Reisen und innerer Friede

Seneca grüßt seinen Lucilius!

Glaubst du, dass das allein dir geschehen ist und wunderst du dich um eine gleichsam neue Sache, nämlich das du durch eine so lange Reise und durch die Vielfalt so vieler Plätze deine Traurigkeit und Schwermut nicht vertrieben hast? Du musst deine Einstellung ändern, nicht den Himmel! Magst du auch das weite Meer überqueren, mögen auch, wie unser Vergil sagt, "Länder und Stätte zurückweichen", deine Laster werden dir folgen, wohin auch immer du gelangst. Dasselbe sagt Sokrates zu jemanden, der sich beklagte: "Was wunderst du dich, das Reisen dir nichts nützen, wo du doch dich herumträgst? Dich bedrückt dieselbe Ursache, die dich hinausgetrieben hat." Was kann dir die Neuheit der Länder helfen? Was das Kennenlernen von Städten und Plätzen? Dieses ständige Herumreisen ist vergeblich. Du fragst, warum diese Flucht dir nicht hilft? Du fliehst mit dir! Du musst die Last der Seele abgelegen, vorher wird dir kein Ort gefallen.

Bedenke, dass dein Seelenzustand nun ein solcher ist, wie unser Vergil ihn einführt, bei der Seherin die schon entflammt und besessen ist, und viel von einem Geist, der nicht der Ihre ist, in sich trägt: "Die Seherin rast, ob sie aus ihrer Brust den großen Gott vertreiben kann."

Du kommst hierhin und dorthin, um die Last, die du in dir trägst, abzulegen, die durch die Unruhe selbst noch unbequemer/schwerer wird, so wie auf einem Schiff die unbewegte Last weniger Probleme macht, die ungleichmäßig verteilte Last schneller diesen Teil versenkt, in dem sie sich aufhäuft. Was auch immer du tust, du tust es gegen dich, durch diese Unruhe selbst schadest du dir – denn du läßt einen Kranken keine Ruhe!

Aber wenn du dieses Übel entfernst, dann wird jeder Ortswechsel angenehm sein. Magst du auch in die äußersten Länder vertrieben werden, magst du dich auch in einem beliebigen Winkel eines wildfremden Landes niederlassen, jener Wohnsitz wird dir gastfreundlich sein, wie auch immer er beschaffen sein mag. Es spielt mehr eine Rolle, als wer du kommst, als wohin du kommst, und daher dürfen wir keinem Ort unsere Seele zusprechen. Mit folgender Überzeugung muss man leben: ich bin nicht nur für einen Winkel geboren, meine Heimat ist die ganze Welt! Wenn dir das klar wäre, würdest du dich nicht wundern, dass es dir nicht geholfen durch die Veränderungen der Landschaft, in die du aus Überdruss an den früheren reist. Denn die Erstbeste hätte dir gefallen, wenn du sie ganz für die deine gehalten hättest. Nun reist du nicht, sondern du irrst umher und du wirst getrieben und änderst einen Ort nach dem anderen, obwohl das, was du suchst, denn gut zu leben, an jedem Ort möglich ist.

Kann es etwa irgend etwas so unruhiges geben wie das Forum? Auch dort ist es möglich ruhig zu leben, falls es notwendig sein sollte. Aber wenn es möglich sein sollte frei über sich zu verfügen, würde ich auch den Anblick und die Nachbarschaft des Forums weit fliehen; denn wie ungesunde Gegenden sogar eine sehr starke/kräftige Gesundheit angreifen, ebenso sind für einen auch guten Geist, der aber (bis zu diesem Zeitpunkt) noch nicht vollkommen ist und noch stark werden muss, einige Orte zu wenig gesund. Ich stimme mit denen nicht überein, die mitten in die Fluten hineingehen und ein aufregendes und stürmischen Leben schätzend, täglich mit den Schwierigkeiten des Lebens mit viel Mut kämpfen. Der Weise wird diese Umstände ertragen, nicht auswählen, und er wird lieber in Frieden sein wollen als im Kampf. Es nützt nicht viel seine Laster abgelegt zu haben, wenn man mit denen der anderen kämpfen muss! "Die dreißig Tyrannen", könnte jemand sagen, "standen um Sokrates herum und konnten doch nicht seinen Geist/Mut/Charakter brechen!" Was für ein Unterschied ist es, wie viele Herrn es sind! Es gibt nur eine Knechtschaft. Wer diese verachtet, der ist frei in einer beliebig große Schar/Masse von Herrschern.

Es ist Zeit Schluss zu machen, aber erst wenn ich vorher den Zoll bezahlt habe. "Das Bemerken einer Schuld ist der Anfang der Besserung." Epikur scheint mir das vorzüglich gesagt zu haben; denn der nicht weiß, dass er einen Fehler begeht, will sich nicht bessern; es ist notwendig, dass du dich selbst tadelst, bevor du dich besserst; gewisse Leute rühmen sich ihrer Laster – glaubst du, dass diejenigen, die ihre Fehler zu den Tugenden zählen, überhaupt über ein Heilmittel nachdenken? Daher, soviel du kannst, beschuldige dich selbst und erforsche dich! Übernimm zuerst die Rolle des Anklägers, dann die des Richters und zuletzt die eines Fürsprechers. Gib dir mal einen Ruck! Lebe wohl!

peregrinatio/onis: Aufenthalt in der Fremde, Reis
concito1: (an)treiben, jagen, erregen, auf-, anregen, reizen
instigo1: antreiben, anreizen, anspornen, aufregen
bacchor1: schwärmen, schwelgen, toben, rasen, herumschweifen
vates/is: Weissager, Prophet, Seher(in), Sänger, Dichter
excutio3M/cussi/cussus: herab-, herausschütteln, (her)abwerfen, fallen lassen, abschießen, ver-, austreiben, wegnehmen, rauben
inaequaliter: uneben, schief, ungleich, verschieden, wechselvoll
demergo3/mersi/mersus: versenken, eintauchen, niederdrücken
eximo3/emi/emptus: heraus-, wegnehmen, beseitigen, entfernen, losmachen, befreien
angulus/i: Ecke, Winkel, abgelegener, stiller Ort
persuasio/onis: Überzeugung, Glaube, Wahn, Überredungskunst
taedium/i: Ekel, Überdruss, Widerwille, Leid, Schmerz
conspectus/us: Anblick, Blick, Schauen, Erblicken, Betrachtung
convalesco3/luui: erstarken, kräftig werden, sich erholen, gesund werden, genesen
salubris/bris/bre: heilbringend, heilsam, gesund(heitsfördernd), vorteilhaft, gesund, kräftig
colluctor1: ringen, kämpfen
rixor1: hadern, streiten, raufen
infringo3/fregi/fractus: um-, ein-, abbrechen, knicken, beugen, entkräften, lähmen, zerschlagen
portorium/i: Hafenzoll, -geld, Zoll, Abgabe
oportet2/uit: es ist angebracht nötig, gebührt, geziemt sich
emendo1: von Fehlern befreien, verbessern
remedium/i: Heilmittel, Arznei
coarguo3/ui/utus: nachweisen, aufdecken, überführen

 

 

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