Die Erlebnisse des Neffen

Du sagst, dass du, veranlasst durch den Brief, welchen ich dir auf deinen Wunsch hin über den Tod meines Onkels geschrieben habe, zu erfahren wünscht, nicht nur welche Ängste sondern auch welche Schicksalsschläge erlitten habe, als ich in Misenum zurückgeblieben war (denn das hatte ich ja zu Beginn abgebrochen). "Ob wohl sich mein Geist bei der Erinnerung schaudert …, will ich beginnen."

Da bat, drängte, befahl meine Mutter ich möge, auf welche Weise auch immer, fliehen; ich, ein junger Mann, könne es nämlich – sie, die ja schon alt und schwach sei, werde leicht sterben, wenn sie nicht für mich der Grund des Tod sein würde. Ich erwiderte: ich werde mich nicht gerettet, wenn nicht zusammen mit ihr; hierauf fasste ich ihre Hand und zwang sie schneller zu gehen. Sie gehorcht mühsam/ungern und beschuldigt sich, dass sie mich aufhalte.

Schon fällt Asche herab, welche bis jetzt jedoch spärlich war. Ich blicke zurück: Dichter Qualm bedrohte uns von hinten, der uns in der Art eines Sturzbaches sich über die Erde ergießend folgte. "Biegen wir ab," sagte ich, "solange wir noch etwas sehen, damit wir nicht auf der Straße von der Masse Menschen die uns begleiten in der Dunkelheit niedergestoßen werden. Kaum haben wir uns niedergesetzt, da wird es auch schon Nacht, nicht wie eine mondlose oder bewölkte Nacht, sondern wie in geschlossenen Räumen wenn das Licht erloschen worden ist. Man hätte hören können das Geheul der Frauen, das Jammern der Kinder und das Geschrei der Männer hören: Die einen riefen nach ihren die Eltern, die anderen nach ihren Kindern und wieder andere nach Ehepartner, und sie erkannten sich an ihren Stimmen; diese beklagten ihr eigenes Schicksal, jene das der ihren; es gab Leute, die aus Angst vor dem Tod den Tod herbeigewünscht haben; viele erhoben ihre Hände zu den Göttern, noch mehr waren der Meinung, dass es nirgends mehr irgendwelche Götter gab und dass jene Nacht eine ewige und die letzte für die Welt sei. Und es fehlte nicht an Leuten, welche die wahren Gefahren durch falsche und erdachte Ängste vergrößerten. Es waren auch welche dabei die berichteten, dass die in Misenum jenes Gebäude eingestürzt sei und wieder ein anderes brenne – es war falsch, aber sie fanden Leute, die es glaubten.

aio: sagen, behaupten, versichern
cupio3M/itus: begehren, verlangen, wollen, wünschen
abrumpo3/rupi/ruptus: ab-, weg-, losreißen, trennen, zerreißen, sprengen, aufgeben, abbrechen
horreo2/ui: struppig sein, zittern, schaudern, entsetzen, fürchten
amplector3/plexus sum: umschlingen, umfassen, annehmen, festhalten, hegen
pareo2/ui/iturus: erscheinen, sich zeigen; unpers.: es ist klar, erwiesen; gehorchen, folgen
aegre: unangenehm, kränkend, mit Überwindung, schwer, mühsam, ungern
incu(s)so1: beschuldigen, anklagen, beschweren, kritisieren
moror1: verweilen, sich aufhalten, zögern, (be)hindern, fesseln
respicio3M/spexi/spectus: zurückblicken, hinter sich sehen, erblichen, erwarten, angehen
caligo/inis: Finsternis, Dunkel, Nebel, Qualm, Rauch, Trübsal
deflecto3/flexi/flexus: herabbiegen, ablenken, umwandeln
obtero3/trivi/tritus: zerquetschen, zertreten, vernichten, überwinden, schmälern
consido3/sedi/sessus: such zusammensetzen, sich niedersetzen, sich versammeln, sich legen
inlunis/e: mondlos
nublius3: bewölkt, wolkig
ululatus/us: Geschrei, Geheul
quiritatus/us: Hilferuf, Angstschrei, das Jammern
est qui: es gibt jemanden, der
misereor2/eritus sum: sich erbarmen, Mitleid fühlen; unpers: bedauern, leid tun
interpretor1: dolmetschen, erklären, deuten, verstehen, aufnehmen
fictus3: gebildet, geformt, verstellt, erheuchelt, falsch, unwahr

 

 

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