E U R O P A: Schafft zwei, drei, viele Staaten...

Schotten, Basken, Okzitanier... Europas Sezessionisten
arbeiten an der EU der einundsechzig. Eine Vision.

von Reiner Luyken (ZEIT), ergänzt von J. Stauf (EMA Bonn)

mit Anmerkungen und Links von Nikolas Dikigoros

Das Vereinigte Königreich ist tot. 90 Jahre nach der irischen Sezession triumphiert die Scottish National Party (SNP) bei Wahlen zum Edinburgher Regionalparlament. Die neue Landesverwaltung organisiert ein Unabhängigkeitsreferendum. Das Volk stimmt mit Zweidrittelmehrheit für ein souveränes Vaterland. Wales folgt wenig später dem schottischen Beispiel. Die Queen ist nur noch das Oberhaupt eines geschwächten und verunsicherten England.

Eine weit hergeholte Fantasie? Geschichte kann so oder so weitergehen. Den hoch angesehenen Historiker Norman Davies beschleicht jedenfalls eine Vorahnung vom Ableben Großbritanniens. Niemand wisse, schreibt er, wie groß der Schaden an dem bestehenden Konstrukt bereits sei. Der Inselstaat sei weder ein zweites Jugoslawien noch eine Sowjetunion. Doch eine "unbemerkt anschwellende Lawine kann jederzeit abgehen. Niemand sieht voraus, welch geringfügiger Vorfall sie auslösen wird." Auch bei einem Überblick über die Geschichte des Kontinents bestach Davies die Kurzlebigkeit europäischer Staaten und Imperien. "Sie sterben ab, aber immer findet sich etwas, das ihren Platz einnimmt." 
Denken wir das Szenario also weiter. Der Separatismus greift auf den Kontinent über. In Frankreich setzt die Union Démocratique Bretonne nach Massenstreiks eine Anerkennung der historischen Grenzen der Bretagne durch.

Der Partit Occitàn erreicht die Autonomie eines Gebiets, das 12 bislang unter italienischer Herrschaft stehende Alpentäler, 32 französische Departements und das bisher spanische Arantal einschließt. Früher französische Städte heißen jetzt Bordéu, Clarmont, Montpelhièr und Marsilha. 

Korsika und Sardinien etablieren sich als unabhängige Inselstaaten. 

Italien zerbröckelt in autonome Provinzen und souveräne Stadtstaaten. Südtirol erklärt seine Unabhängigkeit. Im Nordwesten Spaniens gewinnt der Bloque Nacionalista Galego die ersten Wahlen im unabhängigen Galicien. 

Im Nordosten führt die Esquerry Republicana de Catalunya die Regierungsgeschäfte einer neu ausgerufenen Republik Katalonien. Die Basken verhandeln mit Madrid und Paris über ein eigenes Vaterland. Belgien splittert in Wallonien und Flandern auf. Hollands friesischer Norden macht sich unter der Fryske Nasjonale Partij selbstständig.

Hinter jedem dieser Spaltprodukte einer fiktiven europäischen Desintegration steht eine bereits real existierende politische Partei, die der Europäischen Freien Allianz (EFA) angehört. Aktivisten der Allianz setzen Ländernamen wie Frankreich oder Italien gern in Anführungszeichen. Die EFA bildet im Europäischen Parlament in Fraktionsgemeinschaft mit den Grünen die viertgrößte Gruppierung. Die Neunationalisten verstehen sich nicht als reaktionäre Eiferer, die einer ethnischen Kleinstaaterei Vorschub leisten, sondern als progressive Verfechter für mehr Demokratie in einer "Union freier Völker auf der Grundlage von Subsidiarität und Solidarität". Sie wollen die EU, die "gegenwärtig ökonomische auf Kosten sozialer, kultureller und ökologischer Werte überbetont", neu ausrichten. "Dem Frieden und der Umwelt verpflichtet, auf nachhaltiges Wirtschaften setzend, weltoffen und multikulturell."

Neben der Partei der deutschsprachigen Belgier (PDB) sind die folgenden Parteien Mitglied der DPVE - EFA:

*) Mitgliedsparteien mit Beobachterstatus; PNV bis 2000 in der EVP

Die DPVE - EFA ist zur Zeit mit 10 Abgeordneten im Europäischen Parlament vertreten.

(Anmerkung: Die in ihrer Region regierenden Parteien CiU/CDC-Katalonien und SVP-Südtirol sind Mitglieder der EVP; Vlaams Blok, FPÖ und Lega Nord sind nicht akzeptabel.)

Am 9. November 2000 veröffentlichte die EFA eine programmatische Brüsseler Deklaration, in der die "staatenlosen Nationen" Europas die Prinzipien ihres "demokratischen Nationalismus" darlegen. Eine kuriose Mischung sozialistischer, ökologischer und zivilgesellschaftlicher Phraseologie. Da ist von der Rolle der EFA als "Vorhut" die Rede, von "universalistischen" und "kontextuellen" Charakteristika der Bewegung. Die EU müsse allen Nationen und autonomen Regionen, wie klein sie auch sind, eine gleichberechtigte Rolle zuerkennen.

Was eine Nation ist, ergibt sich nicht aus dem internationalen Recht, sondern aus dem Volkswillen. Jedes Volk müsse für sich entscheiden, erklärt Angus Robertson, Europasprecher der schottischen Nationalisten, ob es eine Nation sei. Im Annex der Deklaration sind die Mitgliedsparteien aufgeführt. Sollten alle von ihnen repräsentierten Provinzen und Kantone entscheiden, ihre sprachliche oder kulturelle Identität qualifiziere sie für staatliche Autonomie, addiert sich daraus nach Beitritt der Ostländer ein Europa der 46: der 15 alten sowie der 12 neuen Staaten, dazu kommen 19 Sezessionsrepubliken.

Autos ohne Schottland-Aufkleber fallen schon unangenehm auf 

Professor Georg Elwert von der Freien Universität Berlin thematisierte unlängst auf einer Tagung des European Center for Minority Issues die linguistische Heterogenität der Bundesrepublik. Nehmen wir an, die Sprache erwiese sich auch in Deutschland als ein Spaltkeil wie 1993 zwischen Tschechien und der Slowakei. Bayern und Schwaben beklagen sich über eine zunehmende Diskriminierung auf bundesbürokratischer Ebene und in akademischen Institutionen; ihre linguistischen Eigenheiten verbauten ihnen Karrierechancen und gesellschaftliche Anerkennung. Und ihre kulturelle Identität werde zusehends einer gesamtdeutschen Leitkultur geopfert. Über die Aushöhlung der Länderhoheit grummeln sie ja schon seit langem. Dann entstünde nach Addition der 16 Bundesländer - minus der alten Bundesrepublik - ein Europa der 61. Sind das die echten "Vereinigten Staaten von Europa" - eine den USA vergleichbare, harmonische Gemeinschaft gleichgesinnter Regionen?

Die schottische SNP führt den Annex der Brüsseler Deklaration an, sie ist die gegenwärtig erfolgreichste europäische Nationalistenpartei. Mit knapp unter 30% Wählerstimmen liegt sie in Schottland nicht weit hinter New Labour. Der Trend geht nach oben. {Anm. Dikigoros: Das ist stark untertrieben: Inzwischen hat die SNP deutlich mehr als 50% der Wählerstimmen hinter sich, und New Labour ist so gut wie tot!} Eine junge, ungeduldige Elite steht an ihrer Spitze. Der Parteiführer John Swinney, ein Mann mit einschmeichelnder Stimme und glatt gebügeltem Haar, ist ein gewiefter Taktierer und gewandter Ränkeschmied. Er schmiedet auch schön klingende Sätze wie "Ein selbstbewusstes, demokratisches Schottland in Europa ist die beste Perspektive für die Menschen in unserem Land", und: "Wir müssen eine normale Nation werden, um in gleichberechtigter Partnerschaft mit unseren direkten Nachbarn und der restlichen Welt zusammenzuarbeiten."

Die SNP bestimmt seit über einem Jahrzehnt die öffentliche Diskussion im britischen Norden. New Labour und selbst die Liberalen passen sich der nationalistischen Meinungsführerschaft an. Ein Infragestellen schottischer Identität ist Häresie. Ein Auto ohne Schottlandaufkleber fällt schon fast unangenehm auf. Die englische Hochsprache ist beim BBC Scotland so gut wie ausgemerzt. Pakistanis in Glasgow organisieren sich als "schottische Asiaten für die Unabhängigkeit", andere nicht im Land geborene und aufgewachsene Menschen passen sich als "Neuschotten für die Unabhängigkeit" der patriotischen Begeisterung an. Historisch betrachtet, ist die schottische Nation ein Mythos. Doch der Mythos hat sich in den Köpfen zur Realität ausgewachsen. Die künstliche Wirklichkeit wurde durch unablässige Propaganda und Hollywoodfilme wie Braveheart immer weiter befeuert, bis fast jeder sie für bare Münze nahm. Jetzt kann SNP-Sprecher Robertson schon fast zu Recht behaupten, Schottland sei eine Nation, "weil wir daran glauben".

Nationalismus ist verführerisch. Faschismus und Gewalt drohen 

An der Parteibasis geht es rabaukenhart zu. Da holtern und poltern antienglische Ressentiments, dass es eine Art hat. Aber nicht nur dort. Engländer werden im schottischen Alltag beinahe automatisch als English bastards apostrophiert. Wer sich mit der ethnischen Verunglimpfung nicht abfindet, handelt sich blankes Unverständnis ein. Tony Blair versuchte, den nationalen Aspirationen mit einem teilautonomen Parlament in Edinburgh die Spitze zu nehmen. Doch das neue Parlament scheint die nationalistische Eigendynamik eher zu beschleunigen. Provinzschlawiner, Parteiläufer und Karrieristen diskreditieren die von New Labour geführte Regierung.

Im Sommer 2000 brach das schulische Prüfungssystem spektakulär zusammen. Blair deckte den verantwortlichen Minister. Im Oktober brach das ohnehin skandalöse öffentliche erkehrssystem zusammen. Diesel und Benzin kosten in entlegenen Regionen jetzt umgerechnet drei Mark pro Liter - trotz des Nordseeöls vor der Tür. "Schon gibt es ein wachsendes Bewusstsein", jubilieren die Nationalisten, "dass unser Parlament in Schlüsselgebieten Westminster völlig untergeordnet ist. Wir brauchen ein unabhängiges Parlament, um das wahre Potenzial unseres Landes zu entfalten."

Die Vorbilder sind Norwegen und Irland. Norwegen erlangte seine Unabhängigkeit 1905 und ist heute dank des Öls nicht nur einer der reichsten Staaten der Welt, sondern genießt politisch höchste internationale Anerkennung. Bei der Trennung von Schweden ging es von Anfang bis Ende friedlich zu. Entgleisungen beschränkten sich auf den Kulturkampf während der nationalen Aufrüstung, vor allem die vorübergehende Verketzerung des großen Malers und Kosmopoliten Edvard Munch.

In Irland folgte der Unabhängigkeit 1921 ein grausamer Bürgerkrieg. Die Attraktion des daraus hervorgegangenen Staates liegt in seinem phänomenalen Aufstieg vom Armenhaus Europas zur modernen Boom-Republik am Ende des 20. Jahrhunderts. {Bis "Biffo" es wieder zum Armenhaus machte, Anm. Dikigoros} Dass Irland sich nach der Unabhängigkeit wirtschaftlich selbst zugrunde richtete, hört heute niemand gern. Als Deutscher findet man sich dort oft in der Situation, mit offenen Armen als Bundesgenosse begrüßt zu werden - aus Dank für Hitlers Bombardierung englischer Städte. Und als Verbündeter gegen moderne englische "Intransigenz". Nach wie vor werden die Engländer völlig fraglos für alle Missstände verantwortlich gemacht.

Unter der Oberfläche schlummernde faschistische Sentiments und Gewaltbereitschaft bereiten den in der Efa zusammengeschlossenen Neunationalisten viel Kopfzerbrechen. Mit solchen Strömungen wollen sie nichts zu tun haben. Doch der Nationalismus ist eine verführerische Religion. Wenn Menschen erst einmal für den Kult um Identität und Vaterland aufgestachelt sind, tun sie anderen Menschen oft schreckliche Dinge an. Sie zünden Häuser an, sie erschießen ihre Nachbarn, sie werfen Bomben. Und Gewalt bringt Erfolg, die IRA in Nordirland inspiriert Terrorgruppen im Baskenland, in Galicien und der Bretagne. Sinn Féin, der politische Flügel der IRA, hält heute zwei Schlüsselministerien - Gesundheit und Erziehung - in der teilautonomen Provinzverwaltung Nordirlands. Hillary Clinton bewies den Parteiführern Gerry Adams und Martin McGuinness ihre Anerkennung mit öffentlichen Küsschen. Der Erfolg der IRA ermutigt die baskische Eta und Terrorgruppen in der Bretagne.

Bomben bringen Erfolg. Sinn Féin hält zwei Ministerien 

In den Erklärungen der Sinn Féin steht nicht viel anderes als in der Brüssler Deklaration. Alle Nationalisten gebärden sich als Verfechter kultureller und sprachlicher Vielfalt. Der dezidiert rechtslastige Vlaams Blok - die nach der SNP stärkste Nationalistenpartei Europas gewann im Oktober 2000 bei Wahlen zum Stadtrat von Belgiens zweitgrößter Stadt Antwerpen 20 von 55 Sitzen - erklärt, ein unabhängiges Flandern werde "selbstverständlich Mitglied der Europäischen Union" sein. Die italienische Lega Nord will "ein Europa der 100 Flaggen bauen".

Matteo Incerti, "außenpolitischer Sprecher" der linksliberal autonomistischen Libertà Emiliana in Bologna, redet und schreibt nur in Großbuchstaben und Ausrufezeichen von diesen "rassistischen und populistischen" Bewegungen: "DIE LEGA NORD IST ROMS BESTER FREUND, DIE ETA SPIELT DIESELBE ROLLE FÜR MADRID! SIE DISKREDITIEREN UNSERE ZIELE!" Und schickt in doppelter Ausführung eine E-Mail hinterher: "GANZ WICHTIG: Alle in der EFA zusammengeschlossenen Parteien haben sich seit 1998 von der Lega Nord distanziert!" Die Lega kämpft für ein den gesamten Norden Italiens einschließendes unabhängiges "Padanien". Das fiktive Land beschlagnahmt ein halbes Dutzend nach eigener Autonomie strebende Kleinstaaten. Das Aostatal, Trentin, Veneto mit der Hauptstadt Venedig, Piemont, Friaul, die Emilia-Romagna.

Die Ansprüche und Grenzen überschneiden sich. Wird das Europa der 61 zum Horrorszenario?

Ein unabhängiges Südtirol optiert für den Anschluss an Österreich (oder eher an Bayern?). Natürlich "unter dem Dach Europas". Die deutschsprachigen Belgier klagen ihre Rechte ein, nachdem Flamen und Wallonen ihre eigenen Wege gehen.

Die elsässische Volksunion will nicht hintanstehen. Der baskische Anspruch auf einen Teil Okzitaniens führt zu Gefechten zwischen der Eta und dem Corrente Revolucionaria Occitania (Croc).

Und in Nordirland bricht ein neuer Bürgerkrieg aus. Die Provinz hat jede Bindung verloren. Die mehrheitlich schottisch-stämmigen Protestanten widersetzen sich einem Anschluss an die irische Republik. Die katholischen Iren wollen sich mit dem Status einer autonomen Provinz nicht zufrieden geben. Das geschwächte England ist nicht mehr bereit, den Friedenswächter zu spielen. Die Spannungen springen auf Schottland über. In Glasgow kommt es nach einer Niederlage der protestantischen Rangers gegen den irisch-katholischen FC Celtic zu schweren Straßenschlachten. Einheiten der Scottish Defence Forces (SDF) laufen in Richtung Belfast aus. Die irische Republik zieht an ihrer Nordgrenze Truppen zusammen. Wer wird zuerst intervenieren?


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