Die stoische Lebenshaltung
Stürmische Leidenschaften und heftige Gemütserregungen, die durch einen unbedachten Ansturm mitgerissen werden und jede/alle Vernunft zurückweisen, lassen keinen Platz für ein glückliches Leben. Wer nämlich kann nicht unglücklich sein, wenn er den Tod oder den Schmerz fürchtet, von denen der eine oft gegenwärtig ist und der andere immer droht? Was ist, wenn derselbe, was meistens geschieht, Armut, Schande und Ehrverlust fürchtet, wenn er Gebrechlichkeit, Blindheit, wenn er schließlich, was nicht nur einzelnen Menschen, sondern mächtigen Völkern oft geschehen ist, nämlich die Sklaverei. Kann irgend jemand, der das fürchtet, glücklich sein? Wer kann glücklich sein, der das nicht nur für die Zukunft befürchtet, sondern auch im Augenblick/in der Gegenwart erduldet? Füge eben dem noch hinzu: Verbannungen, Trauer, den Verlust von Kindern, wer durch diese Ereignisse gebrochen, von Kummer niedergedrückt wird, kann der noch nicht sehr unglücklich sein? Was aber/Wie denn? Jenen, den wir von Begierden entflammt und rasend sehen, der mit unstillbaren Verlangen alles wild anstrebt, könnte man den nicht zurecht äußerst unglücklich nennen, da er um so heftiger und brennender dürstet je reichlicher er von allen Seiten her Lust empfängt? Was? Jener der sich durch seinen Leichtsinn fortreißen läßt, und der in inhaltloser Freude jubelt und grundlos ausgelassen ist, ist der nicht um so unglücklicher, je glücklicher er sich vorkommt? Wie also diese Menschen unglücklich sind, so sind im Gegensatz dazu jene glücklich, die keine Angst erschreckt, keine Sorgen verzehren, keine Begierden anstacheln, keine oberflächlichen überschäumenden Freuden durch die verweichlichende Lust schwächen. Wie daher die Ruhe des Meeres wahrgenommen/erkannt wird, wenn kein, nicht einmal der kleinste, Lufthauch die Wogen/Fluten bewegt, ebenso erkennt man einen ruhigen und friedlichen/gelassenen Gemütszustand, wenn es keine Störung gibt, durch die er bewegt werden könnte. Wenn es also jemanden gibt, der die Kraft/Macht des Schicksals, der alles menschliche, was jedem passieren kann, für erträglich hält, so daß ihn infolge dessen weder Angst noch Beklemmung befällt, wenn derselbe Mensch nichts wünscht, wenn er durch keine leere Begierde des Geistes mitgerissen wird, was gibt dann es für einen Grund, daß der nicht glücklich sein sollte? Und wenn das durch Tugend bewirkt wird, was gibt es dann für einen Grund, warum nicht die Tugend durch sich selbst, glücklich machen würde? |
praesentia/ae: Gegenwart,
Anwesenheit, Erscheinung exsilium/i: Verbannung, Exil fractus3: kraftlos, schwach, matt frango3/fregi/fractus: brechen, verletzen, schwächen, entmutigen aegritudo/inis: Krankheit, Verlauf der ~, Kummer, Gram elido3/lisi/lisum: herausschlagen, herausstoßen, zerschlagen libido/inis: Lust, Begierde furens/ntis: rasend, wütend appetens/ntis: nach etwas strebend, begierig, trachtend inexplebilis/e: unersättlich, unstillbar affluens/entis: verschwenderisch, reichlich, triefend elatus3: stolz, übermütig, erhaben levitas/atis: Leichtigkeit, Beweglichkeit, Leichtsinn ex(s)ulto1: empor-, aufspringen, frohlocken, jauchzen, prahlen temere: blindlings, unüberlegt, zufällig inanis/e: leer, inhaltslos gestio4/ici: sich freudig gebärden, ~ springen exedo3/edi/esus: verzehren, zerfressen, zernagen, tilgen, quälen futtilis/e: unzuverlässig, unsicher, wertlos, nichtig, eitel languidus3: matt, träge, schlaff liquefacio3: flüssig machen, schmelzen, schwächen, entnerven tranquillus3: ruhig, still quid est, cur : was ist der Grund, warum |