Seneca, epistulae morales 44;1-7

Wenn irgend etwas gutes an der Philosophie ist, ist es das, daß sie nicht auf den Stammbaum schaut; alle, wenn sie an ihre erste Abstammung zurückgerufen werden, stammen von den Göttern ab. Du bist ein römischer Ritter und zu diesem Stand führte dich dein Fleiß; aber fürwahr nicht alle läßt die Kurie zu, das Lager liest heikel aus, welche es zu Fleiß und Gefahr aufnehmen soll: ein gesunder Geist steht für alles offen, alle sind wir in dieser Hinsicht vornehm. Weder wies die Philosophie irgend jemand zurück noch wählte sie (irgend jemand) aus: sie leuchtet jedem ein. Socrates war nicht adelig; Platon empfing die Philosophie nicht als berühmtem (Mann), sondern machte (ihn dazu). Platon sagte, daß kein König nicht von Sklaven abstamme und kein Sklave nicht von Königen (abstamme). All dies brachte eine lang andauernde Abwechslung durcheinander und das Schicksal trieb sein wechselvolles Spiel damit. Wer ist adelig? Der von Natur aus gut zur Tugend veranlagte. Ein Atrium voll von rußigen (Ahnen)Bildern macht nicht vornehm; niemand lebte zu unserem Ruhm und, was vor uns wahr, gehört nicht uns: der Geist macht vornehm, dem es erlaubt ist, sich aus welchem Umstand auch immer über das Schicksal zu erheben. Glaube daher, du bist kein römischer Ritter, aber (ein Mann vom Stand eines) freigelassen(en): du kannst das erreichen, daß du allein frei bist unter Freigeborenen. "Wie?", sagst du. Wenn du schlecht und gut nicht nach dem Vorbild des Volkes unterscheiden wirst. Man muß hinsehen, nicht woher sie kommen, aber wohin sie gehen. wenn es irgend etwas gibt, was ein Leben glücklich machen kann, ist dies mit vollem Rechte gut: es kann nämlich nichts zum Schlechten verdorben werden. Was ist es also, worin man irrt, da doch alle ein gutes Leben wünschen? Weil sie die Werkzeuge dazu für es selbst halten und vor jenem fliehen, während sie (danach) streben. Während nämlich das Wesentliche des grlücklichen Lebens eine dauerhafte Gemütsruhe ist und das unerschütterliche Vertrauen auf diese, sammeln die Leute Gründe für Unruhe und durch einen gefährlichen Weg des Lebens tragen sie nicht nur Lasten sondern ziehen (sie auch noch); so weichen sie immer von der Vollendung dessen, wonach sie streben und, je mehr Mühe sie aufwendeten, umso mehr behinderten sie sich und bewegen sich zurück. Dies widerfährt Leuten, die sich in einem Labyrinth beeilen: die Schnelligkeit selbst verstrickt jene.

stemma/atis: Stammbaum, Adel
mehercules: beim Herkules!, bei Gott!, wahrhaftig!, fürwahr!
curia/ae: Senatsversammlung, Kurie, Senat
fastidiosus3: voll Ekel, voll Widerwillen, wählerisch, heikel
eligo3/legi/lectus: ausraufen, ausjäten, aussuchen, auswählen
patricius3: adelig, patrizisch
sursum: aufwärts, empor, oben, in der Höhe
deorsum: abwärts, unten
oriundus/a/um = oriundum/am/os/as/a esse: abstammen
sursum deorsum: auf und nieder
generosus3: aus edlem Geschlecht, adelig, edel.
fumosus3: voll Rauch, dampfend, rußig, ver-, geräuchert
libertinus3: eines Freigelassenen, freigelassen, der/die Freigelassene
consequor3/secutus sum: folgen, erreichen, erfassen, erlangen
ingenuus3: freigeboren, edel, anständig, aufrichtig, offen
dinstinguo3/tinxi/tinctus: verzieren, ausschmücken, trennen, unterscheiden, verschieden färben
depravo1: verunstalten, verschlechtern, verderben, verführen
inconcussus3: unerschüttert, unerschütterlich, ungestört
fiducia/ae: Vertrauen, Zuversicht, Verläßlichkeit, Sicherheit
sollicitudo/inis: Unruhe, Kummer, Sorge, Vorsorge, Bemühung
insidiosus3: hinterhältig, hinterlistig, tückisch, gefährlich
sarcina/ae: Last, Bürde
impendo3/pendi/pensus: aufwenden, verwenden, ausgeben

 

 

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