Zwei Vorschriften für Staatsmänner

Überhaupt sollen diejenigen, die an der Spitze eines Staates stehen werden, zwei Vorschriften Platons einhalten: Die eine, dass sie den Nutzen der Bürger so wahren, dass sie, was auch immer sie tun, sich danach ausrichten, ohne an ihre eigenen Vorteile zu denken, die zweite, dass sie sich um den ganzen Staatskörper kümmern, damit sie nicht, während sie sich um irgendeinen Teil sorgen, die übrigen vernachlässigen. Denn wie eine Vormundschaft, so soll auch die Verwaltung des Staates zum Nutzen derer, die anvertraut wurden, und nicht zum Nutzen derer, denen sie anvertraut wurden, (aus)geführt werden; wer aber sich um einen Teil der Bürger kümmert und einen anderen Teil vernachlässigt, führt in die Bürgerschaft eine sehr verderbliche Sache ein, nämlich Aufruhr und Zwietracht; daher kommt es, dass die einen als Popularen erscheinen, die anderen sich nur um die Optimaten zu bemühen scheinen, wenige um alle.

Daher kam bei den Athenern große Zwietracht, in unserem Staat nicht nur Aufruhr sondern auch Verderben bringende Bürgerkriege; diese wird ein ernst zu nehmender und mutiger Bürger, der des ersten Rang im Staate würdig ist, meiden und hassen und er wird sich ganz dem Staat widmen und (wird) weder nach Reichtum noch nach Macht streben und er wird den ganzen Staat so schützen, dass er für alle (Bürger) sorgt; aber er wird nicht durch falsche Anschuldigungen bewirken, dass jemand gehasst und geneidet wird und überhaupt soll er so an der Gerechtigkeit und der Anständigkeit festhalten, dass er, wenn er bloß diese bewahrt, wenn er auch noch so heftig anstößt oder dem Tod entgegen geht, eher, als dass er jene Werte die ich genannt habe, im Stich läßt.

Am elendsten überhaupt ist der Ehrgeiz und der Wettstreit um Ehrenämter, worüber bei demselben Platon in prächtiger Weise geschrieben steht, dass diejenigen, die miteinander streiten, wer von beiden eher den Staat verwalten soll, in ähnlicher Weise handeln, wie wenn Matrosen streiten würden, wer von ihnen am ehesten steuern soll. Derselbe schreibt vor, dass wir diejenigen für Feinde halten, die die Waffen gegeneinander erheben, und nicht diejenigen, die nach ihrer Überzeugung den Staat schützen wollen, wie es zwischen P. Africanus und Q. Metellus einen Streit gab, aber ohne Härte.

Man darf aber nicht auf jene hören, die glauben, dass man Feinden sehr zürnen muss, und die glauben, dass das Sache eines edlen und entschlossenen Mannes ist. Denn nichts ist lobenswerter, nichts ist eines großen und berühmten Mannes würdiger, als Versöhnlichkeit und Milde. Aber bei freien Völkern und bei einer Gleichheit vor dem Gesetz, ist auch die sogenannte Charaktergröße auszuüben, damit wir nicht, wenn wir erzürnen, in einen unnötigen und hassenswerten Starrsinn fallen, gegen Leute, die zum falschen Zeitpunkt kommen oder in unverschämter Weise etwas verlangen. Und dennoch dürfen Milde und Sanftmut nur so weit gebilligt werden, dass eine Härte um des Staates Willen verwendet wird, ohne die eine Bürgerschaft nicht verwaltet werden kann. Aber jede Zurechtweisung und jede Züchtigung soll frei sein von Schmach, und soll (sich) nicht zum Nutzen dessen, der irgend jemanden bestraft oder mit Worten zurechtweist, sondern auf den Nutzen des Staates beziehen.

Man muss sich auch davor hüten, das die Strafe nicht größer sei als die Schuld, und dass nicht für dieselben Vergehen, die einen geschlagen werden und die anderen nicht einmal zur Rede gestellt werden. Aber vorallem muss man beim Strafen Zorn vermeiden. Denn niemals wird der, der zornig an eine Bestrafung herangeht jenes rechte Mittelmaß einhalten, das zwischen zuwenig und zuviel liegt; dieses gefällt den Peripatetikern und es gefällt ihnen zurecht, wenn sie doch nicht den Jähzorn loben würden, und sagen würden, dass er und von der Natur nützlicher(weise) gegeben wurde. Jener aber ist in jeden Fall zurückzuweisen und es ist zu wünschen, dass die, die an der Spitze des Staates stehen, den Gesetzen ähnlich seien, die sich bei einer Bestrafung nicht vom Zorn sondern von der Gerechtigkeit führen lassen.

omnino: gänzlich, überhaupt
tutela/ae: hier: Vormundschaft
procuratio/onis: Fürsorge, Verwaltung
perniciosus3: verderblich, schädlich
seditio/onis: Zwiespalt, Aufruhr
pestifer3: verderblich, unheilvoll
consector1: nachgehen, nach etwas streben, trachten
crimen/inis: Beschuldigung
in odium – invidiam vocare: in Unbeliebtheit und Verruf bringen, verhasst machen
adhaeresco3/haesi: anhängen, widmen
quamvis: wenn auch noch so
ambitio/onis: Aufzug, Gepränge, Prunk, Bewerbung, Parteilichkeit
contentio/onis: Vergleich, Auseinandersetzung, Wettkampf, Streit, Anstrengung, Eifer
praeclare: sehr hell, sehr deutlich, herrlich, vortrefflich, glänzend
siliter: adv ähnlich, gleich(artig)
contendo3/tendi/tentus: zusammenstellen, vergleichen, (an)spannen, sich anstrengen, fordern, behaupten
existimo1: abschätzen, veranschlagen, halten, ansehen, urteilen
velo1: ver-, einhüllen, bedecken, umgeben, umwinden, verschleiern
acerbitas/atis: Herbheit, Härte,
dissensio/onis: Meinungsverschiedenheit
magnanimus3: hochherzig, edel3
laudiblilis/e: löblich, rühmlich
placabilitas/atis: Versöhnlichkeit
clementia/ae: Sanftmut, Milde, Schonung
aequabilitas iuris: gleiche Berücksichtigung, Gleichheit vor dem Gesetz; Gewährung gleicher bürgerlicher Rechte und Freiheiten
altitudo/inis: Höhe, Größe, Tiefe
intempestivus3/e: unzeitig, ungelegen
morositas/atis: Eigensinn
probo1: untersuchen, prüfen, anerkennen, billigen, darlegen
mansuetudo/inis: Sanftmut, Milde, Zahmheit
adhibeo2/bui/bitus: verwenden, anlegen, zuziehen, zeigen
severitas/atis: Ernst, Strenge, Härte
castigatio/onis: Züchtigung, Zurechtweisung, Strafe, Tadel
castigo1: bändigen, einschränken, verbessern, tadeln, rügen
animadversio/onis: Aufmerksamkeit, Beobachtung, Tadel
mediocritas/atis: Mittelweg, Mittelmäßigkeit, Durchschnitt

 

 

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