Latona und die lykischen Bauern

Da fürchten erst recht alle, Frau und Mann, den offenkundigen Zorn der Gottheit, und alle verehren mit noch größerer/eifriger Hingabe im Gottesdienst das große Walten der göttlichen Zwillingsmutter, (316) und wie es (so) geschieht, erzählt man, von dem näher liegenden Ereignis (ausgehend,) die früheren. Von diesen sagt einer: „Auch auf den Feldern des fruchtbaren Lykiens verachteten vor langer Zeit die Bauern nicht straflos die Göttin. Die Sache ist zwar infolge der niedrigen Herkunft der Leute [wörtl.: Männer] wenig bekannt, (320) wunderbar doch. Ich habe persönlich den Sumpf und die Stelle gesehen, die durch das Wunderzeichen bekannt (wurde); denn mir hatte mein Vater, schon ziemlich betagt und des Weges nicht gewachsen, befohlen, von dort ausgesuchte Rinder herzuholen, und hatte selbst (mir) auf dem Weg [wörtl.: dem Gehenden] einen Führer aus jenem Volk gegeben; und während ich mit ihm die Weideplätze durchmusterte, (325) siehe, da stand mitten im Teich ein alter Altar, schwarz von der Asche der Brandopfer (und) umgeben von zitterndem Schilf. Mein Führer blieb stehen und sprach mit bangem Flüstern: „Sei mir gnädig!“, und mit ähnlichem Flüstern sprach ich: „Sei gnädig!“ Ob den Najaden oder dem Faun der Altar gehöre, fragte ich dennoch, oder einem einheimischen Gott, als (mein) Gastfreund folgendes erwiderte: (331) „Nicht wohnt, junger Mann, eine Berggottheit an diesem Altar: Jene nennt diesen (Altar) den ihren, der einst die königliche Gattin den Erdkreis verbot, die kaum auf ihre Bitten das herumtreibende Delos aufnahm, damals, als es als leichte Insel schwamm. (335) Dort lehnte sie sich an eine Palme und zugleich an den Baum der Pallasan und gebar Zwillinge gegen den Willen der Stiefmutter. Auch soll von hier die Wöchnerin vor Iuno geflohen sein und an ihrem Gewandbausch die Kinder, zwei Gottheiten, getragen haben. Und schon im Land Lykiens, das die Chimäre erzeugte, wurde, als die drückende Sonne die Fluren verbrannte, die Göttin, ermüdet von langen Strapazen und infolge der Sonnenhitze ausgedörrt, durstig, und die Kinder hatten gierig die milchspendenden Brüste ausgetrunken. Zufällig erblickte sie einen See von mäßiger Größe ganz unten im Tal; Bauern sammelten dort Weidengebüsch samt den Binsen und Schilfgras, das gern an Sümpfen wächst. Die Tochter des Titanen trat näher, beugte ihr Knie und stützte sich auf die erde, um das kühle Naß zu schöpfen und zu trinken. Die Schar der Bauern verbietet es; die Göttin spricht so die Verbietenden an: "Was hält ihr mich vom Wasser fern? Die Verwendung des Wassers ist (allen) gemeinsam, Die Natur hat weder die Sonne noch die Luft noch die klaren Wellen zum Eigentum (eines einzelnen) gemacht; zu Gaben, die allen gehören, bin ich gekommen; daß ihr sie mir dennoch gebt, bitte ich demütig. Nicht schickte ich mich an, hier unsere Gliedmaßen und unseren ermüdeten Leib abzuspülen, sondern den Durst zu lindern. Der Mund ist beim Sprechen ausgetrocknet, die Kehle ist ausgedörrt, und kaum gibt es in ihr einen Weg für die Stimme. Ein Trunk Wasser wird mir Nektar sein, und ich werde bekennen, (damit) zugleich das Leben (wieder) bekommen zu haben: Das Leben werdet ihr mir mit dem Wasser gegeben haben! Auch diese mögen euch rühren, die aus unserem Gewandbausch ihre kleinen Arme ausstrecken." – Und wirklich strecken die Kinder ihre Arme aus. Wen hätten die freundlichen Worte der Göttin nicht rühren können? Doch diese fahren beharrlich fort, die Bittende zu hindern, und fügen noch Drohungen hinzu, wenn sie sich nicht weit entferne, und überdies Schmähungen. Aber (damit) ist es nicht genug: ja sogar das Wasser selbst trüben sie mit Füßen und Händen und wühlten aus dem tiefsten Grund mit böswilligen Sprüngen hierher und dorthin den weichen Schlamm auf. Der Zorn verdrängte den Durst, denn nicht mehr bittet die Tochter des Coeus demütig die unwürdigen (Bauern), auch bringt sie es nicht länger über sich, demütigere Worte zu sprechen, als es einer Göttin zukommt; sie hebt die Hände zu den Gestirnen empor und ruft: "Ewig sollt ihr in diesem Sumpf da leben." In Erfüllung geht der Wunsch der Göttin: Es macht Freude, unter den Wellen zu sein und bald die Glieder zur Gänze in den tiefen Sumpf unterzutauchen, jetzt den Kopf hervorzustrecken, bald auf der Wasseroberfläche zu schwimmen, oft sich am Ufer des Teiches niederzusetzen (und) oft in das kalte Wasser [See] zurückzuspringen. Und noch immer üben sie ihre frechen Zungen durch Gezänk, geben ihre Scham auf und, obwohl sie unter dem Wasser sind, versuchen sie unter dem Wasser zu schmähen. Auch die Stimme ist schon heiser, die Hälse blähen sich auf und beginnen zu schwellen, und vor allem die Schmähungen verbreitern die weiten Mäuler. Ihre Rücken schließen an den Kopf an, die Hälse scheinen (aus der Mitte) weggenommen; ihr Rückgrat ist grün, der Bauch, der größte Teil des Körpers ist weiß, und als neu entstandene Frösche hüpfen sie im schlammigen Teich herum.

magna…numina: peot. Pl.
agris: hier als Abl. loci übersetzt; Variante: ‚des an Feldern fruchtbaren Lykiens’

 

 

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