Aufgaben der Geschichtsschreibung
Ich weiß sehr wohl, dass das meiste von dem, was ich berichtet habe, und berichten werde, vielleicht klein und unwichtig für eine Erwähnung scheint: Aber niemand dürfte unsere Annalen mit einem Werk der Männer/Autoren vergleichen, die die alte Geschichte zusammengestellt/niedergeschrieben haben. Jene berichteten von großen/gewaltigen Kriegen, von Eroberungen von Städten, von der Vertreibung oder der Gefangennahme von Königen oder wenn sie sich einmal den inneren Geschehnissen zuwandten von der Uneinigkeit zwischen Konsuln und Volkstribunen, von Acker und Getreidegesetzen und Streitereien zwischen Volk und Opitmaten in ausführlicher/freier Darstellung; meine Aufgabe ist eingegrenzt und bringt keinen Ruhm; denn der Friede war unverändert oder nur mäßig gestört, die Geschichte/Lage Roms war traurig/betrüblich und der Prinzeps war nicht daran interessiert das Reich noch zu vergrößern. Dennoch dürfte es nicht ohne Nutzen sein, jene auf den ersten Blick unbedeutenden Ereignisse näher zu betrachten, aus denen oft der Anfänge großer Dinge entstehen. Entweder das Volk regiert alle Nationen und Städte oder die Adeligen oder Einzelne: Die von denen ausgewählte und zusammengesetzte Form des Staates wird leichter gelobt als verwirklicht, oder, wenn sie verwirklicht ist, kann sie nicht lang andauernd sein. Wie daher früher, als das Volk stark war oder die Senatoren mächtig waren, man den Charakter/das Wesen des Volkes kennen musste auf welche Arten es unter Kontrolle gehalten wird, und wie diejenigen, die das Wesen des Senates und der Adeligen am besten durchschaut hatten, für Kenner der Zeit und für Weise gehalten wurden, ebenso dürfte es (heute), nach der Änderung der Verfassung und da es keine andere römische Staatsform gibt als die Monarchie, von Nutzen sein, diese Ereignisse zu sammeln und zu überliefern, weil nur wenige durch Klugheit das Anständige vom weniger guten, das Nützliche vom Schädlichen unterscheiden, mehr Menschen aber durch die Erfahrungen anderer belehrt werden. Im übrigen wird das zwar nützlich sein, aber es bringt nur sehr wenig Unterhaltung. Denn die Lage der Völker, die Vielfalt der Schlachten/Kämpfe, der ruhmvolle Tod der Führer fesseln immer wieder aufs neue den Geist/die Aufmerksamkeit der Leser. Wir reihen aneinander grausame Befehle, nie enden wollende Anschuldigungen, trügerische Freundschaften, den Untergang von Unschuldigen und immer wieder dieselben Gründe für den Niedergang des Staates, wobei die Ähnlichkeit der Dinge und der Überdruß offensichtlich sind. Dazu kommt, dass die alten Schriftsteller selten getadelt werden, und es kümmert niemanden, ob man freudiger die römischen oder punischen Schlachtreihen schildert: aber von vielen, die unter der Herrschaft des Tiberius Strafen oder Entehrungen erlitten haben, leben noch die Nachkommen, und wenn auch die Familien selbst ausgestorben/ausgelöscht sind, wirst du Leute finden, die wegen der Ähnlichkeit des Charakters glauben, dass Übeltaten Fremder ihnen vorgehalten werden. Auch der Ruhm und die Tüchtigkeit haben Feinde, da sie bei der Betrachtung aus allzu großer Nähe das Gegenteil deutlich zeigen. |
fundo/ere: ausgießen, hinstrecken, in
die Flucht schlagen, vertreiben artum/i: die Enge, das Eingegrenzte primoris/e: der erste, vorderste, die Vornehmen, Adeligen consocio1: vereinigen, verbinden diuturnus3: lang andauernd, ~ anhaltend, ~ während, -lebig polleo/ere: vermögen, ausrichten, in etwas stark, mächtig sein validus3: gesund, stark, kräftig, mächtig, fest perdisco3/didici: gründlich erlernen; hier: durchschauen callidus3: erfahren, geübt, vertraut, klug, einsichtig, schlau conquiro3/quisivi/quisitus: zusammensuchen, -bringen, sammeln, anwerben, ausheben noxius3: schädlich, schuldig, sträflich, bösartig eventus/us: Ausgang, Erfolg, Abschluss, Ende, Vorfall, Ereignis, Schicksal, Geschick oblectatio/onis: Lust, Genuss, Unterhaltung obtrecto1: entgegenarbeiten, bekämpfen, herabsetzen, verkleinern; hier: vorhalten reperio4/rep(p)eri/repertus: wieder zum Vorschein bringen, wieder-, auffinden, ermitteln malefactum/i: Übeltat obiecto1: entgegenwerfen, preisgeben, vorwerfen, vorhalten |