Zeit
castus3: rein, schuldlos, sittenrein, keusch, sittsam
cellula/ae: Zelle, Kammer
emo3/emi/emtpus: (er)kaufen
nutrix/icis: Ernährerin, Amme
gremium/i: Schoß
praecipuus3: besonders, eigentümlich, ausschließlich, außerordentlich
inservio4: dienstbar sein, ergeben sein, zu Diensten stehen
eligo3/legi/lectus: ausraufen, ausjäten, aussuchen, auswählen
pertineo2/tinui: sich ausdehnen, erstrecken, betreffen, berühren, beeinflussen
sincerus3: rein, unvermischt, aufrichtig, ehrlich, unverdorben
integer/gra/grum: unberührt, unangetastet, rein, unbefleckt
detorqueo2/torsi/tortus: (weg)drehen, abwenden, verkrümmen, verbiegen,
arripio3M/ripui/reptus: an sich reißen, zusammenraffen, ergreifen, sich aneignen
eloquentia/ae: Redegewandtheit, Beredsamkeit
inclino1: neigen, beugen, geneigt sein, wanken, entscheiden
haurio4/hausi/haustus: vergießen , (aus)schöpfen, nehmen, einziehen, einsaugen
tener/era/erum: zart, jung

 

 

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