Sie sind Sklaven – Sie sind Menschen 

Seneca grüßt seinen Freund Lucilius

Gerne habe ich von denen erfahren, die von hier kommen, daß du mit deinen Sklaven freundlich umgehst. Das zeugt von deiner Klugheit und von deiner Bildung. "Sie sind Sklaven!" Vielmehr (sind sie) Menschen. "Sie sind Sklaven!" Vielmehr Hausgenossen. "Sie sind Sklaven!" Vielmehr sind die Freunde aus einem niedrigen Stand. "Sie sind Sklaven!" Vielmehr Mitsklaven, wenn du bedenkst, daß dem Schicksal ebensoviel erlaubt ist gegenüber beiden Ständen. Daher lache ich über diese, die es für schimpflich halten, mit seinem Sklaven zu speisen: warum, wenn nicht weil eine sehr hochmütige Gewohnheit den speisenden Herrn mit einer Schar stehender Sklaven umgeben hat? Jener ißt mehr, als er fassen kann und mit ungeheurer Gier belastet er den ausgedehnten Magen, der die Pflicht des Magens nicht mehr gewohnt ist, so daß er mit größerer Mühe alles von sich gibt, als er es zugeführt hatte: aber den unglücklichen/armen Sklaven ist es nicht einmal erlaubt die Lippen zu bewegen um zu reden. Die (drohende) Rute unterdrückt jedes Murmeln, und nicht einmal zufällige Laufe wie Husten, Niesen oder Schluckauf sind von den (verbotenen) Schlägen ausgeschlossen. Wenn die Stille von irgendeinem Laut unterbrochen wird muß man dafür mit großer/schwerer Mißhandlung büßen. Die ganze Nacht stehen sie nüchtern und stumm.

So geschieht es, daß jene über ihren Herren reden, denen es in Gegenwart des Herren nicht zu reden erlaubt ist. Aber jene, die nicht nur in Gegenwart ihres Herren gesprochen haben, sondern auch mit ihnen selbst gesprochen haben, deren Mund nicht zugenäht wurde, waren bereit für ihren Herren ihren Nacken (Kopf) hinzuhalten, und die drohende Gefahr auf ihren Kopf abzulenken: Sie sprachen bei den Gelagen, aber bei der Folter schwiegen sie! Hierauf wird ein Sprichwort derselben Arroganz immer wieder wiederholt, es gebe ebenso viele Feinde wie Sklaven. Wie haben jene nicht als Feinde, aber wir machen sie dazu. Ich übergehe inzwischen andere Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten, nämlich daß wir sie nicht einmal wie Menschen behandeln sondern wie Lasttiere ausbeuten. Wenn wir uns zu Tisch gelegt haben, wischt der eine den Auswurf weg, ein anderer, der sich unter das Speisesofa gebückt hat, sammelt ein, was die Betrunkenen übriggelassen haben. [6] Wieder ein anderer tranchiert wertvolles Geflügel: Seine kundige Hand mit sicheren Schnitten durch die Brust und Keule führend, scheidet er Portionen heraus, der Unglückliche, der nun für diese eine Sache lebt um Geflügel elegant zu zerteilen, abgesehen davon, daß jener noch unglücklicher ist, der das wegen seiner Begierde lehrt als derjenige, der es aus Zwang lehrnt! Ein anderer, der Mundschenk, der nach weiblicher Art gekleidet ist, kämpft mit seinem Alter. Er kann der Kindheit nicht entkommen, er wird zurückgeholt und trotz seines schon wehrdienstfähigen Aussehens, hat er eine glatte Haut, weil seine Haare abgeschabt oder ganz ausgerissen wurden; er bleibt die ganze Nacht, die er zwischen der Betrunkenheit und der Lust des Herrn teilt, wach und im Schlafzimmer ist er ein Mann, beim Gelage ist er ein Knabe.

Ein anderer, dem die Kontrolle der Gäste aufgetragen wurde, steht immer unglücklich da und wartet, wen die Schmeichelei und die Maßlosigkeit entweder des Schlundes oder der Zunge für den nächsten Tag zu einer Wiedereinladung empfiehlt. Füge noch hinzu die Lebensmitteleinkäufer, die eine genaue Kenntnis des Gaumens ihres Herren haben, die wissen, welcher Geschmack ihn reizt, welcher Anblick ihn erfreut, durch welche Neuheit er aufgerichtet werden könnte, wenn ihm schlecht ist, wovor ihm schon vor Überdruß ekelt und worauf er an diesem Tag Lust hat.

Er bringt es nicht über sich mit ihnen zu Speisen und er hält es für eine Minderung seiner Würde sich an den selben Tisch mit seinem Sklaven zu legen. Gott bewahre! Wie viele von ihnen hat er als Herrn!

Ich sah, seinen (ehemaligen) Herrn vor der Schwelle des Callistus stehen und, dass der, der ihm ein Schild angeheftet hatte und der ihn unter die wertlosen Sklaven vorgeführt hatte, ausgeschlossen wurde während andere eintraten. Jener Sklave, der in die erste (Zehner)Gruppe hineingesteckt worden war, in welcher der Ausrufer seine Stimme erprobt, hat es ihm heimgezahlt: und er selbst wies ihn seinerseits ab und er selbst hielt ihn nicht für würdig seines Hauses. Der Herr hat Callistus verkauft: aber wie viel hat Callistus seinem Herrn verkauft!

Willst du bedenken, daß der, den du deinen Sklaven nennst, aus demselben Samen entstanden ist, denselben Himmel genießt, gleich atmet, gleich lebt und gleich stirbt! Du kannst jenen als Freien sehen, so wie jener dich als Sklave (sehen kann). Bei der Niederlage des Varus hat das Glück viele Männer von hervorragender Geburt, die sich den Rang des Senators über den Kriegsdienst erhofften, niedergedrückt, den einen von ihnen machte es zum Hirten, einen anderen zum Wächter einer Hütte: verachte nun den Menschen dieses Schicksals, in welches du hineingeraten kannst, noch während du ihn geringschätzt. Ich will mich nicht auf ein umfangreiches Thema einlassen und über den Umgang mit Sklaven diskutieren, gegenüber denen wir sehr überheblich, sehr grausam und sehr mißhandelnd sind. Das allerdings ist der Kern meiner Vorschrift: Du sollst so mit deinem Untergebenen leben, wie du möchtest, daß ein Höhergestellter mit dir lebt!

Sooft es dir in den Sinn kommt, wieviel dir gegenüber deinem Sklaven erlaubt ist, soll dir in den Sinn kommen, daß deinem Herrn ebenso viel dir gegenüber erlaubt ist. "Aber ich", sagst du, "(ich) habe keinen Herrn." Es ist eine gute Zeit: vielleicht wirst du einmal einen (Herrn) haben. Weißt du nicht, in welchem Alter Hecuba zu dienen begann, in welchem Croesus, (in welchem) die Mutter des Dareus, (in welchem) Platon, (in welchem) Diogenes?

Lebe sanftmütig mit deinem Sklaven, auch zuvorkommend, und lasse ihn zu zum Gespräch, zu einer Beratung und zum gemeinsamen Essen! An dieser Stelle wird mir die ganzen Schar der verwöhnten Männer zurufen: "Nichts als diese Sache ist niedriger, nichts schimpflicher!" Ich werde eben dieselben Leute dabei erwischen, wie sie die Hand fremder Sklaven küssen. [14] Nicht einmal das seht ihr, wie unsere Vorfahren den Herren jede Gehässigkeit, und den Sklaven jede Beleidigung genommen haben. Den Herren nannten sie Familienvater und die Sklaven Familienmitglieder, was auch bis jetzt noch in den Komödien andauert. Sie führten einen Festtag ein, damit nicht nur an diesem die Herren mit den Sklaven speisen, sondern damit sie ihnen überhaupt erlaubten die Ehrenämter im Haus zu übernehmen und Recht zu sprechen und sie glaubten, das Haus sei ein kleiner Staat.

"Was also? Werde ich alle Sklaven an meinen Tisch heranführen?" Nicht mehr als alle Freien. Du irrst, wenn du meinst, daß ich gewisse zurückschlage gleichsam wie schmutzige Arbeiten, wie zum Beispiel jenen Maultiertreiber und jenen Kuhhirten: ich werde jene nicht nach deren Berufen, sondern nach deren Sitten würdigen! Jeder gibt sich Sitten, Berufe weist der Fall zu. Gewisse speisen mit dir, weil sie würdig sind, gewisse, damit sie (würdig) sind. Wenn das nämlich von jenen aus dem schmutzigem Umgang sklavisch ist, wird der Umgang mit Höhergestellten heraustreiben. [16] Es gibt keinen Grund, mein Lucilius, dass du einen Freund so sehr auf dem Forum und in der Senatsversammlung suchst: suchst du sorgfältig, wirst du auch im Haus fündig werden. Oft liegt guter Stoff brach ohne Kunst: suche und erprobe! Wie töricht ist er, der ein gekauftes Pferd nicht selbst anblickt, sondern dessen Sattel und Zügel, auf diese Weise ist er sehr töricht, der einen Menschen sowohl am Gewand als auch an der gesellschaftlichen Stellung, welche Kleidung uns soeben umgibt, bewertet.

"Er ist Sklave." Aber vielleicht frei im Geist! "Er ist Sklave." Wird das jenem schaden? Zeig, wer das nicht ist: einer dient der Lust, ein anderer dem Geiz, wieder ein anderer dem Ehrgeiz, alle (dienen) der Hoffnung, alle der Angst. Ich werde dir einen ehemaligen Konsul zeigen, der einer alten Frau dient, ich werde dir einen Reichen zeigen, der einer ganz jungen Magd dient, ich werde dir sehr vornehme junge Männer zeigen, die Sklaven von Schauspielern sind: keine Knechtschaft ist schimpflicher als eine freiwillige (Knechtschaft)! Daher gibt es keinen Grund, daß diese widerlichen Leute dich abschrecken, dich deinem Sklaven gegenüber freundlich zu verhalten und nicht in hochmütiger Weise wie ein Höhergestellter: Sie mögen dich eher verehren als fürchten.

[18] Nun wird irgend jemand sagen, daß ich die Sklaven zur Revolution rufe und daß ich die Herren von ihrer hohen Stellung stürze weil ich gesagt habe, sie mögen ihren Herren eher ehren als fürchten.

familiaris/e: freundlich, vertraulich, vertraut, bekannt, zum Haus/zur Familie gehörig
immo: aber, vielmehr
tantusdem3 = tandundem: ebensoweit, -viel, -groß
aviditas/atis: Verlangen, Begierde, Sucht, Lust, Habsucht, Geiz
distentus3: gefüllt, vollgestopft
venter/tris: Bauch, Leib, Magen
desuetus3: entwöhnt
egero3/gessi/gestus: ausstoßen, von sich geben
ingero/gessi/gestus: sich einverleiben
labrum/i: Lippe
virga/ae: Rute
compesco3/ui: unterdrücken
fortuita/orum: Zufälligkeiten, zufällige Laute
tussis/is: Husten
sternumentum/i: Niesen
singultus/us: Aufstoßen, Rülpsen, Schlucken
ieiunus3: nüchtern
mutus3: stumm
coram: anwesend, persönlich, in Gegenwart
cervicem porrigere: den Nacken zur Hinrichtung beugen, hinhalten (vgl.: den Kopf hinhalten)
convivium/i: Gastmahl, Gelage, Festessen, Tischgesellschaft
tormentum/i: Winde, Wurfmaschine, Folterbank, Folter, Qual
iumentum/i: Lasttier
discumbo3/cubui/cubuitus: sich zu Tische legen
sputum/i: Auswurf
detergeo2/tersi: aufwischen
temulentus3: berauscht, betrunken
torus/i: Polster
subditus3: gebeugt, gebückt
pretiosus3: wertvoll, kostbar, prächtig, verschwenderisch
scindo3/scindi/scissus: tranchieren, teilen, spalten
clunis/is: Schenkel, Keule
ductus/us: Schnitt
frustum/i: Brocken, Bissen, (Fleich)Stück
altilia/ae: Mastgeflügel
decenter: schicklich, gehörig
pueritia/ae: Kindheit, Knabenalter
glaber/bra/brum: glattrasiert
retero3/trivi/trivus: abreiben, die Haare abschaben
evello3/velli/vulsus: herausreißen
ebrietas/atis: Rausch, Trunkenheit
cubiculum/i: Schlafzimmer, Kämmerchen, Innerstes
intemperantia/ae: Mangel an Mäßigung, Übermut, Zügellosigkeit
gula/ae: Kehle, Rachen, Schlemmerei, Genußsucht, Vielfraß
revocare in castrium: zur Wiedereinladung für morgen empfehlen
obsonator/oris: (Lebensmittel)Einkäufer
palatum/i: Gaumen
sapor/oris: Geschmack
nauseabundus3: seekrank, magenkrank, zum Brechen voll
satietate fastidire: (+ Akk.) aus Übersättigung sich ekeln vor…
esurio4: essen wollen
limen/inis: Schwelle, Haus, Wohnung, innerer Hof
impingo3/pegi/pactus: anheften
titulus/i: Aufschrift, Etikett
reiculus3: ausgestoßen, unbrauchbar
mancipium/i: Sklave
praeco/onis: Ausrufer, Auktionator
apologo1: zurückweisen, abweisen
semen/inis: Samen, Ursprung
spiro1: hauchen, atmen, leben
ingenuus3: freigeboren, der Freie
clades/is: Verletzung, Schaden, Unglück, Niederlage
auspicor1: sich erhoffen
casa/ae: Hütte, Häuschen, Baracke
contemno3/tempsi/temptus: geringschätzen, verachten, verspotten
disputo1: auseinandersetzen, erörtern, untersuchen, abhandeln
quemadmodum: auf welche Weise?, wie?, wie, so wie
tantundem: ebenso viel
forsitan = fors sit an: vielleicht
clementer: (adv.) sanftmütig, mild, lind
comiter: (adv.) fröhlich, munter, freundlich, zuvorkommend, höflich
convictus/us: Umgang, Gesellschaft, Gastmahl
acclamo1: zurufen
delicati/orum: verwöhnte Männer, die feinen Leute
mimus/i: Posse, Komödie
duro1: härten, hart machen, austrocknen, rösten, ausdauern
instituo3/stitui/stitutus: einrichten, aufstellen, beginnen
vescor/i: sich ernähren, essen, genießen, speisen, atmen, leben
pusillus3: klein, winzig
iudico1: Recht sprechen, entscheiden, (be)urteilen
sordidus3: schmutzig, unrein, geizig, habsüchtig, verächtlich
put² : zum Beispiel, nämlich
mulio/onis: Maultiertreiber
bubuclus/i: Kuhhirte
ministerium/i: Dienstleistung, Beruf
aestimo1: abschätzen, bewerten würdigen, schätzen, beurteilen
assigno1: zu-, anweisen, bestimmen, zuteilen, beimessen, zuschreiben
servilis/e: sklavisch, knechtisch
conversatio/onis: Umgang, Verkehr
excutio3M/cussi/cussus: herab-, herausschütteln, abwerfen, fallen lassen, herunterschlagen, vertreiben
curia/ae: Senatsversammlung, Senat, Reichstag, Kurie
attendo3/tendi: achtgeben, forschen
cesso1: brachliegen, ungenützt bleiben
tempto1: angreifen, betasten befühlen, ergreifen, versuchen
experio4/pertus sum: versuchen, erproben, prüfen, unternehmen
stultus3: töricht, albern, einfältig
emo3/emi/emptus: (er)kaufen
stratum/i: Sattel, Decke
frenum/i: Zaum, Zügel
vestis/is: Gewand, Kleidung
condicio/onis: Übereinkunft, Vertrag, Bedingung, Stellung, Stand, Lage, Los, Beschaffenheit
fortasse, fortassis: vielleicht, hoffentlich, wohl, ungefähr

 

 

Hosted by www.Geocities.ws

1