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DIE
STADT VARNA UND IHRE KONTAKTE ZU DEN DEUTSCHSPRACHIGEN
LÄNDERN BIS 1944[1] Uwe
Veit Sorge Lehrerfortbildungsinstitut
“Dr. Petar Beron” Varna,
Bulgarien 0.
Einleitung/Materiallage
Die bulgarischen Wähler haben sich für eine Zukunft im Bestand der
Europäischen Union entschieden. Die Vorbereitungen auf die Verhandlungen sind
gegenwärtig im Gange, erste Gespräche werden bereits geführt. Doch wie klar
sind die Vorstellungen der Bulgaren darüber, was sie in der EU erwarten wird?
Was bedeutet dieses “Europa” für Bulgarien? Warum vernimmt man von Bulgaren
so oft eine Unterscheidung zwischen Bulgarien und Europa? Wie weit ist
Bulgarien eigentlich von “Europa” entfernt?
Diese Fragen sollen Anlass sein, einen Exkurs in die Geschichte zu
unternehmen und zu erkunden, wie das Verhältnis zwischen Bulgaren und “Europäern”
in früheren Zeiten aussah. So soll in den folgenden Ausführungen exemplarisch
am Beispiel der Stadt Varna untersucht werden, welche Kontakte, Bindungen und
Verbindungen einst, d. h. bis zum Einmarsch der Sowjetarmee im Jahre 1944, zum
deutschen Sprachraum bestanden haben. Dabei ist gleichzeitig zu fragen,
inwieweit heute ein Bild des Anderen, das von den Beziehungen des Eigenen zu
diesem Anderen ausgeht, ein kritisches Bewusstsein über die beidseitigen
Traditionen schaffen, das Selbstbewusstsein der Bulgaren auf dem gegenwärtig
eingeschlagenen Weg stärken und den Erwartungen ein reales Maß verleihen
kann.
Die zugängliche Forschungsliteratur zu den bulgarisch-deutschen
Beziehungen ist nicht sehr umfangreich. Eine sorgfältige Dokumentation der
gesamten Breite der bulgarisch-deutschen Beziehungen stellt die durch die
Bulgarische Akademie der Wissenschaften in den 70er und 80er Jahren publizierte
vierbändige Ausgabe Българо-германски
отношения и
връзки dar. Hinzu kommen einige weniger
umfangreiche Monografien zu einzelnen Bereichen der zwischenstaatlichen Kontakte
(Vgl. Bibl. u. a. Kjuljumova-Bojadshieva, Markov, Stojanova, Todorova/Statelova).
Die Geschichte der Kontakte der Stadt Varna zum deutschsprachigen Ausland ist
bisher noch nicht zusammenhängend erforscht; somit stellen die folgenden Ausführungen
einen ersten Versuch dar, auf der Grundlage von Archivdokumenten und städtischen
Bibliotheksmaterialien ein komplexeres Bild zu entwerfen, bei dem folgende
Aspekte eine Rolle spielen werden: das deutsche Konsulat in Varna, die
wirtschaftlichen Kontakte einschl. Tourismus und die Deutsche Schule in Varna
In meinen Ausführungen möchte ich zunächst die aufgefundenen Dokumente
sprechen lassen, ohne an dieser Stelle die politische und ideologische
Entwicklung zu bewerten, von der die bulgarisch-deutschen Beziehungen in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betroffen waren. 1.
Diplomatische Kontakte: die deutsche konsularische Vertretung in Varna
Mit der in der ersten Hälfte des 19. Jh. zunehmenden Bedeutung der türkisch
verwalteten bulgarischen Lande für den Donau- und Schwarzmeerhandel werden in
den sich zu Handelszentren profilierenden Städten Russe und Varna
konsularische Vertretungen mehrerer europäischer Länder eingerichtet. Das österreichisch-ungarische
Konsulat entsteht bereits in den 40er Jahren des 19. Jh., der Autor und
Kriegsberichterstatter im Krimkrieg Moritz Hartmann konstatiert im Jahre 1854 in
Varna: Eine große Rolle spielt der österreichische Konsul, dem die Gesellschaft “Lloydt” den Handel, die Post und den Geldtausch überantwortet hat. Diese Gesellschaft kommt jede Woche einmal mit ihrem Schiff nach Varna, ist Herr über den Handel, über die Stadt und vielleicht auch über die gesamte Provinz. (Hartmann 1938, Ü. VS) Die Gründung des preußischen Konsulats wird für 1862 oder 1867
angenommen.[2]
Im Staatlichen Archiv Varna sind lediglich Dokumente des Konsulats
erhalten, die die Vertretung russischer Konsularangelegenheiten durch das
Kaiserliche Deutsche Vize-Konsulat während des Jahres 1889 belegen.
Weitere Hinweise auf die konsularische Vertretung Deutschlands in Varna
finden sich in einem deutschsprachigen Reiseführer der Stadt Varna aus dem
Jahre 1929[3],
in dem folgende Konsulate aufgelistet werden: das Englische, Deutsche, Französische,
Italienische, Polnische, Tschecho-Slowakische, Spanische, Türkische, Niederländische,
Griechische, Rumänische, Lettonische, Ungarische, Belgische, Jugo-Slavische,
Norwegische. (Warna - Bulgarien, S.
34). Ein Adress- und Telefonbuch der Stadt Varna belegt die Adresse des
Konsulats Mitte der dreißiger Jahre: “Германско
консулство
ул. Херминъ
Шкорпилъ 24”, die
Telefonnummer ist die 215 (vgl.: Варна:
Алманахъ -
Адресникъ, S. 44).
Der Vollständigkeit halber soll an dieser Stelle erwähnt werden, dass
später ein Konsulat der DDR in Varna tätig war; seit etwa 1997 wird die
konsularische Vertretung in Varna durch einen Honorarkonsul für Frankreich und
die Bundesrepublik Deutschland wahrgenommen.
Die im Archiv vorgefundenen Konsulatsdokumente umfassen: 1. Konzepte für die
monatlichen Abrechnungen über die Tätigkeit des kaiserlichen deutschen
Vizekonsuls in Varna, Freiherr Baron von Brück, in russischen Konsulatsgeschäften.
Die Abrechnungen sind in deutscher Sprache verfasst und an den Generalkonsul
in Sofia gerichtet. 2. Vordrucke für
Verbalnoten in französischer Sprache. 3. Korrespondenzen
mit anderen deutschen Konsulaten (Sofia, Russe, Odessa). 4. Schreiben der Präfektur
an das Konsulat in französischer und bulgarischer Sprache, die mit
deutschsprachigen Kommentaren des Konsuls und des Dragomans versehen sind, es
handelt sich meist um Ladungen zur Beilegung von Rechtsstreitigkeiten. 5. Schreiben von im
Verantwortungsbereich des Konsulats lebenden russischen Staatsbürgern an den
Konsul in bulgarischer, russischer oder französischer Sprache. Zur Illustration seien an dieser Stelle zwei Beispiele angeführt,
zuerst ein Schreiben über die Abrechnung von russischen Konsulatsgeschäften: Varna, den 1/13 November 1889 Generalkonsulat Sofia (Wangenheim ) R 273 mit Stankowitsch ab 1/13XI89 Euer Hochwohlgeboren beehren ich mich nachstehend eine kurze Übersicht über die im Monat Oktober d. J. vorgenommenen russischen Konsulatsgeschäfte zu überreichen. Die Nummern betragen zusammen 86. Es wurden ausgestellt 5 Passvisa, 1 Pass, 2 Passavants und 1 Aufenthaltsschein. Von der Präfektur gingen 21 Schreiben ein, 23 wurden an dieselbe gerichtet von welchen sich 16 bezw. 17 auf 20 bezw. 20 Ladungen und Zustellungen an russische Staatsangehörige bezogen. Der Dragoman hat 8mal assistiert. Bk (Brück) Beim zweiten Schreiben handelt es sich um das Konzept für einen Brief des deutschen Konsuls an seinen österreichisch-ungarischen Amtskollegen in Varna: Varna, den 1. März/17. Februar 89 D. Hurter Varna R 47 Der österreichisch-ungarische Staatsangehörige Isaak Kirschen, dessen Getreidemagazin an den Hofraum des russ. Staatsangehörigen Nusberg stößt (Nr. 58 im 1. Stadtviertel) hat, um einen Schaden an seiner Mauer ausbessern zu können, seine Leute gegen den Willen des Nusberg in dessen Hofraum gesandt, wobei dieselben nach Angaben des letzteren das Hofschloss gebrochen, 2 Obstbäume niedergeschlagen, sein Geflügel vertrieben und Eier gestohlen haben sollen, die Nusberg im Ganzen auf 75 frcs. veranschlagt. Da Kirschen in diesen Tagen abreisen soll, möchte ich Euer Hochwohlgeboren ergebenst bitten, denselben morgen zur Bereinigung der Angelegenheit veranlassen zu wollen. Genehmigen Euer Hochwohlgeboren den Ausdruck meiner vorzüglichsten Hochachtung Brück
Wenn auch diese Schreiben weniger die große Geschichte als vielmehr
kleinere Alltagskonflikte betreffen, so haben sie doch ihren Wert als
historische Dokumente sowie in Bezug auf Landeskunde und Sprachgeschichte. Sie
sind einerseits Teil der lebendigen Geschichte, andererseits sind sie in der
damals üblichen Handschrift verfasst und belegen die alltägliche Verwendung
heute längst nicht mehr gebräuchlicher Höflichkeitsformen. 2.
Wirtschaftliche Kontakte
Die nachweisbaren Wirtschaftskontakte der Stadt Varna zum
deutschsprachigen Ausland beziehen sich vor allem auf den Schiffbau, die
Teilnahme deutscher Unternehmen an der jährlich stattfindenden Varnaer
Mustermesse in den dreißiger Jahren sowie auf die Rolle der deutschsprachigen
“Sommerfrischler”, die gleichzeitig einen wirtschaftlichen und kulturellen
Faktor für die Stadtentwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
darstellen.. 2.1
Werft
Den bedeutendsten Stellenwert in den Wirtschaftsbeziehungen Varnas zu
Deutschland nimmt die 1926 als Bulgarische Aktiengesellschaft gegründete
Schiffs-, Lokomotiv- und Waggonbaufirma KORALOWAG ein. Der kurze
geschichtliche Überblick über das Schiffbauunternehmen KORALOWAG ist dem
Einführungstext der entsprechenden Aktensammlung im Staatlichen Archiv Varna
entnommen worden, Aktenmaterial ist zusammenhängend nur aus den Jahren 1943 und
1944 zugänglich, die verfilmten Akten anderer Jahre weisen große Lücken
auf.
Das Gründungsunternehmen dieser Firma ist die deutsche
Aktiengesellschaft “Werft Nobiskrug”, die gemeinsam mit den tschechischen
Ringhofferov- /Ringhoffer-Tatra-Werken und Albert Gorgas über 750 Aktien von
den insgesamt 990 Aktien verfügte; die Bulgarische Handelsschiffsgesellschaft
besaß gemeinsam mit weiteren Kleinaktionären 240 Aktien. Als die Werft ihre Tätigkeit
aufnahm, erwarb sie zunächst alte und kaum noch brauchbare Maschinen, bald
wurde aus Hamburg ein Schwimmdock angekauft. Anfangs unternahm der Betrieb Reparaturen
an Schiffen der bulgarischen Handelsflotte sowie an Lokomotiven und Waggons der
Bulgarischen Staatsbahn, nebenbei wurden auch Konsumgüter produziert. Als
Meister und Ingenieure arbeiteten zum großen Teil Tschechen und Deutsche, das
Material importierte man vor allem aus Deutschland, Österreich und der
Tschechei (ersichtlich aus den Korrespondenzen der Werftleitung mit
Speditionsfirmen). Die Bulgarische Handelsflotte zog sich 1937 aus dem
Aktienfond zurück, allmählich gingen die Aktien vollständig in die Hände der
deutschen Firma “Winking-Schiffbaugesellschaft”, Berlin, über. “Wiking”
sorgte für den Kauf neuer Maschinen und schaffte neue Abteilungen; verstärkt
wurden nun im Schiffbau wie in der Reparatur deutsche Aufträge ausgeführt. Während
des II. Weltkrieges stand die KORALOWAG infolge der deutschen Aktienmehrheit im
Dienst der deutschen Kriegsmarine, der Betrieb wurde militarisiert, es
erfolgte eine strenge Kontrolle von deutscher Seite mit offener und verdeckter
Überwachung. Vom 9. September 1944 an übernahm die sowjetische
Kontrollkommission die Verwaltung und Bewirtschaftung von “Koralowag”. (vgl.
Katalog 10K, Staatl. Archiv Varna: Einführungstext)
Zusammenfassend möchte ich einige Fakten anführen, die aus den
Archivdokumenten des Jahres 1943 hervorgehen: Zu diesem Zeitpunkt
wurde die Werft von einem Direktor mit militärischem Rang, Major Diederichs,
geleitet. Die Korrespondenz
mit der Spedition “Bratja Dimanovi” lässt darauf schließen, dass der
Transport von Zuliefergütern in der Regel über die Donau bis Russe und von
dort weiter per Bahn oder LKW verlief. In einem Schreiben
vom 25.05.43 an Regierungsrat Leibl, den deutschen Gesandten[4]
in Sofia, bittet die Leitung der KORALOWAG um Intervention beim Eisenbahnminister
für Zollvergünstigungen, die der Neptun-Schiffbaugesellschaft[5]
gewährt wurden, Koralowag jedoch nicht, obwohl beide Firmen in gleicher Weise
für die deutsche Kriegsmarine arbeiten. Vom 30. 6. 43 liegt
eine Fachbuchbestellung für die Bücher “Schiffbau” und “Das Beton-ABC”
an die deutsche Buchhandlung in Sofia vor. Im April und
September 1943 meldet die Werft Bedarf an Arbeitskräften beim “Generalbevollmächtigten
für den Arbeitseinsatz für Bulgarien” an. Ein Schreiben an die
“Wirtschaftsgruppe Schiffbau” (Ort nicht lesbar) vom 6.9.43 belegt
entstehende Schwierigkeiten bei der Materialbeschaffung: ... Unsere ins Reich gegebenen Bestellungen konnten von den Lieferwerken nur wenig oder gar nicht ausgeführt werden, weil wir den Werken die erforderlichen Kontingente, Vormerkscheine usw. für Eisen- und Nichteisenmetalle nicht zur Verfügung stellen konnten. Ebenso verhält es sich mit den dringend gebrauchten Kabeln. ... Wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn Sie uns die für unsere Werft zuständigen Dienststellen, Fachgruppen usw. angeben würden, damit wir uns mit diesen benehmen können. Es ist wohl nicht erforderlich zu erwähnen, dass wir durchweg mit kriegswichtigen Aufgaben betraut sind, deren Durchführung uns jedoch aus den oben angeführten Gründen sehr erschwert wird. In diesem Schreiben wird auch der Übergang der Aktien an die
Wiking-Schiffbaugesellschaft erwähnt, ein Brief Dr. Assmanns von den
Ringhoffer-Tatra-Werken belegt dies noch deutlicher: [ohne Datum] Dr. Wilhelm Assmann An die Koralowag A. G. Warna Ich teile Ihnen mit, dass ich die mir gehörende Koralowag-Aktie Nr. 411 an die Wiking-Schiffbaugesellschaft, Berlin, verkauft habe und erbitte die oben erwähnte Aktie, einschließlich Kuppon 1942, die in meinem Depot bei Ihnen liegt, der Wiking-Schiffbaugesellschaft m.b.H., Berlin, Wilmersdorf, auszuhändigen. Ein Dankschreiben über eine Geldspende der KORALOWAG aus Anlass des
Todes Boris’ III. belegt die Existenz einer “Zelle” der Landesgruppe
Bulgarien im Rahmen der Auslandsorganisation der NSDAP. 2.2
Internationale Messe
Die im Jahre 1932 von der “Liga für den Kurort Varna” (Katalog 1940,
19) initiierte lokale Musterausstellung in Varna entwickelte sich in relativ
kurzer Zeit zu einer “Internationalen Messe ... unter dem Allerhöchsten
Protectorat S. M. Boris III. König der Bulgaren” (Katalog 1939, S. 13), die
seit 1936 dem Verband der Internationalen Messen in Mailand angehörte (1940,
19). In der Varnaer Gebietsbibliothek sind die Kataloge der in Varna
abgehaltenen Messen aus den Jahren 1938, 1939 und 1940 erhalten; dabei nennt der
Katalog aus dem Jahre 1939 folgende Zahlen: Die Zahl der Aussteller ist von 101 im Jahre 1932 auf 587 im Jahre 1938 gestiegen, davon etwa 100 ausländische Firmen gegenüber 25 für das Vorjahr. Am stärksten war das Ausland auf der Messe durch Italien (Halbamtlich mit 40 Firmen) und Deutschland (mit 29 Einzelfirmen) vertreten. (S. 15) Im Katalog des Jahres 1940 heißt es zur internationalen Beteiligung an
der Messe: Mit dem Beitritt zu dem Verband der Internationalen Messen im Jahre 1936, bekommt die bis dahin nur der Vorführung bulgarischer Erzeugnisse dienende Veranstaltung einen internationalen Charakter. Das Interesse der fremden Staaten und Firmen an dieser Messe steigt. 1936 ist das Ausland nur mit zwei Firmen vertreten, 1938 sind es deren 95, wobei zum ersten Mal ein Staat, und zwar Italien, offiziell beteiligt ist; 1939 beteiligen sich 80 ausländische, hauptsächlich deutsche Firmen. Es besteht die Aussicht, dass die fremde Beteiligungen diesem Jahre eine ausserordentlich grosse sein wird, denn es haben sich viele Firmen gemeldet, und die offizielle Beteiligung Deutschlands, Griechenlands, Jugoslaviens, Rumäniens, das ein eigenes Gebäude errichtet, und der Sowjetunion ist bereits gesichert. (Katalog 1940, 20f.) Neben einer Vielzahl kleinerer Maschinenbaufirmen weist die Auflistung
der deutschen Aussteller im Katalog von 1939 auch die Siemens & Halske AG/Siemens-Schuckertwerke
AG Berlin sowie die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft (AEG) aus (ohne
Seitenzahl). Die Messekataloge sind in bulgarischer, deutscher und französischer
Sprache verfasst, sie enthalten neben Geleitworten, Informationen zur
allgemeinen Orientierung und Listen der Aussteller auch Werbeanzeigen
bulgarischer und ausländischer Unternehmen in deutscher Sprache. 2.3
Tourismus
Bedingt durch ihre geographische Lage und historische Entwicklung, ist
die Stadt Varna immer schon ein Sammelpunkt von Reisenden und Gästen aus vielen
Ländern. Moritz Hartmann berichtet bereits während des Krimkrieges 1854 von
den verschiedenartigsten Physiognomien und Bekleidungsweisen - türkische, griechische und bulgarische; ägyptische Soldaten und Baschibasuks aus Kleinasien ... Die Griechen und die Armenier schauen die Franzosen schief an, weil sie in ihnen zumindest gefährliche Konkurrenten sehen; sie hassen sie auch deshalb, weil sie Katholiken sind. (Hartmann 1938) Der Fürst Alexander Battenberg hat sich um 1882 in Rustschuk und in
Varna Residenzen geschaffen, weil diese Städte die von Ausländern am meisten
besuchten waren (България
в австро-унгарските,
257). Eine gezielte Entwicklung des Tourismus als Faktor im Wirtschaftsleben
der Stadt Varna lässt sich anhand der im Staatl. Archiv Varna befindlichen
Dokumente deutlich ab den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts belegen. Seit den
20er Jahren wurde Varna vor allem von Touristen und “Sommerfrischlern” aus
Österreich, der Tschechoslovakei und Ungarn besucht. Die Anzahl der Touristen
entwickelte sich in den 30er Jahren wie folgt:
Diese Zahlen belegen die Anzahl der in den offiziellen Pensionen für
mehr als sieben Tage abgestiegenen Touristen, auf Grund der privaten Besucher
der Stadt sowie der Durchreisenden können noch viel mehr Besucher angenommen
werden, die statistisch nicht erfasst wurden.
Die Archiv- und Bibliotheksmaterialien zum Tourismus gliedern sich vor
allem in drei Bereiche: - Protokolle von
Sitzungen der zuständigen Stellen über den Zustand und die Möglichkeiten der
Verbesserung des Tourismus in Varna, - Werbematerialien - Briefe von Gästen
über die Eindrücke während ihres Aufenthaltes in Varna.
Was die Werbung angeht, so ist ein deutschsprachiger Reiseführer aus dem
Jahre 1929 von besonderem Interesse. Dass es sich dabei um eine der ersten in
Bulgarien erschienen Informationsquellen für Touristen handeln muss, lässt
sich daraus schließen, dass es in den Texten von sprachlichen Fehlern jeder
Art nur so wimmelt[6].
Trotzdem ist dieser Reiseführer sehr informativ und gut illustriert. Der Leser
erhält in diesem Büchlein vor allem praktische Informationen über die An-
und Abreise, die damals in der Regel über die Donau bis Russe und weiter mit
der Bahn erfolgte, es enthält Informationen über Ärzte und Konsulate sowie
einen historischen Überblick und Informationen zu Ausflugsmöglichkeiten. Einen
großen Raum nehmen die Werbeanzeigen der Hotels und Geschäfte ein.
Die zehn Jahre später in
den Messekatalogen erschienenen, weitgehend fehlerfreien Werbeanzeigen der Stadt
Varna zeigen, dass man das Unterhaltungsangebot für die Sommerfrischler außerordentlich
verstärkt hat: Sport, Tennis, Fußball, Seesport etc. ... täglich mittags und abends Konzerte; Tanzgelegenheit, Bars, Jazzmusik, Orchester, Seefahrten, Musikfeste, Venediger Nächte, Wahl der “Strandkönigin” und des “Schönsten Kindes”. (Messekatalog 1939) Interessant in Bezug auf Fragen der interkulturellen Kommunikation sind
einige Passagen aus den o. g. Sitzungsprotokollen und aus Briefen österreichischer
Touristen: Die meisten Beschwerden hinsichtlich Verpflegung liegen wegen des Frühstücks vor. Insbesondere Reisende aus der Cechoslovakei, aus Oesterreich und Ungarn, aber auch Reisende aus anderen Ländern sind an das sogenannte Wiener Frühstück, bestehend aus: Kaffee (womöglich mit Schlagsahne), Butter, Jame, 1 Ei und Gebäck gewöhnt. Eine derartige Mahlzeit ist in Varna derzeit weder in einem Hotel, noch in den privaten Haushalten, noch in anderen Lokalen erhältlich. Die allgemeine Einführung des Wiener Frühstücks bei der Verpflegung in Varna scheint daher unumgänglich erforderlich. (Sitzungsprotokoll einer Aussprache zwischen Stadtgemeinde Varna, bulgarischem Eisenbahnministerium und der Donau-Dampfschiff Gesellschaft, ohne Angabe des Jahres, wahrsch. 1935, S. 2) Der österreichische Urlauber Karl Wünsche wendet sich nach seinem
Aufenthalt in Varna im September 1934 mit einem zehnseitigen Schreiben an die
Kurkommission Varna und moniert neben vielen Erschwernissen, die er als
Erholungssuchender hinnehmen musste: ... die Behandlung der Gäste bei der bulgarischen Nationalbank muss einer scharfen Kritik unterzogen werden. Die Herren Schalterbeamten in der Hauptanstalt können sich deutsch überhaupt nicht verständigen und französisch auch nur äusserst mangelhaft. Das Wechseln einer Hundertschillingnote dauert gerade zwei Stunden. Die Herren sollten Unterricht am Schalter einer Wiener Grossbank nehmen. Bei den Beamten der Bulg. Nationalbank hat man das Gefühl, dass sie sich einbilden kleine Herrgötter zu sein. Sie scheinen noch nicht erfasst zu haben, dass sie doch ihrer Kunden wegen, also auch der ausländischen Gäste wegen da sind und nicht die Gäste der Beamten wegen. Es würde nichts schaden, wenn sie höflicher, freundlicher, auskunftsbereiter und .. schneller wären. Die Frage nach dem schon eingangs erwähnten Bordereaux ist beinahe inquisitorisch. In ihren Augen ist man schon ein halber Verbrecher, wenn man dieses Bordereaux nicht bei der Hand hat, und das deshalb nicht, weil man solchen Sachen im Westen Europas verständnislos gegenüber steht. ... Von jenen Gästen, die nur einmal kommen, haben Sie nichts und nur ein regelmässig wiederkehrendes Stammpublikum fördert Ihren Wohlstand und Ihr Renomée. Aber nur dorthin kehrt man gerne wieder, wo man nicht bloss das Gefühl hat, Gast der Bevölkerung zu sein, sondern wo man sich als Gast des Landes, Gast der Regierung und Gast der Behörden fühlt. (St. Arch., Akte Kurortverwaltung) Interessant ist die Feststellung eines anderen österreichischen Gastes,
der der Auffassung ist, das Bedienpersonal sowie die Zimmermädchen sollten
statt in schwarzer Kleidung, mit der man europäisches Niveau zeigen wolle, ihre
Arbeit lieber in bulgarischen Trachten verrichten. Andererseits solle man bei
der Verpflegung nach bulgarischer Küche darauf achten, dass es für den
mitteleuropäischen Gaumen nicht “zu arg” sei (vgl. St. Arch., Akte
Kurortverwaltung). 3.
Kontakte in Kultur und Bildung: Deutsche Schule
Als eine wertvolle Quelle für Informationen zu kulturellen Kontakten der
Stadt Varna zum deutschsprachigen Ausland erweist sich die von dem Lehrer Ernst
Stahlschmidt verfasste Chronik der Deutschen Schule Varna.
Aus dieser Chronik geht hervor, dass am 19. Juli 1916 ein
Bulgarisch-Deutscher Kulturverein in Varna gegründet wurde, der neben
Unterhaltungsabenden auch Bulgarisch-Kurse für deutsche Soldaten und
Deutschkurse “für die Varnaer Bürgerschaft” (S. 2) durchführte. Die
Deutsche Schule wurde im September 1918 eröffnet, musste aber ihre Pforten nach
dreiwöchiger Tätigkeit wieder schließen, als englische, italienische und
französische Besatzungstruppen in Varna einmarschierten. Ebenso wurde zu diesem
Zeitpunkt der Bulgarisch-Deutsche Kulturverein verboten. Der Verein nahm seine
Tätigkeit im Jahre 1924 wieder auf, die Deutsche Schule wurde im September 1926
wieder gegründet.
Als erster Schulleiter wurde der damals 26jährige Richard Wolf
verpflichtet, der von 1956 bis 1965 die Leitung der Münchner Zentrale des
Goethe-Instituts innehatte. Im Laufe von 15 Jahren entwickelte sich die Schule
von der Primarschule zu einer gymnasialen Vollanstalt, an der im Jahre 1942 die
erste Reifeprüfung abgehalten wurde. Insgesamt waren im Laufe dieser Zeit 15
bulgarische und 36 deutsche Lehrer an dieser Schule tätig. Die Schülerschaft
rekrutierte sich vor allem aus bulgarischen Kindern, daneben lernten hier die
Kinder der in Varna lebenden Ausländer.
Die Schule bereicherte das kulturelle Leben der Stadt oft mit Theateraufführungen
und Feiern, so die Aufführung des Fastnachtstückes “Narren und Schelme”
von Paul Kessler im Stadt-Theater am 13. und die Goethe-Gedächtnisfeier am 19.
März 1932. 4.
Zur weiteren Verwertung der Materialien 4.1
Folgen für Projektarbeit und Landeskundeunterricht
Im Rahmen des Kurses zur Vorbereitung der Schüler der 10. Klasse des V.
Fremdsprachengymnasiums Varna auf das Deutsche Sprachdiplom II der KMK ergaben
die Archivmaterialien einen dankbaren “Steinbruch” für ein Projekt zum
Thema “Region und Tradition”. Dabei erarbeiteten die Schüler eine
Ausstellung mit Bildmaterial, die durch eine zweistündige Schülerkonferenz
kommentiert wurde. Im Rahmen der Projektarbeit lernten die Schüler das
Staatliche Archiv Varna kennen und fertigten Tonbandinterviews von Zeitzeugen
(Absolventen der Deutschen Schule) an. Mit der ausschließlichen Verwendung
authentischer Archivmaterialien und entsprechender Nachschlagewerke zu
Begriffen und der Bewertung der Zeitgeschichte aus deutscher und bulgarischer
Sicht erfüllte das Projekt auch die dem Gymnasium obliegende wissenschaftspropädeutische
Funktion.
Während der Arbeit am Projekt stellte sich heraus, dass das historische
Bewusstsein der Lerner in Bezug auf die eigene Stadt große Lücken aufwies, was
nach Selbstaussagen der Schüler u. a. dadurch zu erklären ist, dass in vielen
Fällen erst deren Eltern aus anderen Gebieten nach Varna gesiedelt sind.
Ausgehend von der Geschichte der Verbindungen des eigenen Kulturraums zur Zielsprachenkultur
ergab sich aus dem Projekt heraus eine Reihe von Fragen zu historischen, kulturellen
und wirtschaftlichen Aspekten, die die weitere Landeskundevermittlung im
DaF-Unterricht wesentlich näher am Schüler ermöglichen werden.
Die Einbeziehung dieses Themas in eine Seminarreihe für das kommende
Semester in der Germanistikausbildung an der Universität Schumen wird gegenwärtig
diskutiert. 4.2
Ausblick
Gemeinsam mit dem Leiter des Staatlichen Archivs und dem
Bulgarisch-Deutschen Kulturverein in Varna wurde ein Projektentwurf erarbeitet,
der die Ausweitung dieses Themas zu einer bulgarisch-deutschen Publikationsreihe
vorsieht, die sich mit der Region Varna und ihren Verbindungen zum
deutschsprachigen Ausland (voraussichtlich bis zum Ende der sozialistischen Ära)
beschäftigen wird. Nach der Wiedereröffnung des Archivs des Auswärtigen Amtes
in Berlin erhoffen wir uns das Auffinden weiterer aussagekräftiger Dokumente zu
den Konsulatsgeschäften und den kulturellen Kontakten.
Literatur/Quellen 1. Varna Варна: Алманахъ - Адресникъ 1935-36. Бербатевъ, Тоню (ред.): Стопанска Варна. Варна 1942. Градъ Варна. В: Морски преглед. Брой 67. стр. 9 Иванова/Флорев: Израстват кораби и хора. Варна: 1983. Warna - Bulgarien. Sofia: Staatsdruckerei, 1929. (Reiseführer in deutscher Sprache) 2. Deutsch-Bulgarische Beziehungen България в австро-унгарските дипломатически документи 1879-1885. София: Университетско издателство "Св. Климент Охридски", 1993. С 170251 Йонов, Михаил П.: Немски и австрийски пътеписи за Балканите XVII - средата на XVIII в. София: Изд. Наука и изкуство, 1986. С 129382 Косев, Димитр: Външната политика на България при управлението на Андрей Ляпчев 1926-1931. София: Академично издателство "Прф. Марин Дринов", 1995. С 176942 Кюлюмова-Бояджиева, Е.: Германската културна политика в България. София: Университетско издателствор 1991. С 160197 Марков, Г.: Българо-германските дипломатически отношения 1919-1914. В: Българо-германски отношения и връзки. т. III. изд. на БАН, С.: 1981. Паскалева, В. и. др.: Немски извори за българската история. София: Изд. на БАН, 1973. Д 4130 I Пенчиков, Косьо: Германия и югоизточна Европа 1919-1933. София: Университетско издателство "Св. Климент Охридски", 1993. С 172018 Стоянова, Кр. и др.: Българо-германски отношения. Традиции, приоритети. Перспективи. София: Институт за международни изследвания, 1995. С 182296 Тодорова, З./Стателова, Е.: Към началната история на Германско-българско дружество (1916-1918) В: Българо-германски отношения и връзки. т. II. изд. на БАН, С.: 1978. Юбилеен алманах Царство България. Leipzig und Sofia, 1928. 3. Das Ausland sieht Bulgarien/Varna Hartmann, Moritz (zu ...): Немският поет Мориц Хартман за Варна. Варненски общински вестник, № 5/6, 15. април 1938, стр. 4 Reisewitz, J. A. von: Belgrad-Berlin, Berlin-Belgrad, 1866-1871. München und Berlin: 1936. Siegert, Heinz: Bulgarien heute: “rotes” Land am Schwarzen Meer. Düsseldorf/Wien: Econ, 1964
4. Archivmaterialien Koralowag AG: Katalog 10K. Staatliches Archiv, Varna. № 102, 10K, 1, 72-I Staatliche Werft: Katalog 11K. Staatliches Archiv, Varna. Gemeinde Varna. Kurortverwaltung. Katalog ... Staatliches Archiv, Varna. Sitzungsprotokoll einer Aussprache zwischen Stadtgemeinde Varna, bulgarischem Eisenbahnministerium und der Donau-Dampfschiff Gesellschaft, ohne Angabe des Jahres, wahrsch. 1935. Stahlschmidt, Ernst: Chronik der Deutschen Schule Varna. Manuskript, 1941.
5. Aussagen von Varnaer Bürgern - zum Konsulat: Herr Drjankovski (Direktor des Staatl. Archivs) - zur Deutschen Schule: Herr Dentschev, Frau Sofka Nikolova (Absolventen der Schule) [1] Veröffentlicht in: Dimitrova, Burneva, Ivanova: Germanistentreffen. Konferenzband des Kongresses der Germanisten Südosteuropas, Juni 2000. Universität Veliko Tarnovo: Universitätsverlag „Hll. Kyrill und Method“, 2002. S. 293 - 302 [2] nach mündl. Information des Archivleiters in Varna; die in deutschen politischen Archiven befindlichen Dokumente konnten bisher nicht gesichtet werden. [3] Warna - Bulgarien. Sofia: Staatsdruckerei, 1929. (Reiseführer in deutscher Sprache) [4] entspricht dem heutigen Botschafter [5] d.i. die staatliche bulgarische Werft in Varna, die zur gleichen Zeit ebenso im Auftrag der deutschen Kriegsmarine tätig war. [6] was insofern verwunderlich ist, als an der seit 1926 in Varna existierenden deutschen Schule mehrere Lehrer aus Deutschland arbeiteten, die als Korrktoren hätten befragt werden können. |