Das Wesen des Staates und seine Grundformen

Daher ist der Staat das Wesen des Volkes; das Volk aber ist nicht jeder Zusammenschluss von Menschen, der sich auf irgendeine beliebige Weise zusammengetan hat, sondern der Zusammenschluss einer großen Zahl von Menschen, die sich mit einem gemeinsamen Recht und einer Interessengemeinschaft vereint hat. Aber der erste Grund für diesen Zusammenschluss ist nicht sosehr die Schwäche als ein gewisser natürlicher sozusagen Geselligkeitstrieb der Menschen; denn es ist nicht ein einzeln lebendes und allein umherschweifendes Geschlecht, sondern es ist so erschaffen, dass es nicht einmal im Überfluss aller Dinge die Gesellschaft seines Geschlechtes entbehren will…

Diese Zusammenschlüsse, die aus dem erwähnten Grund errichtet wurden, gründeten zuerst einen Sitz an einem sicherem Ort also Behausung; nachdem sie diese durch die natürlichen Gegebenheiten und händisch gesichert hatten, nannten sie eine derartige Verbindungen von Dächern ausgestattet mit Tempeln und öffentlichen Plätzen oppidum oder urbs.

Daher muss jedes Volk, das ein solcher Zusammenschluss einer Vielzahl ist, wie ich gesagt habe, und jede Bürgerschaft, die eine Ordnung des Volkes ist, und jeder Staat, der – wie ich sagte – Sache des Volkes ist, nach einem gewissen Plan geleitet werden, um lange anzudauern. Dieser Plan aber muss zunächst immer auf jenen Grund zurückgeführt werden, der die Bürgerschaft hervorgebracht hat.

Dann muss er entweder einem einzigen oder gewissen auserwählten Männern zugeteilt werden oder die Menge und alle müssen ihn übernehmen. Deshalb nennen wir, wenn die höchste Gewalt in der Hand eines einzelnen liegt diesen einen König und diese Staatsform ein Königreich. Wenn sie aber in der Hand auserwählter Männer liegt, so sagt man, dass jene Bürgerschaft nach dem Gutdünken der Aristokraten gelenkt wird. Jene Form aber ist die Demokratie – so nennt man sie nämlich –, in der alle Macht beim Volk ist. Und jede beliebige dieser drei Arten/Staatsformen ist, wenn sie an jenem Band festhält, welches zuerst die Menschen untereinander in einer staatlichen Gemeinschaft verbunden hat, zwar nicht perfekt und meiner Meinung nach nicht die Beste, aber doch annehmbar und so, dass die eine besser als die andere sein kann. Denn ein gerechter und weiser König oder Ausgewählte vornehme Bürger oder das Volk selbst, obwohl das am wenigsten zu billigen ist, scheint dennoch von einem einigermaßen sicheren Bestand sein zu können, wenn keine Ungerechtigkeiten oder Begierden dazwischentreten.

Aber in Königreichen sind die Übrigen zu sehr ausgeschlossen von der allgemeinen Rechtgebung und der Beschlussfassung; und in einer Aristokratie kann die große Menge kaum teilhaben an der Freiheit, weil sie an jeder öffentlichen Entscheidung und an der Macht nicht beteiligt ist; und wenn alles vom Volk geleitet wird, mag es auch noch so gerecht und gemäßigt sein, so ist dennoch diese Gleichheit selbst ungerecht, wenn sie keine Abstufungen der Würde hat.

Wenn daher jener Perser Cyrus der gerechteste und weiseste König war, scheint mir dennoch die Sache des Volkes – denn das ist, wie ich vorher gesagt habe, der Staat – nicht sehr erstrebenswert gewesen zu sein, weil er nach der Willkür und der Art eines einzigen geleitet wurde.

Wenn die Einwohner von Marseille, unsere Klienten, von auserwählten und führenden Bürgern mit höchster Gerechtigkeit regiert werden, so liegt dennoch in dieser Lage des Volkes eine gewisse Ähnlichkeit mit Sklaverei. Wenn die Athener zu gewissen Zeiten nach der Aufhebung des Areopags nur durch Entscheidungen und Beschlüsse des Volkes agierten, so hielten sie nicht an ihrer Ordnung fest, weil sie keine unterschiedlichen Abstufungen der Würde hatten.

Und ich sage das, von diesen drei Staatsformen, wenn sie nicht gestört und untereinander gemischt sind, sondern ihren Status beibehalten. Diese Formen haben zunächst jede für sich diese Fehler, die ich vorher genannt habe. Weiters haben sie noch andere Verderben bringende Fehler: Denn es gibt keine unter diesen Staatsformen, die nicht einen schnellen und gefährlichen Weg/Zugang zu einem gewissen naheliegenden Übel hat. Denn in jenem erträglichen, oder wenn ihr wollt, sogar liebenswerten König Cyrus, um vorallem ihn zu nennen, steckt bei der Möglichkeit einer Charakteränderung jener sehr grausame Phalaris, zu dessen Ähnlichkeit die Herrschaft eines einzigen in schnellem Lauf und leicht abgleitet. Aber jener Staatsverwaltung der Einwohner von Marseille durch wenige vornehme Männer ist benachbart, die einmütige Parteienherrschaft jener dreißig Männer (Tyrannen), die es zu einer gewissen Zeit bei den Athenern gegeben hat. Sie selbst gestehen schon offen, dass die Macht des athenischen Volkes in allen Dingen, um nicht andere (Völker) zu untersuchen, die sich in Raserei des Volkes und Willkür verwandelt hatte, zum Verderben für den Staat wurde.

…erstaunlich sind die Kreisläufe und gleichsam regelmäßige Abläufe und die Veränderung und der Wechsel der Staatsformen; diese zu erkennen ist Sache eines Weisen, sie aber vorauszusehen, wenn es droht während man bei der Leitung des Staates den Lauf lenkt und in seiner Gewalt behält, das ist Sache eines gewissen großen Bürgers und fast göttlichen Mannes. Daher glaube ich, dass eine gewisse vierte Staatsform am meisten gebilligt werden muss, die aus diesen dreien, die ich vorher genannt habe maßvoll gemischt ist.

coetus/us: Zusammentreffen, Zusammenkunft, Versammlung
consensus/us: Übereinstimmung, Einigkeit, Einhelligkeit
imbecillitas/atis: Schwäche, Mangel, Mutlosigkeit, Krankheit
congregatio/onis: Geselligkeit, Gemeinschaft, Versammlung
solivagus3: allein umherschweifend, vereinzelt
affluentia/ae: Überfluß, Luxus
careo2/ui/iturus: frei, leer, sich fernhalten, entbehren, entsagen
expono3/posui/positus: aussetzen, -stellen, -legen, darlegen
institutio/onis: Einrichtung, Anordnung, Unterweisung, Lehre
domicilium/i: Wohnstätte, Wohnsitz, Wohnung
saepio4/psi/ptus: umzäunen, umgeben, einschließen, schützen
constitutio/onis: Einrichtung, Verfassung, Erschaffung, Aufbau
gigno3/genui/genitus: zeugen, gebären, hervorbringen, entstehen
penes: praep + Akk. in der Gewalt, im Besitz, auf seiten, bei
quivis/quaevis/quodvis: jeder, jeglicher, alles Mögliche
vinculum/i: Schnur, Band, Strick, Fesseln
devincio4/vinxi/vinctus: um-, festbinden, fesseln, eng verbinden
factio/onis: das Machen
consensus/us: Übereinstimmung, Einigkeit, Einstimmigkeit
mirus3: auffallend, erstaunlich, wunderbar
circuitus/us: das Herumgehen, Umlauf, Kreislauf, Umweg
commutatio/onis: Veränderung, Wechsel
vicissitudo/inis: Wechsel, Abwechslung, Änderung, Wandel

 

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