Seneca, epistulae morales 28;1-5

Du glaubst, daß dies dir allein zugestoßen ist und wunderst dich über eine neue Sache, weil du durch eine so lange Reise und die Verschiedenheiten so vieler Ortschaften die Traurigkeit und Schwere des Geistes nicht beseitigt hast? Du mußt deinen Seelenzustand verändern, nicht den Himmel. Socrates sagte eben dies zu einem gewissen, der sich beklagte: "Was staunst du, daß die Reisen nichts nützen, da du doch dich herumträgst? Dich bedrückt dieselbe Sache, die dich vertrieben hat." Inwieweit kann die Neuigkeit der Länder erfreuen? Inwieweit das Kennenlernen von Städten oder Orten? Erfolglos bleibt diese Unrast. Du fragst, warum dir diese Flucht nicht hilft. Du fliehst mit dir. Die Last der Seele muß abgelegt werden: vorher wird die nicht irgendein Ort gefallen. Du gehst hierher (und) dorthin, um das auf dir lastende Gewicht abzuschütteln, welches durch die Unrast selbst unangenehmer wird, so wie auf einem Schiff die unbewegte Lasten weniger bedrängen, ungleichmäßig zusammengewälzte diesen Teil, auf den sie sich gelegt haben, schneller untertauchen. Was auch immer du machst, du tust es gegen dich und du schadest dir durch die Bewegung selbst; du erschütterst nämlich einen Kranken. Aber wenn du dieses Übel entfernt haben wirst, wird jede Ortsveränderung angenehm werden; magst du auch in die entferntesten Länder fortgetrieben werden, (magst du) in irgendeinen Winkel des Barbarenlandes angesiedelt werden, jener Wohnsitz wird dir gastfreundlich sein, wie auch immer er beschaffen sein mag. Wichtiger ist, als wer du gekommen bist, als wohin (du gekommen bist), und deswegen dürfen wir (unsere) Seele keinem Ort überantworten. Mit dieser Überzeugung muß man leben: "Ich bin nicht für einem einzigen Winkel geboren, diese ganze Welt ist meine Heimat." Wenn dir das klar wäre, würdest du dich nicht wundern, daß du durch Verschiedenheiten der Gegend nicht erfreut wirst, in die du immer wieder aus Ekel über die vorangehenden wanderst; die Erstbeste hätte dir nämlich gefallen, wenn du alle für deine hieltest. Nun bist du nicht auf Reisen, sondern du irrst umher, obwohl jenes, was du suchst, (nämlich) glücklich zu leben, an jedem Ort gelegen ist.

peregrinatio/onis: Aufenthalt in der Fremde, Reisen, Pilgerfahrt
discutio3M/cussi/cussus: zerschlagen, zertrümmern, auseinandertreiben, abschütteln, beseitigen
cognitio/onis: das Kennenlernen, Erkenntnis, Untersuchung
iactatio/onis: Schütteln, Bewegen, Schwanken; hier: Unrast
inritum/i: Erfolglosigkeit
inaequalis/iter: (Adv.) uneben, schief, ungleich, verschieden
convolvo3/volvi/volutus: zusammenrollen, herumrollen
incubo1/bui/bitum: in (auf) etwas liegen, hüten, sich widmen
demergo3/mersi/mersus: eintauchen, versenken; pass: -sinken
concutio3M/cussi/cussus: aneinanderschlagen, schütteln, erschüttern, zerrütten, erschrecken
mutatio/onis: Veränderung, Wechsel
angulus/i: Ecke, Winkel
persuasio/onis: Überzeugung, Glaube, Wahn, Überredungskunst
mundus/i: Welt, Erde
liquet2: flüssig sein, klar sein
peregrinor1: umherreisen, umherschweifen, fremd sein

 

 

Hosted by www.Geocities.ws

1