Daphne

Die erste Liebe des Phoebus war Daphne, die Tochter des Peneus, welcher nicht blinder Zufall fügte, sondern der wilde Zorn des Cupido. Der Delier, stolz über die jüngst (erfolgte) Besiegung des Drachens [wörtl.: besiegten Drachen], hatte diesen gesehen, wie er mit gespannter Sehne die Enden des Bogens krümmte, und gesagt: „Wozu brauchst du, ausgelassener Knabe, tapfere Waffen? Diese Dinge, die du trägst, passen zu unseren Schultern, die wir sichere Wunden zufügen können dem Wild, zufügen dem Feind, die wir eben mit zahllosen Pfeilen den Python erlegt haben, der aufgebläht mit seinem Verderben bringenden Bauch so viele Morgen Landes gedrückt hat. (461) Du sollst (damit) zufrieden sein, mit deiner Fackel ich weiß nicht was für Liebesleidenschaften zu wecken, und beanspruche nicht unseren Ruhm.“

Der Sohn der Venus sagt zu ihm: „Mag auch dein Bogen, Phoebus, alles treffen, der meine (wird) dich (treffen); und um wie viel alle Lebewesen einem Gott nachstehen, um soviel geringer ist dein Ruhm als meiner.“

(466) Sprach’s und teilte mit heftigen Flügelschlägen [wörtl.: mit heftig geschlagenen Flügeln] die Luft, nahm eilig Aufstellung auf der schattigen Bergspitze des Parnaß und holte aus seinem pfeiltragenden Köcher zwei Geschoße von gegensätzlicher Wirkung hervor: Das eine vertreibt, das andere erregt die Liebe [wörtl.: dieses…jenes…]. Das sie erregt, ist aus Gold und funkelt mit scharfer Spitze; das sie vertreibt, ist stumpf und hat Blei unten im Pfeilschaft. (472) Dieses bohrte der Gott in die Nymphe, die Tochter des Peneus, doch mit jenem (Geschoß), das durch das Gebein drang [wörtl.: durch das durchbohrte Gebein (hindurch)], verletzte er das Mark des Apollo. Sofort liebt der eine, es flieht die andere vor der Bezeichnung „Liebende“; sie freut sich an den Verstecken der Wälder und an den abgezogenen Häuten des erlegten/gefangenen/erbeuteten Wildes und wetteifert [wörtl.: (ist) wetteifernd] mit der unvermählten Phoebe: mit einem Band hielt sie die ohne Ordnung gelegten Haare. (478) Viele (Männer) warben um sie, (doch) sie wies die Werbenden ab, und einen Mann verschmähend und ledig, durchstreift sie die unwegsamen Wälder und kümmert sich nicht um Hymen, Amor und Ehe. Oft sagte der Vater: „Einen Schwiegersohn schuldest du mir, Tochter“, oft sagte der Vater: „Du schuldest mir Enkel, Tochter.“ (483) (Doch) jene verabscheute die Hochzeitsfackeln wie ein Verbrechen, hatte ihr schönes Antlitz von Schamröte übergossen, und mit schmeichelnden Armen am Hals des Vaters hängend, sagte sie: „Gewähre mir, teuerster Vater, mich ewiger Jungfräulichkeit zu erfreuen; dies hat einst der Diana ihr Vater gewährt.“ (488) Jener gehorcht zwar, doch diese (deine) Anmut verbietet dir, was du (zu sein) wünscht, und deine Schönheit steht mit deinem Wunsch in Widerspruch: Phoebus liebt und sieht Daphne und wünscht sich mit ihr zu vereinen, und was er wünscht, erhofft er, und jenen täuschen seine eigenen Orakel. (492) Und wie die leichten Stoppeln verbrannt werden, wenn die Ähren abgemäht sind, wie Hecken sich durch Fackeln entzünden, die ein Wanderer vielleicht zu nahe (an sie) gebracht oder bereits vor Anbruch des Tageslichtes liegengelassen hat, so ging der Gott in Flammen auf, so brennt er in seinem ganzen Herzen und nährt die fruchtlose Liebe durch Hoffen. (497) Er sieht ihr schmuckloses Haar vom Hals herabhängen und sagt: „Was (wäre), wenn sie frisiert werden?“ Er sieht ihre feurig glänzenden Augen, (die) ähnlich (sind) den Sternen, er sieht ihre Lippen/ihren Mund, die gesehen zu haben, (ihm) nicht genügt; er preist ihre Finger und Hände und Arme und die mehr als zur Hälfte entblößten Oberarme. (502) Wenn irgendwelche (Körperteile) verborgen sind, hält er sie für noch besser. Jene flieht schneller als der leichte Lufthauch und bleibt nicht stehen auf folgende Worte hin, die er ihr nachruft:

„Nymphe, Tochter des Peneus, bitte bleib! Ich folge dir nicht als Feind: Nymphe, bleib! So flieht das Lamm den Wolf, so die Hirschkuh den Löwen, so den Adler die Tauben mit zitternder Schwinge, eine jede vor seinen Feinden: Für mich ist die Liebe der Grund (, dir) zu folgen. (508) Ich Armer! Wenn du nur nicht kopfüber fällst oder die Dornbüsche nur nicht deine Beine blutig reißen, die es nicht verdienen, verletzt zu werden, und ich nur nicht der Grund für deinen Schmerz bin! Rau ist die Gegend, wo du eilst. Mäßiger, bitte ich, eile und hemme deine Flucht; mäßiger werde ich selbst dir folgen. (512) Wem du gefällst, erforsche doch wenigstens. Nicht ein Bewohner des Berges, nicht ein Hirte bin ich, nicht hüte ich hier als struppiger (Mann) Herden von Rindern und Ziegen [wörtl.: Groß- und Kleinvieh]. Du weißt nicht, Unbedachte, du weißt nicht, vor wem du fliehst, und deshalb fliehst du. Mir sind das delphische Land, Klaros, Tenedos und die Königsburg Patara untertan, Iuppiter ist mein Erzeuger, durch mich ist offenbar, was sein wird, (was) war und ist, durch mich stimmen die Lieder mit den Saiten überein. (519) Sicher treffend ist zwar unser Pfeil, dennoch ist ein Pfeil sicherer als der unsere, der in der freien Brust Wunden schuf. Meine Erfindung ist die Arznei, Hilfebringer werde ich auf Erden genannt, und die Wirkung der Heilkräuter ist uns unterstellt: weh’ mir, dass die Liebe durch keine Kräuter heilbar ist und nicht die Künste ihrem Herrn nützen, die doch allen nützen!“

(525) Er hätte noch mehr gesprochen; doch die Tochter des Peneus floh ängstlichen Laufes vor ihm [wörtl.: floh vor dem mehr Sprechenden] und ließ mit ihm selbst auch seine unvollendeten Worte hinter sich; auch dann erschien sie schön; die Winde enthüllten den Körper, und die entgegenkommenden Lüfte brachten die zugewandten Gewänder zum Schwingen, und ein leichter Luftzug ließ die bewegten Haare wehen, und durch die Flucht wurde ihre Schönheit noch vergrößert. Aber der junge Gott ertrug es nicht lange, Schmeicheleien zu verschwenden, und wie ihn selbst die Liebe antrieb, folgte er eilends (mit in Bewegung gesetzten Schritt) ihren Spuren. (533) Wie wenn ein gallischer Hund auf freier Flur einen Hasen gesehen hat und dieser mit seinen Füßen die Beute, jener (aber) sein Heil sucht – der eine macht den Eindruck, als säße er ihm sofort auf dem Nacken [wörtl.: ähnlich dem, der (ihm) auf dem Nacken sitzen wird], und hofft, ihn jetzt, jetzt zu packen, und mit vorgestreckter Schnauze berührt er (dessen) Läufe, der andere schwankt, ob er (schon) gefasst ist, und entwindet sich gerade noch den beißenden Zähnen [wörtl.: den Bissen] und entkommt dem (ihn) packenden Maul. So sind der Gott und die Jungfrau, er schnell durch die Hoffnung, jene durch die Angst. (540) Dieser setzte dennoch unmittelbar nach, unterstützt durch die Federn der Liebe ist er schneller und verweigert eine Rast, und den Rücken der Fliehenden berührte er schon, und hauchte das wild flatternde Haar im Nacken an. Nachdem sie ihre Kräfte verbraucht hatte, erbleichte jene und sie war erschöpft durch die schnelle Arbeit und auf die Wellen des Peneios blickend sagte sie: „(Mach Hilfe) Hilfe Vater, wenn ihr Flüße ein göttliches Wesen habt! Vernichte durch Verwandlung die Gestalt, durch die ich allzu großen Gefallen erregt habe!“ Kaum hatte sie ihre Bitte beendet, befiel eine schwere Erstarrung ihre Glieder: Ihre weiche Brust wurde mit dünnen Bast umgürtet, zu Laub wachsen die Haare, zu Ästen die Arme; der Fuß, eben noch so flink, bleibt an zähen Wurzeln haften, der Wipfel nimmt das Gesicht ein: zurück bleibt in jener nur die Schönheit. Auch diese liebte Phoebus, und fühlt, als er die rechte an den Stamm legt, immer noch das Herz unter der neuen Rinde schlagen, und umfaßt mit seinen Armen die Äste, als wären sie Glieder, und gibt dem Holz Küsse, dennoch weicht das Holz vor den Küssen zurück. Zu ihr sagte der Gott: „Aber weil du nicht meine Frau sein kannst, wirst du sicherlich mein Baum werden! Immer werden dich unser Haar, dich unsere Lyren, dich unser Lorbeer und unseren Köcher zieren. Du wirst bei den Feldherrn von Latium sein, wenn die frohe Stimme zum Triumphzug bläst, und das Kaptiol lange Festzüge bestaunt. Auch als treueste Wache vor dem kaiserlichen Tor wirst eben du vor dem Eingang stehen und den Eichenkranz in der Mitte beschützen, und wie mein junges Haupt noch ungeschorene Haare hat, trage du auch immer des Laubes beständige Zierde.“ Paean hatte geendet. Mit den eben erst geschaffenen Zweigen nickte der Lorbeerbaum zu, und schien wie ein Haupt den Wipfel zu neigen.

nostra: hier: Bescheidenheitsplural
eliso…aere: Abl. Abs.
nostra (tamen): Abl. comp.
decens/ntis: schön
nudo1: sich enthüllen
vibro1: schwingen, schwenken, zittern, zucken, funkeln, blitzen
obvius3: entgegenkommend
flamen/inis n: Wehen, Hauch
retro dare: zurücktreiben lassen
impello3/puli/pulsus: schlagen, anstoßen, bewegen, niederwerfen
blanditia/ae: Schmeichelei
admitto3/misi/missus: in Bewegung setzen, zu-, loslassen
insequor3/secutus sum: unmittelbar ver-, folgen, nachsetzen
ocior/ius: schneller
fugax/acis: flüchtend, fliehend
afflo1: anblasen, anhauchen
requies/ei: Ruhe, -stätte, Rast
sparsus3: wild flatternd
crinis/is: Haar
cervix/icis: Nacken, Hals
absumo3/sumpsi/sumptus: verbrauchen, erschöpfen
citus3: schnell, rasch,
torpor/oris m: Erstarrung
artus/us: Gelenke, Glieder
praecordia/orum: Brust
tener/era/erum: zart, fein, dünn
cingo3/cinxi/cintus: um-, gürten, -winden, -ringen, -zingeln
liber/bri: Bast
cacumen/inis: Wipfel, Spitze
remaneo2/mansi: zurückbleiben
stipes/pitis: Pfahl, Stamm
trepido1: zappeln, schwanken
pectus/oris: Brust, Herz, Seele
cortex/ticis: Rinde
complexux/us: Umfassung, -schließung, -armung
coma/ae: Haar, Laub, Wolle
cithara/ae: Leier, Laute
laurus/i :Lorbeer
pharetra/ae: Köcher
pompa/ae: Festzug
viso3/visi: bestaunen, bestichtigen, betrachten
foris/is: Tür, -flügel, Eingang
intonsus3: ungeschoren
Paean/anis: Beiname Apolls
adnuo3/nui: zunicken, -stimmen

 

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